Focus - 21.09.2019

(Joyce) #1

KULTUR


F o t o s :

instagram, Ai Weiwei, Muir Vidler für FOCUS-Magazin

82 FOCUS 39/2019


A


ls er vor einigen Wochen
bekannt gab, dass er
aus Berlin weggehe –
weil Deutschland, unter
anderem, keine offene
Gesellschaft sei –, nahm
die interessierte Öffent-
lichkeit dies einigerma-
ßen gelassen zur Kennt-
nis. „Heul doch, Ai Weiwei!“, lassen sich
die Rückmeldungen zusammenfassen.
So viel Selbstvertrauen muss sein, wenn
einer, der sich als Flüchtling beschreibt,
plötzlich des Gastrechts überdrüssig ist
und vieles schlecht findet im Land, das
es gut mit ihm meinte.
Sobald sich der aufgewirbelte Staub
gesetzt hatte, interessierte dann: Wo will
er hin? Denn am neuen Ort muss vieles
besser sein, das ist die unterschwellige
Botschaft des Umzugs. Für Cambridge,
die Universitätsstadt im Südosten Eng-
lands, hat er sich entschieden. Yes, rich-
tig gelesen: Ausgerechnet das Vereinigte
Königreich, der von Boris Johnson nicht
regierte Brexit-Chaos-Staat, ist in seinen
Augen besser als Deutschland. Das tut
dann doch irgendwie weh.
An einem Dienstagmorgen im Septem-
ber ist in Cambridge, eineinhalb Auto-
stunden nördlich von London, die Welt
in Ordnung, so sieht’s aus: alte Häuser,
junge Leute, große Kathedrale, ein Fluss
mit Namen Cam inklusive dazugehören-
der Brücke sowie Schwäne, die gemütlich
übers Wasser treiben. Im schicken Hotel
„University Arms“ kennt man den Zuzüg-
ler, Gast sei Ai aber nicht, und von einem
Interview mit ihm hier und heute habe
sie keine Kenntnis, sagt die Mitarbeiterin
am Empfang. Man sei „fully booked“,
„haben Sie einen schönen Tag“. So viel
zur hiesigen Willkommenskultur. Wir tref-
fen den Exilanten dann doch und finden
in der halb leeren Bibliothek, in der sich
angeblich eine geschlossene Gesellschaft
aufhält, einen Platz für unser Interview.
Er verbringe im Augenblick etwa die
Hälfte seiner Zeit in Cambridge, sagt Ai
Weiwei; sein unterirdisches Künstlerate-
lier in Prenzlauer Berg habe er noch, und
die Mehrheit der rund 20 Mitarbeiter
sei auch in Berlin geblieben. „Haupt-
grund für den Umzug ist mein Sohn, er
ist jetzt zehn Jahre alt“, sagt Ai auf Eng-
lisch. Der Junge geht hier zur Schule, der
Vater findet das britische Schulsystem
das beste und eine Kleinstadt den richti-
gen Lebensmittelpunkt für den Sohn. Die
Kindsmutter, Ais Freundin, wohnt eben-


falls in Cambridge; seine Ehefrau, mit der
er seit so ungefähr 15 Jahren nicht mehr
zusammenlebt, ist in China.
„Ich habe kein Zuhause“, sagt Ai. Da-
ran sei er selbst schuld. „Ich habe 30
Jahre Haft verdient in China, ich habe
sie in Kauf genommen, weil ich die Partei
provoziert habe.“ Aber seinem Sohn woll-
te er nicht zumuten, in einem Land auf-
zuwachsen, wo der Vater im Gefängnis
sitzt. Er weiß, wie sich das anfühlt: Sein
Vater, der Poet Ai Qing, der in Gedichten
streng über Mao, den großen Vorsitzen-
den, urteilte, wurde in ein Arbeitslager
gesteckt, als Ai Weiwei ein kleiner Jun-
ge war. Worauf er und sein Bruder mit
der Mutter jahrelang in einem Erdloch
in der Nähe des Gefängnisses und in
einer abgelegenen Gegend des großen
Reichs leben mussten. Das mögen zutref-
fende Gründe sein, doch ist’s die ganze
Erklärung? Bloß des Sohnes wegen hät-
te er, Schulsystem hin oder her, Berlin
nicht verlassen müssen. „Mag sein, doch
ich schwimme eben immer gegen den
Strom“, antwortet er. „Das ist es, was
mich ausmacht, das bin ich.“

Fühlte er sich nicht ausreichend
beachtet?
Im Januar vergangenen Jahres gestaltete
er eine FOCUS-Titelseite zum 25-jährigen
Jubiläum des Magazins. In seinem Ent-
wurf malte er die mittlere Tafel des Trip-
tychons von Hieronymus Bosch, „Garten
der Lüste“, neu. Da treffen sich Flüchtlin-
ge und hohe Politiker: Chinas Präsident
Xi Jinping, Wladimir Putin, Donald Trump
und Angela Merkel. Das war damals, und
heute ist’s anders – was genau hat sich
seither in seinen Augen in Deutschland
verändert? Die Kanzlerin sei unlängst von
ihrem zwölften Arbeitsbesuch in China
zurückgekehrt, sagt er. „Natürlich will
Deutschland von den Streitereien zwi-
schen Amerika und China profitieren,
möchte ein größeres Stück des Kuchens.“
Doch man könne Merkel deshalb kei-
nen Vorwurf machen, jedes Land handle
so. Und die Deutschen verhielten sich
immer noch besser als die Spitzenpoli-
tiker Großbritanniens oder Frankreichs.
Letztlich aber müsse auch die deutsche
Regierung zur Hauptsache finanzielle
Interessen vertreten: „Es geht um die
Zukunft des Landes. Und die hängt, was
die Wirtschaft betrifft, von China ab.“
Nichtsdestotrotz führe sich Deutschland
außenpolitisch einigermaßen vernünf-
tig auf, sei sogar anständig und halte

»
Ich schwimme immer
gegen den Strom.
Das ist es, was mich
ausmacht. Das bin ich

«


Kartenabreißer
Ai Weiweis jüngste Aktion im Münchner Haus
der Kunst. Er wurde hinauskomplimentiert

Titelgrafiker
Von Ai Weiwei gestaltetes Cover anlässlich
des 25-jährigen FOCUS-Jubiläums 2018
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