Focus - 28.09.2019

(Jacob Rumans) #1
POLITIK

Fotos: privat, dpa, ullstein bild, imago images, Polaris/StudioX, action press

30 FOCUS 40/2019

Pfarrer, Stasi-Aufklärer, Staatsoberhaupt –


das bewegte Leben des Joachim Gauck


Sommerferien mit Mutter und Bruder an
der Ostsee, links im Bild der zwölfjährige
Joachim. Sein Vater war im Jahr davor von
der Stasi nach Sibirien verschleppt worden

Wortgewand-
ter Diener
des Herrn
Joachim Gauck
begann nach
seinem Studium
als Vikar in
Rostock-Laage

1952

1966

1989

1999

Herr über die
Stasi-Akten
Als Chef der nach
ihm benannten
Gauck-Behörde
stand er für die
schmerzliche
Aufarbeitung des
Stasi-Erbes

Unerschrockener
Pfarrer in Rostock
Joachim Gauck spricht
im Herbst 1989
während einer Andacht
in der Marienkirche

E

s ist immer noch schwer,
mit Joachim Gauck einen
Termin zu vereinbaren. Der
frühere Bundespräsident
kann sich vor Einladungen
und Gesprächswünschen
kaum retten. Ständig ist er
unterwegs, hält Vorträge,
gibt Vorlesungen oder holt Reisen nach,
für die er als Staatsoberhaupt von 2012
bis 2017 keine Zeit fand. Und wenn er
doch einmal längere Zeit in Berlin oder
in seinem Ferienhaus an der Ostsee ist,
schreibt er Bücher. Sein aktuelles Werk
„Toleranz: einfach schwer“ steht seit
Wochen auf den Bestsellerlisten.
Als wir uns schließlich in der Nähe sei-
ner Berliner Wohnung zu einem Spazier-
gang am Schlachtensee verabreden, reg-
net es in Strömen. Kurzerhand begeben
wir uns in die gediegene Weinstube der
„Fischerhütte“, eines beliebten Ausflugs-
lokals am Rande des Grunewalds. Man
kennt ihn hier, der berühmte Gast dreht
gerne seine Runden um den Schlachten-
see und kehrt anschließend mit seiner
Lebensgefährtin Daniela Schadt ein. Als
die Bedienung an den Tisch tritt, schlüpft
Gauck wieder in die alte Rolle als für-
sorgliches Staatsoberhaupt. Der junge
Kellner spricht schlecht Deutsch, Gauck
erkundigt sich, seit wann er im Land ist
und was er in Zukunft vorhat. Dass der
frühere Leiter der Stasi-Unterlagen-Be-

hörde in wenigen Monaten 80 Jahre alt
wird, merkt man ihm nicht an. Er antwor-
tet rasch und formuliert seine druckrei-
fen Sätze mit der sicheren Gelassenheit
des routinierten Redners und einstigen
Pfarrers. Was ihn als Ostdeutschen und
engagierten Bürgerrechtler im 30. Jahr
des Mauerfalls umtreibt, ist die abneh-
mende Toleranz in unserer Gesellschaft.

Herr Gauck, wie muss man Sie als ehe-
maliges Staatsoberhaupt eigentlich
protokollarisch korrekt ansprechen?
Die offizielle Anrede ist wie früher ...
... also Herr Bundespräsident ...
... ja, aber das reicht jetzt einmal zur
Begrüßung, und dann rüsten wir ab (lacht).
Sie sind seit zweieinhalb Jahren nun nicht
mehr Bundespräsident. Haben Sie, wie viele
ehemalige Politiker, unter Entzug gelitten?
Nein, überhaupt nicht. Zum einen bin
ich immer noch gut beschäftigt. Und zum
anderen war es eine sehr bewusste Ent-
scheidung, nicht noch einmal für das Amt
anzutreten. Das hatte auch viel mit mei-
nem fortgeschrittenen Alter zu tun.
In Ihrem neuen Buch stellen Sie die Toleranz
in den Mittelpunkt und beklagen, dass
in Deutschland das Klima zwischen den
Menschen rauer wird. Ab wann haben
Sie diese Klimaveränderung bemerkt?
Eigentlich schon am Ende meiner Amts-
zeit und ganz besonders nach der Wahl
von Donald Trump in den USA. Ich habe

gespürt, dass sich die unterschiedlichen
Milieus in den westlichen Gesellschaften
immer feindlicher gegenüberstehen. Und
bevor es dann irgendwann überhaupt kei-
ne Brücken mehr gibt, glaubte ich, etwas
tun zu müssen. Deshalb habe ich mich
intensiv der Frage der Toleranz gewidmet.
Was ist der wichtigste Grund für die Ver-
schärfung des gesellschaftlichen Klimas?
Die Kommunikation im Internet spielt
eine wesentliche Rolle. Dort haben sich
Unhöflichkeit und Unverschämtheit bis
hin zur Brutalität kontinuierlich gesteigert.
Und vom Netz ist das schlechte Benehmen
dann in den alltäglichen Umgang einge-
sickert. Und ganz zentral: Die Welt ist im
Umbruch. Das macht Angst.
Welche Rolle spielt Ihrer Einschätzung
nach der große Zustrom der Flüchtlinge und
Asylbewerber in den Jahren 2015 und 2016?
Der Ton ist unverkennbar rauer gewor-
den, als wir nach der ersten Willkommens-
euphorie in Deutschland begannen, sehr
kontrovers über die Zuwanderungspro-
blematik zu sprechen. Daraus wurde
dann sehr schnell eine echte Erbitterung
in bestimmten Kreisen der Bevölkerung.
Vieles hat sich dabei auf die Kanzlerin
konzentriert, die mancherorts inzwischen
mit regelrechtem Hass verfolgt wird.
Und das war der Grund für Sie, noch
einmal über Toleranz beziehungsweise
über den offenkundigen Mangel an
Toleranz in unserem Land nachzudenken?
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