Focus - 21.09.2019

(Joyce) #1

AGENDA


28 FOCUS 39/2019


Ibiza-Video: Drahtzieher war Polizeispit-
zel. Wahlkampf, denkt er, ist die Zeit, in
der die Worte billiger werden.
Dann knallt August Wöginger, vulgo
„der Gust“, auf die Bühne, und jetzt
sind alle hellwach. Wöginger, leicht
untersetzt, Brille mit hoher Dioptrien-
zahl, die ihm einen ebenso entrückten
wie undurchschaubaren Ausdruck ver-
leiht, ist der Missing Link zwischen Tür-
kis und Schwarz, zwischen der cheforien-
tierten Kurz-Bewegung und der alten,
regional geprägten ÖVP. Kurz hat den
Lokalmatador aus dem Innviertel zum
Klubobmann der ÖVP-Parlamentsfrak-
tion in Wien gemacht. Eine Naturgewalt
im Trachtenjanker. In tiefem Innviertler
Dialekt, wias dahoim holt so redn, führt
Wöginger nach den üblichen Begrü-
ßungen und Wir-sind-die-Guten-Flos-
keln nun Folgendes, dem Publikum aus
der globalisierungsverunsicherten See-
le Sprechendes aus: „Es kann ja nicht
sein“, sagt er, „dass wir unsere Kinder
nach Wean (= Wien, Anm. d. Red.) zum
Studieren schicken, und dann kommen
sie als Grüne zurück.“ Kleine Pause, nun
deutlich lauter: „Wer in unserem Hause
schlaft und isst, der hat auch die Volks-
partei zu wählen.“
Jeder Applaus ist anders. Es gibt den
höflichen Applaus, den zustimmenden,
den schäbigen und den schenkelklop-
fenden Applaus. Der Applaus, der nun
folgt, wirkt anders: wissend. Es klatschen
Hände, die sich noch an die grauslichen
Zeiten der „gesunden Watschn“ erinnern.
Wögingers Worte werden in den nächsten
Tagen von den Wiener Qualitätsmedien
als ewiggestrig verrissen, dabei hat der
Gust eine sehr heutige Diagnose gestellt:
Die Schwarzen und die Grünen sind bluts-
verwandt. Zumindest hier auf dem Land,
wo jeder fünfte Bauer biologisch anbaut
(Deutschland: zwölf Prozent) und 70 Pro-
zent des Stroms aus erneuerbaren Ener-
gien stammen (Deutschland: 37,8 Prozent)
und übrigens null Prozent aus Kohle.
Denn Österreich hat die Kohleförderung
schon im Jahr 2005 eingestellt.
Das Klima hat sich in Österreich seit
2017 verändert, es gibt weniger Flücht-
linge und mehr Wetter. In den Umfragen
liegt das Experiment Türkis-Grün-Pink
mittlerweile vor der Wiederauflage eines
ÖVP-FPÖ-Bündnisses.
Fest steht: Sebastian Kurz gewinnt die
Wahl am 29. September. Aber die Koali-
tionsverhandlungen werden keine Klas-
senfahrt. n


Am 29. September wählt Österreich.
Sie liegen in den Umfragen mit 35 Pro-
zent vorn. Was kann Ihre künftige
Kanzlerschaft noch gefährden?
Es stimmt, die Umfragen sind gut,
die Stimmung in der Bevölkerung ist
sehr positiv. Aber am Ende geht’s nicht
um Stimmungen oder Umfragen, son-
dern um Stimmen bei der Wahl. Erster
werden ist bei dieser Wahl zu wenig.
Wenn es eine Mehrheit gegen uns gibt,
dann wird diese auch genutzt werden.
In Deutschland ist kaum bekannt, dass
die Sozialdemokratie und die FPÖ sehr
wohl zusammenarbeiten – sie regieren
etwa im Burgenland gemeinsam und
haben jetzt im Parlament gemeinsame
Sache gemacht. Sobald es eine mög-
liche Koalition gegen uns gibt, wird
die genutzt werden. Das wollen wir
natürlich verhindern.
Europas Volksparteien – die kon-
servativen wie die sozialdemo-
kratischen – leiden fast alle
an Selbstzweifeln und Schwind-
sucht. Ihr Rezept dagegen?
Wir haben zwei Dinge anders ge-
macht. Zum einen haben wir immer klar
ausgesprochen, was wir denken, und
sind für das eingetreten, was wir für
richtig erachtet haben. Zum anderen
haben wir die ÖVP zu einer Bewegung
geöffnet, haben sehr viele Menschen
aus der Zivilgesellschaft, aus der Wirt-
schaft, von Universitäten eingeladen,
bei uns mitzumachen. Ich habe in mein
Regierungsteam vor allem Personen
von außen geholt. Der Vizerektor der
Universität Wien wurde Bildungsminis-
ter, der Chef der größten österreichi-
schen Versicherung wurde Finanzmi-
nister, eine Top-Managerin im größten
Digitalunternehmen wurde Digitalisie-
rungsministerin. Das war ein sehr fri-
scher, neuer Zugang für die österreichi-
sche Politik und hat dazu geführt, dass
wir viel Know-how von außen in die

Sebastian Kurz über seine Wahlchancen, bürgerliche


Politik zwischen Grün und Rechtspopulismus und


warum man die AfD nicht mit der FPÖ vergleichen sollte


Wie rettet man eine


Volkspartei, Herr Kurz?


Politik gebracht haben und als Bewe-
gung sehr breit geworden sind.
Die Welt driftet auseinander. Die Mittel-
schicht franst aus. Aus Milieus werden
Blasen, die keine gemeinsame Sprache
mehr finden. Wie lässt sich unsere
Gesellschaft noch zusammenhalten?
Wir versuchen es, indem wir best-
mögliche Rahmenbedingungen für die
Menschen schaffen. Alles tun, damit sie
weiterhin in Sicherheit leben können.
Alles versuchen, damit die Menschen,
aber auch die Unternehmen in Öster-
reich ein Maximum an Freiheit haben,
um erfolgreich sein und sich entfalten
zu können. Das bedeutet, entschlos-
sen gegen Regulierung und Bürokratie
anzukämpfen und unseren Sozialstaat
so treffsicher zu machen, dass er auch
wirklich die Kraft hat, für all jene da
zu sein, die ihn brauchen, aber nicht
all jene anzulocken, die ihn vielleicht
nicht brauchen. Das bedeutet aber,
ebenso konsequent gegen illegale
Migration vorzugehen.
Was ist im Jahr 2019 bürgerlich?
Ich würde sagen, genau das: Sicher-
heit bieten, Freiheit gewährleisten,
soziale Verantwortung leben.
Plötzlich wollen ja alle bürgerlich
sein – von den Grünen bis zur AfD.
Wenn mehr und mehr Parteien alte
Konzepte von Sozialismus und Klas-
senkampf endlich ablegen und erken-
nen, dass die nicht die richtigen Ant-
worten auf die Fragen des 21. Jahrhun-
derts geben, und in die Mitte rücken
wollen bzw. bürgerliche Politik machen
wollten, dann wäre das ja gut. Ob das
nur eine Überschrift ist und ob sich
das auch mit den Inhalten deckt, das
muss man sich sehr genau anschauen.
Sie haben 17 Monate mit der FPÖ regiert.
War das eine „bürgerliche“ Koalition?
Es war zumindest keine linke Koali-
tion. Es war eine Mitte-rechts-Regie-
rung. Wir haben mit der FPÖ gut im
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