Focus - 21.09.2019

(Joyce) #1
WIRTSCHAFT GEWERKSCHAFT

Fotos: Monika Skolimowska/dpa, Bernd Settnik/dpa

54 FOCUS 39/2019

F


ür Frank Bsirske, 67,
haben die Messehal-
len von Leipzig eine
besondere Bedeu-
tung. Hier wurde der
Gewerkschafter im
Jahr 2000 in einer
Hauruckaktion zum Vorsitzen-
den der Gewerkschaft ÖTV
gewählt. Kurz danach wurde er
auch Chef der aus vier weiteren
Dienstleistungsgewerkschaften
gegründeten Ver.di.
Bsirske und Ver.di – das stand
fast zwei Jahrzehnte lang für
laute Debatten, Zuspitzung,
Tarifkämpfe mit Bund und Län-
dern und lange Streiks.
Jetzt tritt der „ungekrönte
Kaiser“, wie ihn der Gewerk-
schaftsexperte Wolfgang Schroe-
der (Uni Kassel) nennt, ab. Und
zwar dort, wo alles begann: in
Leipzig. Kommende Woche sol-
len die rund 1000 Delegierten
des Ver.di-Bundeskongresses
Frank Werneke, 52, zum neuen
Chef ihrer Gewerkschaft wäh-
len. Der Neue tritt ein schweres
Erbe an.
Unter Bsirske verlor Ver.di
fast ein Drittel ihrer Mitglieder.
Heute zählt die Gewerkschaft
mit zwei Millionen gut 800 000
Mitglieder weniger. Außerdem
herrscht Streit: Rund 1000 Beru-
fe vertritt die Gewerkschaft – vom Lehrer
bis zum Müllwerker. Zu viele, um allen
die gleiche Aufmerksamkeit zu schenken.
Gerade die Beschäftigten im Transport-
gewerbe und Drucker fühlten sich zuletzt
vernachlässigt.
Und dann ist da noch die AfD. Deren
Anhänger finden unter Ver.di-Mitglie-
dern immer mehr Sympathisanten. Von
einer Spaltung wird intern bereits ge-
warnt. Kann der Neue die verhindern?
Werneke ist das Gegenteil von Bsirs-
ke. Er hält keine Reden, bei denen sich
die Stimme überschlägt und die Leute
anschließend johlen. Denn er ist kein
Anführer, eher ein Manager. Als Ver.di-
Vize setzte er 17 Jahre lang
Frank Bsirskes Vorgaben
relativ geräuschlos um.
Funktionieren statt
provozieren, so
lautete bislang
Frank Wernekes
Devise.

Er stammt aus der Ortschaft Schloss
Holte-Stukenbrock in Ostwestfalen
(NRW). Nach der Realschule machte er
eine Lehre zum Verpackungsmittelme-
chaniker in Bielefeld. Er war zunächst in
der Gewerkschaftsjugend aktiv, ab 1993
arbeitete er als hauptamtlicher Sekre-
tär beim Hauptvorstand der IG Medien
in Stuttgart. 1998 stieg er dort in den
geschäftsführenden Hauptvorstand auf.
Seit dem Ver.di-Gründungskongress
2001 gehört Werneke dem Bundesvor-
stand an, seit 2002 ist er Vizechef der
Gewerkschaft, zuständig für Finanzen
und Mitgliederentwicklung – also aus-
gerechnet einen Bereich, in dem es gar
nicht gut läuft.
Gewerkschaftsexperten bezwei-
feln, dass Werneke der richtige
ist, um Ver.dis Probleme in
den Griff zu bekommen. Er
wird es schwer haben,
die streitenden Flü-
gel zu integrie-

ren, ist sich Wolfgang Schroeder
sicher. Der Tarifexperte des Ins-
tituts der deutschen Wirtschaft
Köln (IW), Hagen Lesch, sieht
das ähnlich: „Es wird nicht ein-
fach sein für Werneke, diese
Gewerkschaft für Mitglieder
attraktiv und kampagnenfähig
zu machen.“
Genau das macht den Ver.di-
Chef für die Arbeitgeber gefähr-
lich. Um sich zu profilieren, wird
Werneke zeigen wollen, wie
durchsetzungsfähig er ist. Das
geht am besten über hohe Lohn-
forderungen und ähnlich hohe
Tarifabschlüsse, die notfalls mit
Streiks erzwungen werden.

Es drohen harte Tarifrunden
Bsirske schaffte im Frühjahr den
nach eigenen Worten „besten
Abschluss seit vielen Jahren“:
insgesamt acht Prozent Lohnplus
für Beamte und Angestellte der
Länder bis 2021.
Bundesinnenminister Horst
Seehofer (CSU) sollte deshalb ge-
warnt sein. Er wird im nächsten
Jahr die Tarifrunde für die ins-
gesamt 2,3 Millionen Beamten
und Angestellten bei Bund und
Kommunen federführend mit
Werneke auskämpfen müssen.
Der designierte Ver.di-Chef gibt
sich selbstbewusst. „Der Kurs
für die kommenden Tarifrunden ist klar:
Wir wollen die Reallöhne weiter steigern,
weil sonst wirklich eine wirtschaftliche
Krise droht“, sagt Werneke. Er wird alles
daransetzen, ein mindestens genauso
gutes Ergebnis wie sein Vorgänger zu
erzielen. Daran werden ihn die Mitglieder
messen. Für Seehofer und seine Mitver-
handler bedeutet das: Es wird eine harte
Auseinandersetzung, Streiks inklusive.
Doch auch für Werneke wird es schwer.
Mit dem Absturz der SPD hat sich ein
klassischer Verbündeter im parlamenta-
rischen Betrieb marginalisiert. Auch die
Linke schwächelt. Der Neue wird daher
einen Spagat hinbekommen müssen.
Ver.di muss das Image der Kampftruppe
loswerden und eine Organisation der Mitte
werden. „Die Anerkennung in der Bevöl-
kerung spielt für die Zukunft der Gewerk-
schaften eine wichtige Rolle“, sagt Experte
Schroeder. Das gilt auch für Ver.di. n

HERBERT WEBER

Wachwechsel bei Ver.di: Frank Werneke


soll Frank Bsirske beerben. Wer ist der Mann,


der das Land per Streik lahmlegen kann?


Seehofers Stachel


Tarifkämpfer Horst Seehofer, 70, und Frank Bsirske, 67
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