Focus - 21.09.2019

(Joyce) #1
MUSIK

Foto: Emma Hardy
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Er gilt als Englands größtes


Pop-Versprechen. Allerdings


will Sam Fender nicht Posterjunge


sein, sondern einfach nur


Gitarre spielen. Wie sein großes


Vorbild Bruce Springsteen


Working


Class Hero


render Einschnitt war. Doch er fügte
sich: „Man muss mental und körper-
lich gut beisammen sein, um dieses
Spiel mitzuspielen“, sagt er über das
Musikgeschäft, „und ich werde die
Chance, die ich bekommen habe,
nicht ungenutzt lassen.“
Fender war 18, als er in North Shields
entdeckt wurde. Viele Freunde hat-
ten die Stadt bereits für ein Studium
verlassen, während er einigermaßen
perspektivlos mit seiner Mutter, einer
Krankenschwester, in einer Sozialwoh-
nung von der Stütze lebte, nebenher
jobbte und sein Leben hasste.

Tränen auf dem Kneipen-Klo
Er wusste, dass er Musiker werden
wollte, hatte aber keine Ahnung, wie
sich das bewerkstelligen ließe. „Eines
Tages kam dann mein zukünftiger
Manager zufällig in diesen winzigen
Pub, in dem ich hinter der Theke stand
und Bier zapfte“, sagt Fender. Ein
Kollege, der den Manager erkannte
und von Fenders Rockstar-Träumen
wusste, ließ für ihn eine Gitarre holen,
drückte sie ihm in die Hand und sagte:
„Spiel!“ Also spielte Fender ein paar
Cover-Versionen, worauf der Manager
auf ihn zukam und fragte, ob er auch
eigene Lieder habe. Als ihm auch die
gefielen, knüpfte man Kontakt, und
Fender verschwand aufs Klo und ver-
drückte heimlich ein paar Tränen.
Die Aufbauphase bestand vor allem
darin, Fender mit der Akustikgitarre

überall auftreten zu lassen, um sein
Selbstbewusstsein zu stärken. Doch
kaum war es stark genug, wurde
Fender mit 20 krank. Weil er sich vor
Mitleidsbekundungen schützen will,
möchte er immer noch nicht sagen,
um welche Krankheit es sich handelte,
aber sie war schwer genug, ihn zwei
Jahre lang außer Gefecht zu setzen.
Während der Genesung nahm er sich
vor, den Fokus nicht mehr auf mög-
liche Hits zu legen, sondern nur noch
Songs zu schreiben, die ihm selbst
etwas bedeuten. Wie er zu seiner gro-
ßen Überraschung feststellen musste,
bedeuteten sie auch anderen Leuten
etwas und wurden zu Hits.
Er sei im Grunde nur ein weite-
rer weißer Junge mit einer Gitarre,
sagt er, doch im Unterschied zu den
anderen weißen Jungs, die nach dem
unwahrscheinlichen Erfolg von Ed
Sheeran zur Gitarre griffen, um mit
ergreifender Stimme von den Höhen
und Tiefen der Liebe zu singen, kom-
men bei Fender Liebeslieder gar nicht
erst vor. Stattdessen geht es bei ihm
um häusliche Gewalt („Two People“),
verzweifelte One-Night-Stands („Will
We Talk?“), schleichenden Totalitaris-
mus („Play God“), zersetzende Armut
(„Saturday“) und die Scham darüber,
es im Unterschied zu alten Freunden
halbwegs geschafft zu haben („The
Borders“).

Texte gegen die graue Realität
Der fantastische Titelsong „Hypersonic
Missiles“ handelt von einer Welt voller
Krisenherde und drängender Proble-
me, die von „schönredenden Anzugträ-
gern“ und „Witzfiguren“ regiert wird:
„Sie sind alle gleich / Nur ihre Namen
wechseln, Liebling / Wenn du aus einer
reichen Familie kommst / Kannst du
ihrem Club beitreten“, heißt es in dem
Lied. Natürlich könnte man diese Zei-
len für eine grob fahrlässige Verall-
gemeinerung halten, doch ein Blick
auf die aktuelle britische Regierung
zeigt, dass Fender mit seiner Sicht auf
die Dinge nicht ganz falschliegt. Und
während der Song Fahrt aufnimmt und
Fender stimmungsvoll die Zumutun-
gen der Gegenwart locker miteinander
verknüpft, lässt er seinen Saxofonisten
mit einem Solo reingrätschen, wie es
sich nur Musiker leisten können, die
ihrer Kunst vollkommen sicher sind.
Es ist lange her, dass britische
Rockmusiker sich derart beschwingt
und entschlossen gesellschaftlich
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