Focus - 28.09.2019

(Jacob Rumans) #1
TITEL

FOCUS 40/2019 75


zeigt sich als Alterung. Es führt uns in die
Welt von Herzleiden, Krebs, Schmerzen,
Gebrechlichkeit und sicherem Tod.
Das Wissen, welche Gene an- und aus-
geschaltet werden sollen, verbirgt sich im
Epigenom der Zellen. Seine Informatio-
nen werden immer ungenauer. Es ent-
steht ein epigenetisches Rauschen.
Dieses Rauschen ist vergleichbar mit
den Kratzern, die eine CD unlesbar
machen. Wenn es uns gelingt, eine Poli-
tur für die CD unserer Zellen zu finden,
lässt sich die auf ihnen gespeicherte DNA
wieder decodieren – und der
Alterungsprozess umkehren.
Eine Schlüsselrolle im
Epigenom spielt eine Reihe
von Proteinen, die wir Sir-
tuine nennen. Diese Regu-
latoren stehen an der Spit-
ze der zelleigenen Steue-
rungssysteme und sind die
Befehlshaber einer vielsei-
tigen Katastrophenschutz-
truppe: Sie organisieren die
lebenswichtige Reparatur
beschädigter DNA und küm-
mern sich um die Kommuni-
kation zwischen den Zellen.
Es stellt sich die Frage:
Können wir etwas tun, um das Sirtu-
in-Programm in Gang zu setzen und
damit die Zellabwehr zu stärken, Ver-
fall abzuwehren und den epigenetischen
Informationsverlust aufzuhalten?
Die Antwort ist: eine ganze Menge, und
zwar schon jetzt mit unserem Lebensstil,
schon recht bald mithilfe von Medika-
menten und womöglich bereits in abseh-
barer Zukunft mittels der Gentherapie.
Nachdem ich 25 Jahre lang die Alte-
rung erforscht und Tausende von wissen-
schaftlichen Fachartikeln gelesen habe,
kann ich zumindest einen bombensiche-
ren Weg nennen, um länger gesund zu
bleiben. Es ist ein Tipp, den jeder umset-
zen kann: Essen Sie weniger.
Damit meine ich weder Mangelernäh-
rung noch Hungern. Das ist kein Weg
zu mehr, geschweige denn zu besseren
Jahren. Aber ein regelmäßiges Fasten
ist ohne Frage gut für Gesundheit und
Langlebigkeit. Das hat seinen Grund.
Das Abwehrsystem der Sirtuine reagiert
auf biologischen Stress. Diesen Effekt
bezeichnet man als „Hormesis“ (vom
griechischen Wort für „Anstoß“, „Anre-
gung“). Er tut dem Organismus gut,
solange die Belastung mild bleibt und
keinen Schaden anrichtet.


Wichtig ist freilich nicht nur wie viel,
sondern auch was wir essen. Bei Studien
über die „Blauen Zonen“ der Welt, in
denen besonders viele Hundertjährige
leben (etwa auf der japanischen Insel
Okinawa, in Nicoya in Costa Rica oder
auf Sardinien), kristallisierte sich eine
„Langlebigkeitsdiät“ heraus. Essen Sie
Gemüse, Hülsenfrüchte und Vollkorn-
produkte. Schränken Sie den Konsum
von Zucker, Milchprodukten und Fleisch
ein. Fleisch ist Mord an unserem Körper.
Dass Bewegung seit Jahrhunderten als
ideales Rezept für Vitali-
tät gilt, hat seinen Grund
ebenfalls auf der Ebene der
Zellen. Menschen, die sich
viel bewegen, haben längere
und um Jahre jünger wirken-
de Telomere als Menschen
mit eher sitzender Lebens-
weise. Physische Belastung
stimuliert die Langlebig-
keitsregulatoren.
Auch sich auf moderate
Weise der Kälte auszusetzen
löst den Effekt der Hormesis
aus. Unbedingt hüten sollten
Sie sich vor Einflüssen, die
Schäden an unserer DNA an-
richten und die epigenetischen Repara-
turteams unserer Zellen überstrapazie-
ren. Etwa vor Zigaretten. Raucher altern
schneller. Meiden Sie auch den Kontakt
mit Chemikalien wie PCBs, Azofarbstof-
fen und Organohaliden, die in Lösungs-
mitteln und Pestiziden verwendet wer-
den. Reduzieren Sie die Belastung durch
Röntgen- und UV-Strahlen.

Die revolutionäre Medizin von morgen
Sich biologischen Reizen auszusetzen und
eine gesunde Lebensweise zu wählen ist
das eine. Das andere, das Sensationelle,
sind die revolutionären Möglichkeiten
einer neuen Medizin. Interessanterweise
basieren sie zum Teil auf Wirkstoffen, die
wir schon lange kennen.
Mitte der 1960er-Jahre entdeckte ein
Wissenschaftlerteam auf den Osterinseln
in der Erde unter einem der berühmten
Steinköpfe eine unbekannte Bakterien-
art. Es stellte sich heraus, dass die Einzel-
ler einen pilzhemmenden Wirkstoff frei-
setzen. Zu Ehren der Insel, auf der man
ihn entdeckt hat, heißt er Rapamycin.
Heute ist Rapamycin eine der wichtigs-
ten Substanzen für die Immunsuppres-
sion nach einer Organtransplantation. In
den vergangenen Jahren stellte sich

Auf der Suche nach


der magischen Pille


A


utor dieser Titelgeschichte ist der aus-
tralische Biologe und Genetik-Professor
David Sinclair. Er leitet das Paul-F.-
Glenn-Labor für die Erforschung des Alterns
an der Harvard Medical School in Cambridge
im US-Staat Massachusetts und ist einer der
arriviertesten und optimistischsten Vertreter
seiner Fachrichtung. Das „Time“-Magazin nahm
ihn 2014 in seine Liste der 100 einflussreichsten
Persönlichkeiten der Welt auf.
Anti-Aging im Selbstversuch. Sinclair
praktiziert, was er predigt, und schluckt jeden
Morgen jeweils ein Gramm der Substanzen
Metformin, NMN und Resveratrol (im hausge-
machten Joghurt). Dazu im Lauf des Tages eine
Dosis Vitamin D und eine Tablette Aspirin. Auch
seine Frau Sandra, eine deutsche Genetikerin,
und sein Vater nehmen die Mittel. Selbst seine
drei Hunde erhalten seit einigen Jahren NMN.
Allen bekäme es gut, behauptet Sinclair, warnt
aber davor, es ihm gleichzutun, solange die
Therapien keine strenge klinische Erprobung
durchlaufen haben.
Hoffen auf ein Milliardengeschäft.
Sollte seine Forschung Erfolg haben, will
Sinclair auch finanziell profitieren. Er hält
über 40 Patente und hat mehrere Biotechno-
logie-Firmen gegründet.
Sein Buch „Lifespan“, das Sinclair hier
exklusiv für FOCUS in Deutschland vorstellt,
steht auf der Bestsellerliste der „New York
Times“. Auf Deutsch erscheint es am 1. Oktober
unter dem Titel „Das Ende des Alterns“.n

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Der erste
Mensch, der
150 Jahre alt
wird, lebt
womöglich
schon
unter uns

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