Focus - 28.09.2019

(Jacob Rumans) #1

KULTUR


88 FOCUS 40/2019


N

ach der Lektüre von
Lily Allens Autobio-
grafie „My Thoughts
Exactly – Das Leben,
wie ich es sehe“ ist
man heilfroh, dann
doch nicht den Beruf
des Popstars ergriffen zu haben. Zwar
würde man unter Umständen als
Entertainer bewundert und gefeiert
werden, doch andererseits hätte man
wahrscheinlich auch sein Selbstemp-
finden, seine Wertvorstellungen und
auch die Kontrolle über sein Leben ver-
loren. Man wäre misstrauisch gegen-
über allem und jedem, phasenweise
sogar paranoid, würde es aus einem
Fluchtimpuls heraus mit Sex und Dro-
gen hoffnungslos übertreiben und hät-
te trotz sagenhafter Einnahmen aus
unerklärlichen Gründen nie wirklich
viel Geld. Sämtliche Beziehungen zu
Freunden, Partnern und zur Familie
wären nachhaltig beschädigt. Und die
Presse würde einen entweder belagern
oder ignorieren, was so oder so eine Zu-
mutung darstellt.
„Die Existenz als Popstar ist eine
ziemlich sichere Methode, sich irgend-
eine Form von Geisteskrankheit ein-
zuhandeln“, schreibt Allen mit erfreu-
licher Offenheit in ihrem Buch. Nur
grundsätzlich ausgeglichene und tief
im Innersten gefestigte Persönlichkei-
ten seien davor gefeit – wobei eine
grundsätzlich ausgeglichene und im
Innersten gefestigte Persönlichkeit fast
nie auf die dumme Idee käme, Pop-
star werden zu wollen. Lily Allen fiel
nichts Besseres ein. Sie war 20, als die
Karriere begann.

Sex, Drogen und Schuldgefühle
Der Erfolg kam mit einer MySpace-Sei-
te, auf der sie 2005 ein paar Songs und
Mixtapes veröffentlichte und darüber
Tausende von Fans generierte. Allein
von den ersten beiden Alben, „Alright,
Still“ und „It’s Not Me, It’s You“, ver-
kaufte sie rund fünf Millionen Einhei-
ten, was sie in den späten Nullerjahren
zu einer der berühmtesten britischen
Musikerinnen machte.

Halb chronologisch, halb thematisch
führt sie im Buch die Leser durch ihr
Leben, erzählt von ihrem Vater, dem
Schauspieler Keith Allen, der sich laut
ihrer Beschreibung nur für zwei Dinge
interessiert: sich selbst und mit so vie-
len Frauen zu schlafen wie möglich.
Seine Leistungen als Vater sollen ent-
sprechend unterdurchschnittlich aus-
gefallen sein, weswegen es der vier-
jährigen Lily auch nicht weiter auffiel,
als die Eltern sich trennten.
Ihre Mutter ist die erfolgreiche Film-
produzentin Alison Owen, die Werke
wie „Elizabeth“, „Shaun of the Dead“,
„Saving Mr. Banks“ oder „Ein ganzes
halbes Jahr“ auf den Weg gebracht hat.
Weil sie wegen der Arbeit nur wenig
Zeit für die Kinder hatte, neigte sie zu
Schuldgefühlen, die sie mit Drogen und
Alkohol zu verdrängen versuchte, was
letztlich zu noch mehr Schuldgefüh-
len führte. Einmal hing sie derart in
den Seilen, dass sie einen Assisten-
ten losschickte, um die kleine Lily von
der Schule abzuholen. Der tat, wie ihm
geheißen. Erst viel später fiel dann
jemandem auf, dass es die falsche Lily
war, die er mitgenommen hatte.
Über ihre ältere Halbschwester Sarah
schreibt sie, dass sie stets auf deren
enge Beziehung zur Mutter eifersüch-
tig war, während ihr nur ein Jahr jün-
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