KULTUR
Fotos: Peter Rigaud für FOCUS-Magazin (2), Courtesy of Bjarne Melgaard & Acute Art, London (4), VG Bild-Kunst, Bonn 2019
92 FOCUS 41/2019
D
ie Leipziger Straße in Ber-
lin, eine der zentralen Ver-
kehrsachsen der Haupt-
stadt. Hier betreibt Julia
Stoschek, Gesellschafte-
rin des Automobilzulie-
ferers Brose, seit 2016 ein
Ausstellungshaus, in dem
sie Teile ihrer renommierten Sammlung
von Medienkunst zeigt. Am 11. Oktober
startet eine neue Ausstellungsreihe, eine
Kooperation mit Acute Art, einem Londo-
ner Atelier für Digitalkunst, das der ehe-
malige Direktor des Stockholmer Moderna
Museet, Daniel Birnbaum, leitet.
Frau Stoschek, Herr Birnbaum, nebenan
wird eifrig gewerkelt. Sie bauen gerade
die erste Ausstellung einer gemeinsamen
Reihe mit Virtual-Reality-Kunst auf.
Was erwartet denn den Besucher?
Stoschek: Er wird Kunst in einer völ-
lig neuen Form erleben. Das Londoner
Unternehmen Acute Art ist ein Labor,
in dem Virtual-Reality-Kunstwerke ent-
stehen. Wir wollen in unserem Berliner
Ausstellungshaus dem Publikum die
Möglichkeit geben, diese Kunst kennen-
zulernen und zu erleben. Denn es geht
bei VR ja nicht ums Betrachten allein,
sondern der Besucher taucht tief in das
Werk ein. Die Trennung von Kunstwerk
und Betrachter löst sich auf.
Der VR-Film „The Trip“ von Bjarne Melgaard
wird zu sehen sein, ein albtraumhafter
Drogentrip in seelische Abgründe, in
dem auch Selbstmordfantasien eine
Rolle spielen. Fürchten Sie nicht, dass
Sie damit Besucher eher befremden, als dass
Sie sie für das neue Medium begeistern?
Stoschek: Entschuldigung, wir sind in
Berlin!
Birnbaum: Vor allem sind wir bei Julia
Stoschek! Da wissen die Leute schon,
dass es auch mal, sagen wir, ausgefalle-
ner zugehen kann. Dieser Film ist sicher
keine Familienunterhaltung, aber auch
nicht gefährlich für das Seelenheil des
Publikums.
Stoschek: Zumindest nicht gefährli-
cher als ein „Tatort“ am Sonntagabend.
Kunst muss nicht behaglich sein. Kunst
kann und sollte Grenzen überschreiten.
Melgaard geht es ja auch darum, gesell-
schaftliche Themen und Entwicklungen
zu erspüren und zu kommentieren. Das
ist ja auch eine Aufgabe, die Kunst immer
wieder übernommen und erfüllt hat. Und
gerade bei neuen medialen Ausdrucks-
formen liegt es natürlich nahe, dass sie
gesellschaftliche Trends und Tendenzen
behandeln.
Man muss eine Datenbrille tragen, um
Melgaards Trip miterleben zu können. Wird
das Besucher abschrecken, oder werden
vielleicht Menschen kommen, die sonst
nicht in Ausstellungen gehen, weil sie ein-
fach die Technik kennenlernen wollen?
Stoschek: Ich glaube, im Moment wirkt
die Vorstellung, in einer Ausstellung eine
klobige Brille tragen zu müssen, noch
irritierend. Aber die Neugier auf das, was
man da erleben kann, wird überwiegen,
da bin ich sicher. Ich glaube, dass die
Leute Schlange stehen werden!
Birnbaum: VR wird sich viel leichter
tun, wenn die Brillen handlicher wer-
den. Noch ist das alles vielleicht ein biss-
chen unbequem, aber es wird sich schnell
ändern.
