Focus - 28.09.2019

(Jacob Rumans) #1

AGENDA


Fotos: imago images, dpa

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in ewig langen Nachtschichten. Snowden
versteckte unter den abziehbaren, farbi-
gen Aufklebern Micro-SD-Karten, fin-
gernagelkleine Speichermedien. Darauf
schmuggelte er Hunderte von Dokumen-
ten aus den Büros, die belegten, dass
die US-Regierung den internationalen
Telekommunikations- und Internet-Da-
tenstrom systematisch aufzeichnete und
speicherte: Millionen von E-Mails, die
irgendwo auf der Welt geschrieben wur-
de, Posts in sozialen Netzwerken, Fotos
in einer Daten-Cloud. Ein eklatanter Ver-
stoß sowohl gegen die Verfassung der
Vereinigten Staaten als auch gegen die
Charta der Menschenrechte.
Als Snowden sein Material
im Frühjahr 2013 in einem
Hongkonger Hotel an Jour-
nalisten weitergab und die
ersten Berichte erschienen,
lösten seine Enthüllungen
weltweit einen Sturm der
Entrüstung aus. Viel mehr
aber auch nicht. Die persön-
lichen Konsequenzen, die der
berühmteste aller Whistle-
blower zu tragen hat, sind
immens: Er lebt als Asylant
in einer geheimen Wohnung
in Moskau, bei einer Rück-
kehr in die USA droht ihm
eine jahrzehntelange Haft-
strafe. Die politischen Fol-
gen aus der Affäre erschei-
nen dagegen beschämend
geringfügig. Auch sechs
Jahre nachdem Snowden aus
dem Schatten der Dienste ins
Licht der Öffentlichkeit trat,
lassen Regierungen den globalen Daten-
verkehr überwachen. Je bedrohlicher die
politische Weltlage erscheint und je auto-
ritärer sich Machthaber in den USA, in
China, aber auch in Russland und West-
europa gebärden, desto ungehemmter
wird gesammelt und gespeichert. Der
Skandal um das Beratungsunternehmen
Cambridge Analytica, das sich damit brüs-
tete, aufgrund von Datenanalysen und
gezielter Ansprache die amerikanischen


Präsidentschaftswahlen mitentschieden zu
haben, zeigt, wie sehr aus Überwachung
längst Manipulation geworden ist.
Hinzu kommt, dass Privatunternehmen,
allen voran die großen Digital-Konzer-
ne wie Google, Amazon und Facebook,
ungeniert das Datenmaterial ihrer Kunden
abschöpfen, um es zu vermarkten. Und
Palantir, 2004 gegründet und heute eines
der am höchsten bewerteten Technologie-
unternehmen der USA, sammelt im großen
Stil Daten für Geheimdienste, aber auch
für die Pharma- und Finanzbranche.
Unmittelbar nach der Jahrtausendwen-
de habe das Internet seine Unschuld ver-

„Das war der Tod des Internets, wie ich
es kannte“, schreibt Snowden. „Unsere
Interessen, unsere Aktivitäten, unsere Au-
fenthaltsorte, unsere Sehnsüchte – alles,
was wir wissentlich oder unwissentlich
von uns preisgaben, wurde überwacht.
Unsere Daten wurden verkauft, heimlich,
damit wir möglichst lange nicht merkten,
dass wir ausgebeutet wurden.“

Die Gegenstrategie: radikales Misstrauen
Für den groß angelegten Deal mit unseren
Daten hat die Harvard-Ökonomin Shosha-
na Zuboff den Begriff „Überwachungska-
pitalismus“ geprägt. Den global agieren-
den Digital-Unternehmen sei
es gelungen, eine völlig neue
Ware zu erschaffen: Sie haben
die Erfahrungen, Beziehungen,
Gefühle und Begierden von Pri-
vatmenschen zu einem Rohstoff
gemacht, den sie ausbeuten
und gewinnbringend vermark-
ten können. Das Ziel dabei ist,
Voraussagen über deren künf-
tige Entscheidungen zu tref-
fen. Beziehungsweise darüber,
zu welchen Entscheidungen
die Menschen gedrängt wer-
den können. Wenn Amazon Sie
darüber informiert, dass Ihnen,
falls Sie den Roman „1984“ von
George Orwell mochten, auch
„Der Circle“ von Dave Eggers
über die Umtriebe von Digi-
tal-Konzernen gefallen könnte,
dann geht es natürlich darum,
Sie dazu zu bringen, sich das
Buch (bei Amazon) zu kaufen.
Die gigantischen Netz-Souffleu-
re versuchen, Ihnen Handlungen, Mei-
nungen, Urteile einzureden, auf die Sie
alleine vielleicht nie gekommen wären.
Und dass die Konzerne dazu in der Lage
sind, lassen sie sich prächtig bezahlen.
„Aufgrund der Zahl der Unternehmen,
die darauf aus sind, Wetten auf unser
künftiges Verhalten abzuschließen, haben
Überwachungskapitalisten es mittels die-
ser Handelsoperationen zu immensem
Reichtum gebracht“, sagt Shoshana Zu-
boff. Alphabet, der Google-Mutterkonzern,
ist laut Zuboff Erfinder des Datenkapita-
lismus und hat seinen Umsatz in den ver-
gangenen sieben Jahren mehr als verdrei-
facht – auf 136,82 Milliarden Dollar im Jahr


  1. Facebook erwirtschaftete im selben
    Jahr ein Nettoergebnis von 22 Milliarden
    Dollar, 2007 hatte das Unternehmen noch
    138 Millionen Dollar Verlust geschrieben.


loren, schreibt Edward Snowden in sei-
nem gerade bei S. Fischer erschienenen
Buch „Permanent Record“. Die ursprüng-
liche Idee einer grenzenlosen Gemein-
schaft sei pervertiert worden durch Pro-
fitgier. Nachdem Unternehmen erkannt
hatten, dass Menschen online mehr an
Kommunikation interessiert waren als
an E-Commerce, entwickelten sie Instru-
mente, um diesen sozialen Austausch
zu organisieren und zu monetarisieren.

„Der Überwachungskapitalismus war der Tod des


Internets, wie ich es kannte“
Edward Snowden, Whistleblower


Verstoß gegen die Verfassung
NSA-Zentrale in Maryland. Snowden enthüllte illegale Praktiken

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