Focus - 28.09.2019

(Jacob Rumans) #1
DEUTSCHLAND

FOCUS 40/2019 33


lieren, aber dieser Diskurs ist immer noch
eine Gratwanderung.
Warum?
Unser Land wäre arm ohne Zuwande-
rung, und man kann viele Beispiele dafür
finden, dass die Zuwanderung nicht nur
eine demografisch notwendige Korrektur
ist, sondern in einer offenen Gesellschaft
auch eine Bereicherung darstellt. Aber es
kann nicht sein, dass man aus lauter Angst
vor dem Vorwurf der Fremdenfeindlichkeit
oder des Rassismus kritische Themen nicht
mehr ansprechen darf. Es war weitestge-
hend ein fürsorgliches Schweigen über
die Probleme ausgebrochen, und das war
problematisch. Wenn die demokratische
Mitte Reizthemen meidet, werden diese an
den politischen Rändern zu Hauptthemen.
Äußert sich dieses „fürsorgliche
Schweigen“ auch in einer über-
triebenen Political Correctness?
Die Political Correctness ist ein Kind der
Moderne und eine wichtige Errungen-
schaft, wenn sie sich gegen Diskriminie-
rung richtet. Wenn sie aber benutzt wird,
um Andersdenkende öffentlich anzukla-
gen und allein für ihre Wortwahl zu ver-
urteilen, dann ist das nicht sehr fortschritt-
lich. Wenn man die deutsche Sprache
unbedingt einer erhofften gesellschaft-
lichen Entwicklung anpassen will, kann
das schnell zu Übertreibungen führen, die
von großen Teilen der Bevölkerung abge-
lehnt werden. Ich nenne diesen „Neu-
sprech“ auch „betreutes Sprechen“, aber
das mögen natürlich viele nicht hören, die
sich im Dienste des Fortschritts wähnen.
Die Wahlen im Osten haben gezeigt, dass
mehr als ein Drittel der Bürger AfD und
Linke wählen, mithin Parteien, die eine
pluralistische Demokratie und unsere
soziale Marktwirtschaft ganz oder teilweise
ablehnen. Ist das im 30. Jahr des Mauer-
falls nicht ein deprimierendes Ergebnis?
Man darf nicht vergessen, dass die
Mehrheit der Ostdeutschen Parteien
der demokratischen Mitte wählt. Diese
Mehrheit ist im vereinigten Deutschland
angekommen und hat dafür eine Anpas-
sungsleistung erbracht, über die wir nur
dankbar und staunend berichten kön-
nen. Allerdings hat ein anderer Teil der
Bevölkerung nach wie vor den Eindruck,
durch das neue westliche System und die
Westdeutschen fremdbestimmt zu sein. Ihr


Frust verbindet sich mit dem Groll ehe-
maliger Eliten. Und die Politik muss auch
nicht alles aufnehmen, was im Osten an
Protest angemeldet wird.
Was meinen Sie damit?
Die Diktatur in der DDR hat vier Jahr-
zehnte gedauert. Das heißt, es gibt viele
ehemalige Stasi- und Armeeangehörige,
Polizisten, Parteisekretäre, diese ganze
frühere Führungsschicht und Funktions-
elite und ihre Familien. Die haben nicht
unbedingt ihr Eigentum verloren, aber
ihre Rolle und ihre Bedeutung. Sehr viele
aus dieser Gruppe grollen immer noch.
Sie wollen die „Herrschenden“ heute be-
strafen und verhalten sich in der Wahl-
kabine entsprechend.
Halten sich auch deshalb so viele Mythen?
Etwa dass der Westen mit der Treuhand
die DDR-Wirtschaft plattgemacht hat?
Also einer dieser roten Mythen ist, dass
unsere Diktatoren Vertreter der Arbeiter-
klasse waren. Das Gegenteil ist richtig:
Sie haben das Land ruiniert, die Men-
schen um ihre Rechte gebracht und die
Arbeiterklasse ausgebeutet. Unser schö-
nes Sachsen beispielsweise wäre ohne
die DDR heute ein Land auf der Augen-
höhe von Baden-Württemberg. Es gab
dort die gleiche ökonomische Struktur:
Mittelstand, Familienbetriebe und viel
Erfindergeist. Das alles ist vom Kommu-
nismus ruiniert worden.
Schuld ist aber jetzt angeblich
die Treuhand ...
Was für ein Unsinn! Es gibt genug Doku-
mente und Zeugenaussagen, die belegen,
dass die DDR längst pleite war. Natürlich
hat die Treuhand Fehler gemacht, aber sie
war nicht die Ursache des Ruins.
Was ist mit der viel beschworenen
größeren Solidarität zwischen den DDR-
Bürgern? Ist das auch nur ein Mythos?
Es gab eine größere Solidarität als heu-
te, aber warum? In der DDR herrschte
immer Mangel. In einer solchen Gesell-
schaft müssen Menschen einander stär-
ker helfen. Netzwerke und Beziehungen
spielen deshalb eine viel größere Rolle als
in einer Überflussgesellschaft. Und noch
etwas ist prägend: Wer trotz des Drucks
der Diktatur eigenständig leben wollte,
erlebte in Freundeskreisen, Kirchenge-
meinden, bei bestimmten Musikevents
oder Künstlergruppen eine Verbindung