Meine Erfahrung mit VR-Brillen ist ja viel-
mehr gegensätzlich: Man ist enttäuscht,
wenn man aus der fantastischen Welt,
in der man da gerade unterwegs war, in
seinen profanen Alltag zurückkehrt.
Birnbaum: Dafür gibt es schon ein
Schlagwort: Post-VR-Sadness, eine
gewisse Traurigkeit nach dem VR-Erleb-
nis. Douglas Coupland, der Autor von
„Generation X“, hat es geprägt. Aber ich
glaube, die andere Reaktion ist ebenso
möglich: Erleichterung darüber, dass man
nach einer sehr intensiven Reise endlich
wieder zu Hause ist.
Was hat Melgaards Arbeit in Ihnen ausgelöst?
Birnbaum: Ich habe ja miterlebt, wie sie
sich entwickelt hat. Insofern ist es eher
so, wie wenn man ein Buch kapitelweise
liest: Die Geschichte entfaltet sich nach
und nach. Ich bin gespannt, wie diese
Reise auf jemanden wirkt, der sie zum
ersten Mal und im Ganzen erfährt.
Stoschek: Natürlich ist es auch ein Wag-
nis, diese Arbeit, die noch gar nicht fertig
war, als wir die Ausstellung konzipiert
haben, an den Anfang unserer Reihe zu
stellen. Wir hätten natürlich auch mit
einem der Werke im Programm von Acute
Art beginnen können, die schon erprobt
sind, etwa dem von Olafur Eliasson. Aber
diese Reihe ist eben auch ein Experiment,
bei dem nicht von vorneherein klar ist,
wie es ausgeht.
Die andere Arbeit, die Sie zeigen, „Density“
von Koo Jeong A, ist zugänglicher.
Birnbaum: Allein schon, weil man dafür
keine VR-Brille braucht, sondern ein
Smartphone – und das hat ja fast jeder.
Mit dessen Hilfe kann man überall in Berlin
große, schwebende Eiswürfel aufspüren,
die allerdings nur virtuell existieren.
Birnbaum: „Density“ basiert auf Aug-
mented Reality, erweiterter Realität. Es
funktioniert so ähnlich wie beim Spiel
„Pokémon-Go“: In das reale Stadtbild
werden diese virtuellen Eisblöcke hinein-
projiziert, zu sehen sind diese Projektio-
nen auf dem Smartphone.
Eine ziemlich ungewöhnliche Arbeit für Koo
Jeong A, die man ja sonst nicht unbedingt
mit Hightech in Verbindung bringen würde.
Stoschek: Insgesamt ist spannend, dass
an dieser Ausstellungsreihe Künstler
teilnehmen, die bisher ganz selten oder
vielleicht gar nicht mit Film oder Virtual
Reality gearbeitet haben: Jeff Koons zum
Beispiel. Künstler beginnen, sich durch
Acute Art für diese neuen Technologien
zu interessieren.
Ohnehin ist auffallend, dass VR in der Kunst
erst jetzt Fuß fasst. In der Wissenschaft
oder bei Videospielen ist sie viel präsenter.
Birnbaum: Ja, aber auch im Film. Ich war
gerade bei den Festspielen in Venedig, da
gab es 70 neue VR-Arbeiten zu sehen.
Übrigens ist VR auch bei Dokumentatio-
nen ein unglaublich starkes Mittel, weil
ich den Zuschauer eben sehr direkt in
eine Szenerie führen und ihn teilhaben
lassen kann. Aber dann gibt es eben auch
die ganz andere Richtung, wenn es um
völlig verrückte Fantasien geht wie etwa
bei Bjarne Melgaard. Ich bin sicher, je
verfügbarer und einfacher die neuen Tech-
nologien werden, umso interessanter sind
sie auch für die Künstler. Es gibt ja sehr
viele Technik-Enthusiasten unter ihnen,
aber eben auch Skeptiker. Und deren
„Kunst muss nicht behaglich sein.
Kunst soll Grenzen überschreiten“
Julia Stoschek