Focus - 21.09.2019

(Joyce) #1
Fotos:

dpa, imago imagees, Paul Pibernig für FOCUS-Magazin

AGENDA


26 FOCUS 39/2019


die schwarze ÖVP türkis ge-
färbt hat, und der geheimnis-
umwitterte Stefan Steiner, 41,
der den migrationskritischen
Kurs entwickelt haben soll
(siehe Kasten unten).
„Vor großen Entscheidun-
gen neige ich dazu, alles sehr
lang zu hinterfragen und zu
diskutieren. So haben wir
schon oft nächtelang Proble-
me und schwierige Entschei-
dungen gewälzt, bis wir uns
dann gemeinsam entschie-
den haben. Das geht nur mit
Menschen, die man schätzt
und die einem nahe sind“,
beschreibt Kurz im Wahlkampfbus sei-
nen Führungsstil, der ein Lebensstil ist:
fast nie alleine sein.
Erst vier Monate sind vergangen, seit
der Ibiza-Skandal featuring HC „Zack-
zackzack“ Strache und Johann „Joschi“
Gudenus die Koalition der ÖVP mit der
FPÖ zerschmetterte. Der FPÖ-Chef und
sein Buddy hatten sich in Red-Bull-Wod-
ka-Hybris bereit gezeigt, Österreich an
eine Fake-Oligarchin mit ungepflegten
Fußnägeln zu verscherbeln.
Im Grazer Raiffeisen Sportpark haben
mehr als 2000 Anhänger schon zwei Stun-
den gewartet, als der Kandidat endlich
unter zünftigen Musikklängen einzieht,
Blitzlichtgewitter, Bad in der Menge usw.
Kurz hält nach den obligatorischen Be-


grüßungen seine Wahlkampf-
Standardrede. Ja, die Koalition
mit der FPÖ war gut, aber Ibiza
hat es uns verdorben. Wir müs-
sen was für den Klimaschutz
tun und für Sicherheit und
unser Brauchtum bewahren
und die Steuerreform fortfüh-
ren, und eine Pflegeversiche-
rung muss her. Das alles sagt
er wie automatisch. Wo ist die
Energie und die Authentizität
aus dem Bus? Hingestellt zwi-
schen der österreichischen und
der europäischen Fahne, wirkt
Kurz wie sein eigener Stunt.
Irgendwie verloren, alleine da
oben. Erst nach dem Auftritt, als sein Team
das große Meet & Greet organisiert und
der halbe Saal für Selfies ansteht, kommt
wieder Leben in den Kandidaten. Sein
Charisma braucht Nähe.
In den jüngsten Umfragen liegt die
ÖVP komfortabel auf Platz eins. ÖVP
35 %, SPÖ 22 %, FPÖ 20 %, Grüne 11 %,
Neos 9 %.
Die Kurz’sche Aura von Höflichkeit und
Zugewandtheit scheint ihn gegen sämt-
liche Skandale und Enthüllungen dieses
Wahlkampfs zu immunisieren.
Erst war da die peinliche Schredder-
affäre um jenen Kurz-Mitarbeiter, der
unter falscher Identität geheime Drucker-
daten aus dem Bundeskanzleramt vernich-
ten ließ. Dann die Aufregung um Spen-

den der Kaufhausmilliardärin Heidi
Horten, die ihre Zuwendung kreativ in
neun 49 000-Euro-Tranchen stückelte und
es so der ÖVP ermöglichte, die gesetzli-
che Veröffentlichungspflicht zu umgehen.
Und nun die sogenannten ÖVP-Files, ein
gigantisches, mutmaßlich infolge eines
Hackerangriffs erbeutetes Datenkonvolut
von 1300 Gigabyte. Das Magazin „Fal-
ter“ druckt genüsslich Details aus der
ÖVP-Buchhaltung: hohe Partykosten, Fri-
seurrechnungen (z. B. „Hair-Grooming“
für 300 Euro), Beraterhonorare (z. B. 33 000
Euro monatlich für Rudelfreund Stefan
Steiner). Und dann lässt sich der Kurz in
heftiger Abneigung verbundene, gestürzte
Ex-ÖVP-Obmann Reinhold Mitterlehner
auch noch für ein Wahlwerbevideo der
Sozialdemokraten einspannen.
Auch wenn es bei der ÖVP reinregnet,
wird Kurz nicht nass.

Welche Koalition kommt?
Rechnerisch sind drei Koalitionen mög-
lich. Alle unter Kanzler Kurz.
Erstens: ÖVP + SPÖ, die klassische
große Koalition, die Österreich Jahrzehnte
regiert hat und in weiten Teilen der Bevöl-
kerung mit Filz und Stillstand assoziiert
wird. Problem: Die SPÖ ist gespalten in
einen urbanen Feel-good-Flügel um die
Parteichefin Pamela Rendi-Wagner und
die Law-and-Order-Sozialisten, ange-
führt vom burgenländischen Landes-
hauptmann Hans Peter Doskozil, der in

Das smarte Rudel. Fünf Vertraute hinter Sebastian Kurz


Philipp Maderthaner, 38
Der Kanzlermacher
Schon mit 22 Pressespre-
cher bei der ÖVP, gründete
mit 31 die Agentur
Campaigning Bureau,
entwickelte für Kurz das
Rebranding der ÖVP,
änderte die Parteifarbe
von Schwarz in Türkis

Axel Melchior, 37
Der Organisator
Steigt seit neun Jahren
an der Seite von Kurz mit
auf. Managt die Partei.
Medienscheuer Netz-
werker. Meister der
Personalführung und
im Harmonisieren
interner Konflikte

Kristina Rausch, 27
Die türkise Influencerin
lernte Kurz nach der Ma-
tura kennen, baute für ihn
eine Social-Media-Ab-
teilung nach dem Vorbild
Obamas auf. Mit mehr als
800 000 Followern die
erfolgreichste politische
Facebook-Seite des Landes

Stefan Steiner, 41
Mastermind im Hintergrund
Wuchs in Istanbul auf,
spricht fließend Türkisch.
Entwickelte die harte Linie
in Migrationsfragen. Hat
sich aber vehement für den
Bruch mit der FPÖ nach
Bekanntwerden des Ibiza-
Videos ausgesprochen

Peter L. Eppinger, 44
Sprecher der Bewegung
Old Schnatterhand.
Der frühere Ö3-Radiostar
redet wie andere atmen,
also immer. Unkaputtbar
optimistisch. Macht in
Talkshows und unzähligen
Facebook-Beiträgen
Stimmung für Türkis

„Es kann


doch nicht


sein, dass


unsere


Kinder


nach Wean


fahren und


als Grüne


zurück-


kommen“

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