Focus - 21.09.2019

(Joyce) #1
ÖSTERREICH

FOCUS 39/2019 25

S

ebastian Kurz scheint für
einen Moment verblüfft.
Gerade habe ich ihm ge-
sagt, man fühle sich hier
eher wie auf Klassenfahrt
als wie auf einer Wahl-
kampftour. „Ich bin ein Ru-
delmensch“, erwidert er.
„Ich funktioniere ausschließlich in der
Zusammenarbeit mit Menschen, die ich
mag.“ Dann erklärt der ehemalige und
ziemlich sicher künftige Bundeskanz-
ler die Klassenfahrtatmosphäre: Mit den
meisten derer, die mit ihm im Wahlkampf-
bus fahren, macht er schon seit neun Jah-
ren Politik. „Wir mögen uns und arbeiten
gern zusammen.“
Auch nach der ersten Bierzeltrede
des Tages, ein paar Hundert geschüt-
telten Händen und ebenso vielen Selfies
wirkt Sebastian Kurz, 33, geruchlos und
wie frisch gebügelt. Sein bergseeblauer
Anzug schlackert ein wenig. Das Lächeln
sitzt so fest wie die Frisur, die übrigens
auch Wahlkampfthema ist, aber dazu
später.

desgeschäftsführer der Österreichischen
Volkspartei, verteilt chinesisches Soulfood
in Pappschalen an die Mitreisenden. Er ist
mit seinen 37 Jahren einer der Ältesten
im Team. Vier Jahre älter als sein Chef,
dem er nun auch schon seit neun Jahren
beisteht.
Man kann jetzt also das Rudel im Wahl-
kampfmodus beobachten. Politische Ver-
haltensforschung. Wird man Sebastian
Kurz enträtseln? Wie führt er seine Leu-
te? Wie hält er seine Partei zusammen?
Was macht den 33-Jährigen auch nach
dem Zerbrechen seiner Regierung zum
Favoriten der österreichischen Wähler?
Zum Messias der deutschen Konserva-
tiven, die in seiner Mitte-rechts-Politik
ein Vorbild für die Union sehen? Zum
„heiligen Sebastian“ („Der Standard“)?
Zum „Sonnenkanzler“ („Spiegel“)? Zum
„Staatsmann der neuen Art“ („New York
Times“)?
Als Rudel bezeichnet die Verhaltens-
biologie eine geschlossene und indivi-
dualisierte Gruppe – geschlossen, weil
die Mitglieder eines Rudels nicht belie-
big austauschbar sind. Individualisiert,
weil sie sich voneinander unterscheiden
und untereinander erkennen. Innerhalb
eines Rudels herrschen Rangordnung und
Arbeitsteilung.
Die Karriere des Sebastian Kurz ist Ru-
del-Work und Generationsprojekt. Es ist
die Geschichte vom Aufstieg einer Grup-
pe junger, selbstbewusster Konservativer,
die sich vor ziemlich genau neun Jah-
ren im dritten Stock eines Neorenais-
sance-Gebäudes in der Wiener Lichten-
felsgasse zusammengetan haben, um
ihre Partei und ihr Land zu verändern.
Man ist gegen Abtreibung, verachtet die
rot-grüne Stadtregierung und findet die
damalige ÖVP-Führung zu weich und zu
schwach. An den Bürowänden hängen
Poster knapp bekleideter Mädchen, die
man heute unangenehm finden würde.
Am Wochenende feiern sie im „U4“, der
legendären Wiener Disco, in der einst
Falco Stammgast war. Privates und Poli-
tisches verschwimmen.
Sebastian Kurz wird 2009 als 22-Jähri-
ger Chef der Jungen ÖVP. Mit 24 Gemein-
derat in Wien. Mit 24 Staatssekretär für
Integration. Mit 27 Außenminister. Mit 31
Bundeskanzler.
Zu der Gruppe, die ihn seit Jahren um-
gibt, zählen neben Axel Melchior, dem
zurückhaltenden, öffentlichkeitsscheuen
Organisationgenie, auch der eloquente
Werber Philipp Maderthaner, 38, der

Ein rollendes Großraumbüro. Der 12-
Tonner von Setra fährt auf der regen-
nassen Pyhrn-Autobahn Richtung Graz.
Zur nächsten Kundgebung. Draußen
verwandelt sich die sanfte oberöster-
reichische Hügellandschaft ins schroffe,
wolkendunkle Liesingtal. Aus Tirol wird
Schneefall gemeldet. 20 Zentimeter am
Brenner. Nach unerträglich heißen Som-
merwochen ist vorgezogener Blitzwinter
in Österreich.
Dreitagebärtige Jungs in weißen Slim-
fit-Hemden wuseln um den Kandidaten.
Die Girls vom Social-Media-Team produ-
zieren live für Facebook (ca. 810 300 Follo-
wer) und Instagram (ca. 113 000 Abonnen-
ten). Eine Nespresso-Maschine brummt
im Dauerbetrieb. Axel Melchior, der Bun-

Der Chef
Sebastian Kurz bezeichnet
sich als „Rudelmensch“.
Er mag das Klassenfahrt-
Feeling im Wahlkampfbus

3 4


5
Free download pdf