Frankfurter Allgemeine Zeitung - 04.10.2019

(lily) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Feuilleton FREITAG, 4. OKTOBER 2019·NR. 230·SEITE 11


Das Drama bebt und erschüttert immer
wieder das Verhältnis von Autor und Re-
gie. Und nicht nur das. Auch die Gräben
zwischen Postdramatik und „Well-made
Play“ sind tief. Textflächen werden gegen
das Dialogische ins Feld geführt. Intel-
lekt gegen Emotion, Diskurs gegen Er-
zählung. Innerhalb der Dramatik geht es
absurderweise immer wieder um Abgren-
zung. Dabei schöpft gerade die Dramatik
ihren Reichtum aus der Vielfalt der For-
men. Während in der F.A.Z.-Serie „Spiel-
plan-Änderung“ der Blick auf vergessene
Theaterstücke gelenkt wird, die wieder
gespielt werden sollen, wird zeitgenössi-
sche Dramatik kaum noch gelesen. Da-
bei passen Umfang und Form eigentlich
perfekt in unsere Hocheffizienzgesell-
schaft. Theaterstücke erinnern in ihrer
Geschlossenheit an Kurzgeschichten, in
ihrer Komplexität an Romane, in ihrer
Sprache an Lyrik und in ihrer politischen
Dichte an Essays. Das Drama ist nicht we-
niger als ein literarisches Gesamtkunst-
konzentrat. Und trotzdem ist es immer
seltener in einer Buchhandlung zu fin-
den. Weil kaum noch jemand Dramatik
liest und kaum noch ein Verlag sie
druckt. Das Drama lebt aber trotzdem –
jenseits der Bücher. Und zwar als fleisch-
gewordene Sprache im Theater. Drama-
tik und Theater sind nicht voneinander
zu trennen. Das Drama wird ausschließ-
lich für das Theater geschrieben. Drama-
tik ist nicht linear, sie lässt die Sprache
mit dem Körper kollidieren. Sie braucht
den Widerstand und denkt ihn mit. Sie
kann im Entstehen nur ahnen und nie-
mals wissen, was passiert, wenn ihr Text
auf Körper trifft.
Die Digitalisierung nimmt gerade Di-
mensionen an, die unsere Vorstellungs-
kraft schneller übertreffen, als wir der
Wirklichkeit folgen können. Das Lesen
von Büchern nimmt ab, das Hören und
Sehen bewegter Bilder zu. Austausch fin-
det primär über glatte Displays statt. Die
Sehnsucht nach physischer Gemein-
schaft wächst. Auf einmal hat die Drama-
tik ihren Schwestergattungen eindeutig
etwas voraus: Sie wird geschrieben, um
gesprochen, gehört und gesehen zu wer-
den. Sie hat schon immer – wie die Religi-
on und der Sport – das gemeinschaftliche
Erleben zum Kern ihrer Identität ge-
macht. Die Sehnsucht nach Echtheit
wächst mit dem Fortschreiten digitaler
Kunstwelten. Trotzdem hat die zeitgenös-
sische Dramatik derzeit keinen leichten
Stand. Selbst an den Theatern nicht. Das
klassische Drama wird als altmodisch
wahrgenommen, die Postdramatik löst
sich zunehmend im Performativen auf.
Stadtteilprojekte, Recherchen, Bürger-
bühnen und offene Formate reagieren
schneller und politischer. Die Regie
schreibt immer öfter selbst den Text. Das
Vertrauen in das Miteinander von Regie
und Dramatik schwindet.
Dabei gibt es beim Publikum eine gro-
ße Sehnsucht nach Erzählungen. Nach
tragischen Konflikten. Nach Gesprächs-
katalysatoren. Doch absurderweise wird
danach nicht primär in der Dramatik ge-
sucht, sondern im Roman. Ist zeitgenössi-
sche Dramatik zu komplexeren Erzählun-
gen nicht in der Lage? Es wirkt fast so,
wenn man die Spielpläne der Theater be-
trachtet. Dabei ist das ein Missverständ-
nis. Weil die neue Dramatik natürlich in
der Lage ist, große Erzählbögen zu schla-
gen. Sie wurde aber schon sehr lange
nicht mehr dazu aufgefordert. Fast jede
Uraufführung der letzten zehn Jahre
fand auf kleinstmöglichen Bühnen statt.
Irgendwann, nach vielzähligen Strichfas-
sungen, schrieben die beengten Bühnen-
verhältnisse und minimalen Figurenta-
bleaus sich von selbst mit in die neuen
Stücke rein. Dadurch entstanden zahlrei-
che „kleine“ Theaterstücke. Zwei bis vier
Personen. So zahlreich, dass landauf,
landab Stücke zur Uraufführung ge-
bracht wurden. Schon quantitativ hätten
sie niemals nachgespielt werden können.
Das Label Uraufführung schien irgend-
wann wichtiger als die Qualität. Aus neu
wurde alt, sobald es in der Ankündigung
stand. Die Folge war enthemmte Über-
produktion. Die Theaterlandschaft wur-
de mit Theaterstücken überschwemmt,
die beliebig wurden. Daran waren auch
die Theaterverlage nicht unschuldig. Die
Nachfrage bestimmte den Markt. Es reg-
nete Auftragsarbeiten. Mittendrin ent-
standen große Texte, viel zu oft überflu-