derer, die gemeinsam gegen die da oben
waren. Der äußere Druck erzeugte eine
innere Intensität. Diese ging später in der
Freiheit weitgehend verloren.
Brauchen wir mit dem Abstand von 30 Jah-
ren und dem Wissen von heute eine Neu-
bewertung des Einheitsprozesses? Es wird ja
jetzt viel zurückgeschaut und nachgefragt?
Ja, vor allem die jüngeren Leute stellen
vermehrt kritische Fragen. Der Ansatz ist
ähnlich wie 1968 im Westen. Die Eltern oder
Großeltern sollen sagen, was sie damals
gemacht haben. Warum sie in der Partei, in
der Armee, in der Volkspolizei waren, wie
sie zu ihren Posten gekommen sind oder
ob sie sogar für die Staatssicherheit gear-
beitet haben. Und andere müssten sagen:
Es gab richtiges Leben im Falschen.
Sie haben als Leiter der Stasi-Unterlagen-
Behörde ganz wesentlich zur Aufklärung bei-
getragen. Es wurden viele Spitzel entlarvt,
aber auch viele Menschen mit schmerz-
lichen Wahrheiten konfrontiert. Da Sie auch
einmal Pfarrer waren – wie steht es 30 Jahre
nach dem Ende der DDR mit dem Verzeihen?
Ohne Wahrheit kann es keine echte Ver-
söhnung geben. Leider wird es in kon-
kreten Fällen sehr oft kritisch, wenn man
von früheren DDR-Eliten als Vorausset-
zung für ein Verzeihen die ganze Wahr-
heit einfordert. Dann kommen diese gan-
zen Beschwichtigungen: Man habe doch
eigentlich nur den Fortschritt gewollt,
heißt es dann, und mit der DDR eine anti-
kapitalistische Alternative erschaffen wol-
len. Bei diesen Rechtfertigungen wird völ-
lig vergessen, dass alle Werte, auf die man
heute als Demokrat und auch als Linker
schwört, von der DDR-Führung verraten
wurden: die Demokratie, die Menschen-
rechte und die Gerechtigkeit. Und viele
dieser alten Kader glauben bis heute, man
könne für sehr wenig Wahrheit sehr viel
Verzeihung bekommen.
Also sind wir auch 30 Jahre
nach dem Mauerfall noch nicht
fertig mit der Aufarbeitung?
Nein. Uns steht noch eine weitere Ge-
neration harter Arbeit bevor, um alles
richtig einzuordnen, zu verstehen, zu
bewerten. Und vielleicht sollten wir es
auch betrauern, dass so viele Menschen
ein so fremdbestimmtes Leben führen
mussten. Es sind so viele verführt worden
und haben sich verführen lassen. Wenn
man sich diese Trauer und Scham darü-
ber erspart, dann verlängert man nur den
Abschied vom Alten und das Ankommen
in der neuen, freien Gesellschaft. Und
man bleibt befangen in einem Grundver-
dacht gegenüber dem Neuen. Und genau
das sehen wir immer noch, auch nach
30 Jahren. n

„Wenn die demokratische Mitte Reizthemen meidet,


werden diese an den Rändern zu Hauptthemen“

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