Focus - 28.09.2019

(Jacob Rumans) #1

POLITIK


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Markus C. Hurek für FOCUS-Magazin

32 FOCUS 40/2019


beschriebene Pauschalisierung und die
vorschnelle Ablehnung ihrer Wähler nicht
weiter. Wenn wir unsere eigenen poli-
tischen Schützengräben immer wieder
befestigen, sind wir irgendwann so weit,
dass sich die Lager feindlich gegenüber-
stehen. Wie schnell das gehen kann, hat
sich seit der Wahl von Donald Trump in
den USA gezeigt. Dort erleben wir eine
große Polarisierung, ja eine Spaltung der
Gesellschaft.
Wir beobachten in den westlichen
Gesellschaften eine wachsende soziale
Verunsicherung wegen der vielen Ver-
änderungen im Zuge von Globalisierung
und Digitalisierung. Gleichzeitig gibt es
eine kulturelle Verunsicherung – Sie haben
den Begriff „Entheimatung“ gebraucht.
Was ist Ihrer Einschätzung nach die stär-
kere Wurzel des Rechtspopulismus: die
soziale oder die kulturelle Entfremdung?
Interessanterweise sind die Parteien,
die vor allem die soziale Frage in den
Fokus rücken, derzeit in Europa nicht
politisch erfolgreich. Ich denke deshalb,
dass es eher die kulturelle Entfremdung
ist, die die Menschen bewegt.
Ist die in Ostdeutschland besonders
ausgeprägt?
Im Osten haben wir immer noch eine
Transformationsgesellschaft. Die Men-
schen dort mussten die unglaubliche Leis-
tung erbringen, ein völlig neues System
zu erlernen. Das war mit vielen Brüchen


keren Bezug zu Law and Order,
zu Autoritärem und zu Schwarz-
Weiß-Denken. Und vor diesem
Hintergrund entstanden dann
in einer sich rasch wandelnden
Gesellschaft auch schnell eine
kulturelle Fremdheit und das
Empfinden, sich nicht mehr zu
Hause zu fühlen.
Erklärt das den Erfolg
der AfD im Osten?
Man muss genau hinschau-
en. In den ersten Jahren hat
die Linkspartei von dieser Un-
sicherheit der Menschen profi-
tiert und die Protestwähler ein-
gesammelt. Inzwischen ist es
die AfD, die diese Wähler über-
nommen hat. Sie ist im Osten
erfolgreicher als im Westen, weil
die Verunsicherung in Über-
gangsgesellschaften halt grö-
ßer ist als in Gesellschaften
mit einer stärker gesicherten
Identität.
Aber die AfD erfährt auch im
Westen wachsenden Zuspruch.
Es gibt auch in erfolgrei-
chen Ländern wie Bayern oder
Baden-Württemberg oder in
der Schweiz und Skandinavi-
en Wähler rechtspopulistischer
Parteien. Das hat in der Regel
keine sozialen Gründe. Diese

So, wie meines Erachtens gegenüber
dem, was rechts der Mitte existiert, oft
zu schnell mit Intoleranz reagiert wird,
existiert gegenüber den Problemen, die
in Kreisen von Zugewanderten vorkom-
men, oft zu viel Toleranz. Selbstverständ-
lich sind Zugewanderte in einer Demo-
kratie gleichberechtigt. Aber es darf keine
Scham geben, reale Probleme zu benen-
nen, etwa wenn Juden oder Homosexuel-
le diskriminiert oder angegriffen werden
oder die Rechte von Frauen missachtet
werden.
Sie haben einmal gesagt:
„Unser Herz ist weit. Aber unsere
Möglichkeiten sind endlich.“
Diesen Satz konnte ich mir als Präsident
erlauben, ohne in die operative Politik ein-
zugreifen. Heute kann ich freier formu-

„Viele lehnen die Risiken der modernen Gesell-


schaft ab und verklären die Vergangenheit“


verbunden: Arbeitslosigkeit oder Verlust
von Anerkennung und Sicherheit. Und das
vor dem Hintergrund einer Lebensprägung
in der Diktatur – ohne freie Meinungs-
äußerung, freie Medien und freie Wahlen
und freie Gewerkschaften, auch ohne eine
erlernte Eigenverantwortung. Man muss-
te sich in der DDR anpassen, vorsichtig
sein und zurechtkommen. Und so entstand
auch ein besonderer Persönlichkeitstypus.
Aber diese Umstellung ist doch schon
lange her. Wir feiern in diesem Jahr
den 30. Jahrestag des Mauerfalls.
Menschen können schnell neue Regeln
lernen, aber nicht ihre Gefühle ändern.
Die Intelligenz ist schneller als das Gemüt.
Der Osten ist immer noch unterwegs und
in Bewegung. Vor allem die Älteren haben
aus ihrer Prägung heraus noch einen stär-

Menschen spüren, dass wir vor einem
Epochenbruch stehen ...
Digitalisierung, Globalisierung,
Umweltzerstörung und große
Wellen von Zuwanderern ...
... und von diesen Veränderungen füh-
len sich viele überfordert. Sie lehnen des-
halb die Offenheit und die Risiken der
modernen Gesellschaft ab und verklären
stattdessen die Vergangenheit als eine
Art verlorene Heimat.
Sie haben im Zusammenhang mit der
Zuwanderung einmal darauf hingewiesen,
dass es „keine falsche Rücksichtnahme
geben“ dürfe, und gefordert, Deutsch-
lands Werte zu akzeptieren. Obwohl das
eigentlich eine Selbstverständlichkeit
ist, sind Sie dafür hart kritisiert worden.
Ist das ein Zeichen mangelnder Toleranz?

Gespräch in der
Weinstube
Altbundespräsident
Joachim Gauck und
FOCUS-Redakteur
Daniel Goffart beim
Interview – bei
Apfelsaft und Wasser
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