POLITIK ORTSTERMIN
Foto: Markus Hurek für FOCUS-Magazin
Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer
hat ein neues Buch geschrieben, über den
Umgang mit Fakten. Zum grünen Sarrazin wird
er damit nicht. Ein Ortstermin zur rechten Zeit
Profis unter sich
B
oris Palmer, der
Beifall von der
falschen Seite
kennt, bekommt
ihn diesmal di-
rekt von vorn.
Er tut ihm sicht-
lich gut, doch – um den
vielleicht unstatthaften Ver-
gleich mit Thilo Sarazzin
bereits an dieser Stelle ein-
zuführen – er sonnt sich nicht
darin.
Christian Lindner, der es
gewohnt ist, mit seiner Rhe-
torik spielend einen Saal
zu rocken, bekommt am
Montagabend freundlichen
Applaus. Der FDP-Chef ist
der Bitte des Verlags von
Boris Palmer gefolgt und
präsentiert in Berlin dessen
neues Buch. Der Titel lautet
„Erst die Fakten, dann die
Moral“. Es hat das Zeug zum
Bestseller.
Tübingens Oberbürger-
meister leiht sich den berühmten Satz
von Kurt Schumacher, dem ersten Vor-
sitzenden der Nachkriegs-SPD, und
macht ihn zum Thema seiner 240 Sei-
ten: „Politik beginnt mit dem Betrachten
der Wirklichkeit.“ Dieser Satz hat es in
sich, denn er definiert die Wirklichkeit
als Beginn aller politischen Mühen – und
nicht das noch so gut gemeinte Wollen.
Dabei möchte man meinen: Die sieben
Wörter beschreiben eine Selbstverständ-
lichkeit. Doch was ist selbstverständlich
in Zeiten, in denen der US-Präsident sein
Land via Twitter regiert und jede Kritik
als Fake News abschmettert? Was ist
selbstverständlich an einem Tag, an dem
die 16-jährige Schülerin Greta Thun-
berg, 6380 Kilometer von Palmer und
Lindner entfernt, auf dem UN-Klima-
gipfel unter Tränen politisches Handeln
einfordert – als Reaktion auf Fakten, die
längst bekannt sind?
So wird der laue Berliner Herbstabend
zu einer Auseinandersetzung über das
Wünsch- und das Machbare und vor
allem immer über die Fakten, die dem
einen und anderen zugrunde liegen.
Der Saal ist recht freundlich
Zehn Euro Eintritt haben die Besucher
bezahlt, viele kaufen anschließend das
am Eingang ausgelegte Buch und lassen
es signieren. Es ist ein typisches Berli-
ner Publikum jenseits der 60, ohne Kra-
watte und Kostüm, in Würde ergraut. Fast
130 Brillen auf den 130 Nasen, die die-
se vor Beginn paarweise in den Früh-
andruck des „Tagesspiegels“ stecken,
der hier im Verlagshaus kostenlos aus-
liegt. Bildungsbürger im besten Sinne,
etwas grüner vielleicht als anderswo. Als
Lindner diesem Auditorium erklären will,
dass der Diesel-Skandal ausgerechnet
in dem Unternehmen am größten war,
in dem die IG Metall das Sagen hat und
eine SPD-geführte Landesregierung Mit-
eigentümer ist, da regt sich in den Reihen
vornehmer, aber deutlich vernehmbarer
Tumult.
Dabei ist der Sidekick Christian Lind-
ner zweifach gut gewählt. Zum einen
fand sich aus den Reihen der Grünen
niemand, der das Palmer-Buch bespre-
chen wollte. Zu sehr nehmen ihm viele
Parteifreunde sein Werk „Wir können
nicht allen helfen“ übel, in dem der heute
47-Jährige eine streitbare Debatte über
die Flüchtlingsfrage und die Herausfor-
derung der Integration anzettelte.
Zum anderen findet Palmer im elo-
quenten FDP-Chef einen befreundeten
Politikerkollegen, dem sein Satz, die
Lösung des Klimaproblems sei „eine
Sache für Profis“ so sehr nachhängt, dass
er ihn zur politischen Agenda umge-
deutet hat. Und zum Profi-Sein passt es
einfach, zuallererst auf die Fakten zu
schauen.
Das Setting stimmt. Den-
noch dürfte die Lektüre man-
chen enttäuschen. Denn die
Agenda des Lokalpolitikers
- das ändern weder seine
oft kritisierten Ideen zur Ab-
schiebung krimineller Aus-
länder noch sein Einsatz
gegen Diesel-Fahrverbote, - bleibt grün. Boris Palmer
ist für weniger Autos in den
Innenstädten, für viel mehr
Windräder auf den Bergkäm-
men, er kritisiert Klimaleug-
ner und lobt die „Fridays for
Future“-Bewegung: „Dass
Menschen für Wissenschaft
und Fakten auf die Straße
gehen, kann man zwar auch
als Alarmzeichen sehen, in erster Linie
finde ich es aber ermutigend.“
Doch er warnt eben vor den allgegen-
wärtigen Empörungswellen, vor ihrer
Wucht und dem Schaden, den sie anrich-
ten. Das unterscheidet ihn vom eingangs
erwähnten Bestseller-Kollegen: Sarrazin
hat die Welle erst selbst geschaffen, um
sie dann immer wilder zu reiten.
Palmer ist schon von Berufs wegen
Bürger. Das Amt des Oberbürgermeisters
verleiht ihm die Autorität und den Blick
auf das Wesentliche: Er kennt die kleinen
Sorgen, Ängste und Nöte. Die überbor-
denden Verordnungen für Gewerbetrei-
bende, übertriebene Brandschutzbe-
stimmungen, die Absurditäten unseres
durchregulierten Rechtssystems. Wenn
Bürger sich an den Kopf fassen, lehrt die
Lektüre, dann sind sie nicht immer gleich
„besorgt“ im übel beleumundeten Sinne.
Und Christian Lindner?
Mehrfach sagt der FDP-Parteichef, dass
„der Boris“ sein Freund sei. Palmer
betont, dass er nach wie vor einen guten
Draht zu Grünen-Chef Robert Habeck
habe. Den wiederum nimmt Lindner an
diesem Abend ausdrücklich vor Medien-
häme in Schutz. So schließt sich vielleicht
eines fernen Tages ein Kreis. Profis unter
sich eben. n
MARKUS C. HUREK
Ein signierter Palmer
„Für einen der brillantesten
Intellektuellen in der Politik“,
schreibt Boris Palmer, 47, in
das Buch für Christian Lindner
FOCUS 40/2019 37