Focus - 28.09.2019

(Jacob Rumans) #1
KULTUR JOURNALISMUS

Fotos: Alexander Becher/Shutterstock, dpa

104 FOCUS 40/2019

W


as für eine fan-
tastische Ge-
schichte! Wie
geschaffen für
Claas Relotius,
den vermeintli-
chen Meistererzähler des deut-
schen Journalismus. Grandioser
Plot, eine klassische Helden-
reise. Der Sohn eines andalu-
sischen Fabrikarbeiters aus
Hanau ist dem größten Pres-
seskandal der Bundesrepublik
auf der Spur, aber alle zwei-
feln an seinem Verstand. Also
recherchiert er wie besessen
zwischen vier Töchtern am hei-
mischen Wohnzimmertisch, tagelang,
ganze Nächte. Ein einzelner Mann und
sein Kampf um die Wahrheit. Gegen das
größte Nachrichtenmagazin des Konti-
nents. Er sammelt eindeutige Indizien,
fundierte Belege, und als man ihn unter
Druck setzt, fliegt er sogar in die USA –
und überführt am Ende den Betrüger mit
dem blassen Engelsgesicht.
Claas Relotius hätte diese Story niemals
geschrieben. Denn sie ist wahr. Und er
wird sie nicht mögen. Denn sie handelt
zum größten Teil von ihm.
Gerade ist Juan Morenos großartiges
Buch „Tausend Zeilen Lüge. Das Sys-
tem Relotius und der deutsche Journa-
lismus“ von null auf Platz zwei in die
„Spiegel“-Bestsellerliste für Paperbacks
eingestiegen. Das Buch zum Super-GAU
des „Spiegel“. Nette Ironie, dass auf Rang
eins bei den Hardcovern Edward Snowden
steht. Dem amerikanischen NSA-Enthül-
ler hatten sie an der Hamburger Ericus-
spitze sehr viel lieber geglaubt als dem
Whistleblower aus dem eigenen Haus.

Die Elite-Einheit des Journalismus ...
Es durfte einfach nicht sein. Dass ein
Hochstapler und pathologischer Betrü-
ger sämtliche internen Kontrollmechanis-
men unterwandert hatte. Ausgerechnet
der „treue Claas“, wie sie ihn nannten,
der mit Anfang 30 schon 40 Journalis-
tenpreise gewonnen hatte, die bedeu-
tenden gleich mehrere Male. Von all
den vielen Texten sind nur wenige ohne
Fehler. Natürlich kann man seine Storys
als stereotypen Sozialporno von eher
dezentem Erkenntnisgewinn verachten,
deren dezidierte Unterteilung in Gut und
Böse der Welt einiges von ihrer Komple-
xität nimmt. Man kann ihn aber auch,
wie beim „Spiegel“, für den Neuerfinder

des erzählerischen Journalismus halten.
Bloß kriegt das Erfinden ex post so eine
unglückliche Konnotation.
Das Gesellschaftsressort war jahre-
lang stilprägend; es hat die Dramaturgie
und den Sound der Reportage geprägt.
Aber mit jedem Preis, den dieses Ressort
gewann, hat es sich vom Rest der Redak-
tion entkoppelt, bis es nur noch um sich
selbst kreiste. Dies ist die Elite-Einheit
der Branche, und genauso reden die Leu-
te auch untereinander. Es bereitet einem

fast körperliche Schmerzen, in
Morenos Buch diese Gespräche
zu lesen. Sie klingen so cow-
boyhaft breitbeinig, dass man
fürchten muss, die Typen pas-
sen mit ihren Egos kaum durch
eine Aufzugtür. Wenn man nur
ein paar von ihnen kennt, weiß
man, dass es so ähnlich auch ist.
Moreno notiert Dialoge, die an
einen Tarantino-Film erinnern.
Nur ist das hier keine Fiktion.

... und ihr systemisches Versagen
Und die Chefs? Sie hätten Relo-
tius stoppen müssen, findet
Moreno. Aber sie wollten mehr
von diesem geilen Stoff. Sie wussten auch
exakt, wie das geht. Vielleicht ging es
schon lange nicht mehr um ein Abbild der
Wirklichkeit, sondern um deren Kons t-
ruktion. Moreno dokumentiert die grotes-
ke E-Mail seines Ressortleiters Matthias
Geyer, als er die beiden Reporter zu jener
Geschichte losschickt, die letztlich die
Blase zum Platzen brachte. Sie liest sich
wie das Treatment zu einem Drehbuch,
nicht wie das Briefing zu einer Reportage.
Es wäre dennoch Unsinn, dem „Spie-
gel“ systematischen Betrug vorzuwerfen.
Systemisches Versagen ist es gleichwohl.
Moreno beteuert, ihm gehe es nicht um
eine Abrechnung mit seinem Auftragge-
ber, der ihm übrigens immer noch keinen
festen Redakteursvertrag gegeben hat.
Legitim wäre der Wunsch nach Vergel-
tung allemal. Sie haben ihn gequält, gede-
mütigt und als Nestbeschmutzer faktisch
gefeuert. Umso bemerkenswerter ist die-
ser angenehm uneitle und unaufgeregte
Bericht – und wie präzise er dieses selbst-
referenzielle System filetiert.
Morenos Buch ist mehr als ein Sitten-
gemälde, das von der Verführung eines
jungen Mannes erzählt und mitten hinein-
führt in das Zentrum des deutschen Quali-
tätsjournalismus. Es ist ein Lehrstück für
Journalistenschüler oder Studenten, die
„irgendwas mit Medien“ machen wol-
len. In Zeiten von Fake News sollte
es Pflichtlektüre für kritische Medi-
ennutzer sein und, das auch, für all
die „Lügenpresse“-Krakeeler. Vor
allem aber ist „Tausend Zei-
len Lüge“ eine 288 Seiten
lange Liebeserklärung an
den wunderbarsten Beruf
der Welt.n

MARKUS GÖTTING

Er löste den Claas-Relotius-


Skandal aus: Juan Morenos


Buch „Tausend Zeilen Lüge“


ist ernsthafte Aufarbeitung


und Liebeserklärung zugleich


Sagen, was war


Der Anfang vom Ende Nach dieser
(gemeinsamen) Story flog Relotius auf

Der Hochstapler Relotius gewann
40 Journalistenpreise für wertloses
Zeug. Seine Storys waren Fiktion

Ein Held, mit dem man nicht tauschen möchte Juan Moreno
entlarvte seinen Kollegen Relotius als Betrüger. Ein toller
Filmstoff. Nico Hofmann war klug genug, sich die Rechte zu sichern

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