Focus - 21.09.2019

(Joyce) #1

KULTUR KUNST


Foto: Ai Weiwei/Jens Ziehe/courtesy the artist, Lisson Gallery and neugerriemschneider

84 FOCUS 39/2019


Heute hingegen, mit Lebensmittel-
punkt Deutschland oder England, setzt
er sich für Flüchtlinge ein – zu seinen
jüngeren Arbeiten zählen Filme, die er in
Lagern irgendwo auf der Welt über Mig-
ranten gedreht hat, darunter „Human
Flow“ (2017). Bloß: Wer ist schon gegen
Flüchtlinge, gegen ihre Sache, ihre Rech-
te, im Grundsatz jedenfalls und solan-
ge sie ihre Notunterkunft nicht in sei-
nem Vorgarten aufstellen? Oder seine
neuesten Metallskulpturen mit Namen
„Roots“, gerade zu sehen in der Gale-
rie Neugerriemschneider in Berlin: Die
Wurzeln seien Reminiszenz an seinen
Vater, der im Jahr 1940 über die Ver-
ankerung von Bäumen schrieb, ande-
rerseits Metapher für die Ignoranz, mit
der im Regenwald abgeholzt wird. Auch
dabei dürfte fast jeder im Westen seine
Meinung teilen. „‚Roots‘ wirkt harmlos“,
schrieb die Kunstkritikerin des Berliner
„Tagesspiegels“.
Und schließlich Ais bislang letzter Sturm
in der Teetasse: Vergangene Woche wur-
de er aufgefordert, das Haus der Kunst
in München zu verlassen, wo er dagegen
protestierte, dass Mitarbeiter entlassen
werden sollen. Künstler von seinem Rang,
möchte man meinen, sollten durch Werke
in Museen auffallen, nicht durch gewerk-
schaftliche Aktionen.
Möglicherweise ist das zu streng und
engherzig. Denkbar, dass seine Aufleh-
nung gegen die Partei und die Schwie-
rigkeiten, die er deshalb in China hat-
te, Wirkung zeigten. Dass er, um in der
Boxersprache zu bleiben, angezählt
ist. Und deshalb seit einiger Zeit lieber
öffentlicher Intellektueller sein will als
Dissident im Hauptberuf. Ende Okto-
ber bekommt er den Frank-Schirrma-
cher-Preis. Dieser ehrt – zur Erinnerung
an den 2014 verstorbenen Journalisten
und Buchautor – herausragende Leistun-
gen zum Verständnis des Zeitgeschehens.
Es ist also kein Kunstpreis, er ging in
der Vergangenheit unter anderen an die
Schriftsteller Hans Magnus Enzensber-
ger und Michel Houellebecq. Er finde
es passend, dass er diese Auszeichnung
erhält, sagt Ai. „Ich war nie stolz darauf,
Künstler zu sein. Sondern wollte immer
zum denkenden Team gehören – Intellek-
tueller, wenn man so will, Denker, Schrei-
ber. Damit assoziiert zu werden macht
mich sehr stolz.“
Er unterstützt die Bürgerrechtsbewe-
gung von Hongkong, wo Einwohner seit
Monaten protestieren, weil ihre persön-


liche Freiheit sowie die Meinungs- und
Medienfreiheit durch Chinas Regierung
eingeschränkt werden. „Die Partei will
aus Hongkong ein zweites Peking oder
Shanghai machen. ‚Ein Land, zwei Sys-
teme‘ ist bloß ein Spruch“, sagt er aus
dem 10 000 Kilometer entfernten Exil.
China sei eine Diktatur, ein Polizeistaat,
da gebe es keinen Platz für einen Ort wie
Hongkong, wo die Einwohner das Inter-
net ohne Zensur nutzen können. Und
was heißt das für die Protestierenden? Er
bewundere die Reinheit der jungen Men-
schen, die ihr Leben für diese Sache ein-
setzen. „Ich wünschte, ich könnte mehr
für sie tun, ich möchte mit ihnen auf die
Straße gehen.“ Okay, aber gibt er ihnen
eine Chance? „Ja, sie werden vielleicht
zerquetscht. Aber, wie man sagt: ‚Man
kann einen Träumer töten, aber nicht sei-
nen Traum.‘“

Heimatlos oder, in Ais Worten, „auf der
Flucht“ zu sein ist zweifelsohne schwer.
Doch seine Lebensqualität hat sich ver-
bessert, seit er im Westen wohnt, darf
man annehmen. Er stimmt zu, schränkt
aber auch gleich wieder ein. Lebensqua-
lität sei nicht sein Maßstab. Für ihn zäh-
le Relevanz. Und relevant sei nur, wer
Reibung erzeugt. Lebensqualität? „Der
Weg dessen, der sich entschieden hat,
relevant zu sein, muss ein steiniger und
einsamer sein.“

Was, wenn er nach China zurückkehrte?
Aber einer immerhin, der zu hohen Prei-
sen für seine Werke geführt hat. Gale-
rien, die ihn vertreten – Lisson in London,
New York und Shanghai oder Neuger-
riemschneider in Berlin –, sind zurück-
haltend in der Bekanntgabe von Beträgen.
Auf dem transparenteren Sekundärmarkt,
Auktionen also, von denen der Urheber
wenig hat, brachte Ais „Coca Cola Vase“
532 000 Euro, sein „Circle of Animals/
Zodiac Heads“ 3,1 Millionen Euro.
Er sei nicht reich, sagt Ai. „Ich besaß
noch nie Immobilien, nicht mal ein Auto.“
Zurzeit überlege er sich allerdings, ein
Haus in Cambridge zu kaufen. Doch die
Lust vor allem jüngerer Chinesen, sich mit
Luxusgütern einzudecken, sei ihm fremd.
„In China dreht sich alles um Status, denn
Status ist Macht.“ Das Einzige, was er sich
je geleistet habe, sei eine Rolex Submari-
ner: „Eine schöne Uhr, ich hab sie vor 30
Jahren gekauft, doch ich trage sie nicht.“
„Wo sehen Sie sich in fünf Jahren?“,
lautet die heute so gängige Karrierefrage.
Für ihn als Widerborstigen wäre es nahe-
liegend und überraschend zugleich, wenn
er vorwärts und zurück nach China ginge.
Er würde gern zurückkehren, im Grunde,
sagt er. Seine Mutter, die 86 ist, lebt dort, er
hat sie vor einiger Zeit besucht, es gehe ihr
nicht gut. Und sein Halbbruder Xuan auch


  • zehn Jahre älter als Weiwei, Maler eben-
    falls, erfolgreich, aber nicht aufmüpfig.
    Man habe ihn sogar offiziell eingeladen
    heimzukehren, „China braucht mich“,
    hieß es. Er würde es gern glauben, „ich
    neige dazu, Gefahren zu unterschätzen –
    weil ich nie vergesse, dass meine Feinde
    auch nur Menschen sind.“
    Doch wenn er zu sehr mit der Vorstel-
    lung liebäugle, sei es Zeit für einen Rea-
    lity-Check, eine Wirklichkeitsprüfung:
    „Warum entlasst ihr meinen Anwalt nicht
    aus dem Gefängnis?“, fragt er dann. Und
    weil es dafür keine Erklärung gibt, bleibt
    er vorläufig auf der Flucht.n


Meerblick
Porzellanwellen von 2015 in
Ai Weiweis Berliner Ausstellung

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Ich bin ein Boxer.
Ich stecke ein,
lerne daraus und
schlage zurück

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