Focus - 28.09.2019

(Jacob Rumans) #1
MUSIK

Foto: David Titlow/CAMERA PRESS/laif
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gerer Bruder Alfie, den man als Theon
Graufreud aus der Serie „Game of
Thrones“ kennt, im Buch nur am Rande
auftaucht. Das könnte vor allem daran
liegen, dass Allen es für eine gute Idee
hielt, auf ihrem Debütalbum „Alright,
Still“ von 2006 einen Song namens
„Alfie“ zu platzieren, der davon han-
delt, dass ihr Bruder den ganzen Tag in
seinem Zimmer sitzt und kifft.
Bis heute soll Alfie ihr den Song nicht
verziehen haben, auch wenn man ihm
im Vergleich zum Rest der Familie die
wahrscheinlich gesündeste Lebensein-
stellung attestieren muss.
Wer mit Lily Allens Schaffen ver-
traut ist, weiß um ihre unverblümte
Art. Ihr Hit „LDN“ handelte etwa von
der Hässlichkeit Londons hinter den
schönen Fassaden, „Fuck You“ war
ein mit zuckersüßer Stimme vorgetra-
genes Protestlied gegen Homophobie
und Rassismus und „Hard Out Here“
eine Anklage gegen den Sexismus und
die frauenfeindlichen Strukturen im
Musikgeschäft. Mit „The Fear“ hat
sie sogar den schlauesten Song über
Influencer und Instagram geschrieben,
und zwar bereits 2008, also mehr als
ein Jahr bevor es Instagram überhaupt
gab. „Es ist komisch“, sagte sie einmal
in einem Interview, „als ich den Song
schrieb, hielt ich ihn für ironisch und
sarkastisch, und heute ist das trauriger-
weise alles Realität.“
So verhält es sich auch mit dem Buch:
Manches mag sich zunächst wie eine
heitere Anekdote lesen, doch dann
fällt auf, wie unglaublich deprimie-
rend ihre Geschichte eigentlich ist. Ein
emotional vernachlässigtes Kind, das
neun verschiedene Schulen besucht
und sie mit 15 ohne Abschluss been-


det, dann einigermaßen ziellos die
Zeit vorüberziehen lässt, mit Anfang
20 plötzlich zu unglaublichem Erfolg
kommt und jeden Morgen 30 Foto-
grafen vor der Haustür warten sieht.
Sie ist gezwungen, vor den Augen der
Öffentlichkeit erwachsen zu werden,
woran sie grandios scheitert, weswe-
gen sie sich meist älteren Männern an
den Hals wirft, die sie als Vaterfiguren
vor der Welt beschützen sollen, was
aber nie passiert.
Stattdessen Exzess, Depression und
Magersucht sowie eine Ehe mit dem
freundlichen Unternehmer Sam Cooper,
der ihr aber nicht gewachsen ist. Ihr
erstes Kind kommt tot zur Welt, weil
es sich bei der Geburt mit der Nabel-
schnur erdrosselt, und nachdem die
Töchter Ethel und Marnie geboren
sind, ist die Ehe am Ende.
Die Kapitel des Buches tragen stim-
mungsvolle Titel wie „Isolation“, „Sex,
Teil zwei“, „Am Boden“ und „Ein
Ende“, um dann in „Übergriff“ auch
noch auf die unappetitliche Tradition
sexuellen Missbrauchs in der Musik-
industrie einzugehen. Allen erzählt
die Geschichte, wie sie sich mit ei-
nem Manager ihrer Plattenfirma zum
Abendessen trifft, um ihm zu erklären,
dass sie ihr Leben in Ordnung bringen
und mit dem Alkohol und den Drogen
aufhören will, woraufhin er ihr zu der

klugen Entscheidung gratuliert und
vorschlägt, darauf mit ein paar Tequilas
anzustoßen. Als sie praktisch besin-
nungslos ist, bringt er sie nach Hause
und hat Sex mit ihr. Der Vorgang wie-
derholt sich, es ist kein Spaß.

Schonungslos mit sich und anderen
„Ich war nie eine Heilige“, schreibt
sie. „Ich weiß, dass ich eine Narzisstin
bin. Ich neige zu Selbstsabotage und
Selbstzerstörung. Ich habe psychische
Erkrankungen, Drogenexzesse und
Abhängigkeit hinter mir. Ich kann lau-
nisch, verzogen, aufbrausend und dick-
köpfig sein. Doch selbst dann, wenn ich
in diesem Psychonebel herumirre und
mich mit allem betäube, was ich in die
Finger kriege, bleibe ich meiner selbst
bewusst. Ich bin mir meiner selbst ex-
trem bewusst.“ Nur das habe sie letzt-
lich vor dem Untergang bewahrt.
Und so überstand sie auch ihren Total-
zusammenbruch im November 2016
und kehrte vergangenes Jahr mit dem
Album „No Shame“ zurück, in dem
nach bester Lily-Allen-Art alles thema-
tisiert und verarbeitet wurde, was sie
erlebt hatte. In „Apples“ sang sie, dass
sie im Grunde exakt wie ihre Eltern sei,
„Family Man“ handelte von dem Ver-
such, die Ehe zu retten, während man
sich gleichzeitig um die Karriere küm-
mern muss, und die großartige Single
„Trigger Bang“ ist ein versöhnlicher
Abschiedsgruß an all die Dinge, die zu
einem Rückfall führen könnten. Wenige
Monate später ließ Allen im September
2018 das Buch folgen, das jetzt auch auf
Deutsch erschienen ist und gewisser-
maßen die Hintergrundinformationen
zu den Songs und ihrem Leben liefert.
Man mag sich natürlich fragen, warum
Allen, die sich über weite Strecken des
Buches darüber beklagt, von der Bou-
levardpresse durchleuchtet zu werden,
eine Autobiografie schreiben muss, die
selbst die privatesten Momente ans
Tageslicht zerrt. Doch Allen sagt, dass
sie es für ihre Töchter getan hat. Wenn
diese sich später einmal fragen sollten,
warum sie als Kinder oft alleingelassen
wurden, sollen sie die Antworten nicht
in alten Boulevardzeitungen finden,
sondern in Mutters Buch.
Und die Geschichte ist natürlich auch
ein warnendes Beispiel für alle, die
meinen, sie müssten unbedingt Popstar
werden. „Mein Gott, hütet euch bloß
vor dem Ruhm!“, schreibt sie. So ist Lily
Allen eben: hart gegenüber anderen,
brutal zu sich selbst.n

Cool Girl
Mehr denn je bei sich
angekommen: Lily Allens
Autobiografie „My
Thoughts Exactly – Das
Leben, wie ich es sehe“ ist
im EMF Verlag erschienen,
336 Seiten, 20 Euro

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Mein Gott,


hütet euch bloß vor


dem Ruhm!


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