Focus - 21.09.2019

(Joyce) #1
KUNST

83

bestimmte Grundsätze hoch, urteilt er.
„Die deutsche Regierung hat sich für
mich eingesetzt, als ich in China fest-
gehalten wurde. Und als ich ausreisen
durfte, hat sie mich aufgenommen.“
Ais Ego, dies sei behauptet, ist nicht
eben klein. Der 62-Jährige ist unentwegt
am Senden – seine Twitter- und Insta gram-
Konten füllt er regelmäßig –, und er will,
dass seine Nachrichten gehört, seine Bot-
schaften empfangen werden. Das lässt
er stehen. Wogegen er sich verwahrt, ist
die Behauptung, dass er beleidigt nach
England gezogen sei, weil er in Deutsch-
land noch mehr Beachtung wollte. „Mich
braucht man nicht zu beachten, ich will
gar keine Aufmerksamkeit“, behauptet er.
Stattdessen soll sein Werk zur Kennt-
nis genommen werden. Die Sache, die
ihn am meisten umtreibe, sei die der
Flüchtlinge, und Migration hält er für
das Megathema unserer Zeit. Doch just
darüber wolle man in Deutschland nichts
von ihm hören. Daher rührt wohl die Ver-
letzung. „Du bist Künstler, mach Kunst!“,
habe man ihm gesagt. „Weshalb willst du,
ein Chinese, uns etwas über Syrer auf der
Flucht erzählen?“
Die Haltung findet er „dämlich“. Ihn
interessierten nun mal Dinge, von denen
er wenig wisse, mehr als das, was er
schon kenne. Im Grunde wehre er sich
nur: „Ich bin ein Boxer, ich werde stärker,
wenn man mich niederschlägt, ich stecke
ein, lerne daraus – und schlage zurück.“

Wogegen soll er im Exil kämpfen?
Tatsächlich? Oder geht die Verletzung tie-
fer? Sein Werk hat an Dringlichkeit verlo-
ren, seit er China verlassen hat. Im eige-
nen Land war er ein Rebell, er kämpfte
gegen Anmaßung und Allmacht der Partei
sowie Polizei und Armee in ihrem Gefolge.
Die Partei ist eine mächtige, aber geeig-
nete Gegnerin – als ihr Kritiker fällt man
auf, ist man wichtig.
Die Veröffentlichung auf seinem Blog
zum Beispiel von Namen der Kinder, die
zu Tausenden lebendig begraben wurden
unter einstürzenden Schulhaustrümmern
während des starken Erdbebens von 2008,
war ein harter, doch berechtigter Vorwurf
an die Partei – Pfusch am Bau wegen
geldgieriger, bestechlicher Beamter oder
solcher, die kuschten, um ihr Plansoll zu
erreichen, und koste es 5000 Kinderleben.
Gegen solche Machenschaften lässt sich
ankämpfen, falls man sich denn traut. Ai
traute sich und wurde in der Folge zuerst
verhaftet, danach verprügelt.

Moralwächter
Ai am neuen Wirkungs-
ort Cambridge.
In Deutschland fühlte
er sich zu wenig
wertgeschätzt

Free download pdf