tet von einer mächtigen Welle der Aus-
tauschbarkeit. Die breit angelegte Auto-
renförderung bedachte zu spät, dass erst
das Nachspiel nachhaltig ist. Erst das wie-
derholte Nachspielen eines Stückes gibt
den Autorinnen Zeit und Raum und fi-
nanzielle Sicherheit für das Schaffen neu-
er Werke. In den letzten Jahren zeigten ei-
nige Theater mit erfolgreichen Inszenie-
rungen, wie groß die Durchschlagskraft
von zeitgenössischer Dramatik im Nach-
spiel sein kann. Auch die Theaterverlage
sehen sich zunehmend aufgefordert, auf
das Nachspiel bereits existierender Stü-
cke zu dringen, bevor die nächste Auf-
tragsarbeit verabredet wird. Der Fokus
muss weg von klein und fein. Für die gro-
ßen Bühnen muss geschrieben werden.
Solange das aber den wenigsten Dra-
matikern zugetraut wird, nimmt die Zahl
der Bühnenadaptionen von Roman- und
Filmstoffen kontinuierlich zu. Sie bieten
praktischerweise genau das, was der zeit-
genössischen Dramatik gerade abgespro-
chen wird: die große Erzählung. Die
nichtdramatische Form wird gerne auch
deshalb in Kauf genommen, weil Roman-
inszenierungen zu publikumsgenerieren-
den Wiedererkennungseffekten führen.
Titel, die auf Bestsellerlisten vorkom-
men, sind einer breiteren Öffentlichkeit
bekannt. Theaterstücke kommen – wenn
überhaupt – nur noch als hochspeziali-
sierte Nischengattung auf dem Buch-
markt vor. Der Glamourfaktor ist gering.
Und das macht sie offenbar auch für das
Theater zunehmend unattraktiv. Dabei
müsste doch gerade dem Theater daran
gelegen sein, die zeitgenössische Drama-
tik wieder groß zu machen. Und ein brei-
tes Publikum mit seiner vielschichtigen
Schönheit vertraut machen. Wie sollte
sich das Theater von der Dramatik je-
mals distanzieren können? Sie ist sein Be-
standteil. Seine Sprache. Immer.
Neue Dramatik kostet, erschwert die
Auslastung und kann in der Auseinander-
setzung von Text, Autor und Theater
mühsam sein. Viele Theater versuchen
Risiko und Mehrwert zu verbinden, in-
dem sie die neue Dramatik auf kleinen
Bühnen einem vorsichtigen Praxistest un-
terziehen. Aber die neue Dramatik steckt
im Hamsterrad, wenn immer nur die Ab-
sicherung im Auge behalten wird. Sie
wird abgegrenzt und in winzigen Boxen,
Kammern, Kellern oder Speichern ge-
zeigt. Kleine Schatzkammern neuer Dra-
matik. Tun nicht weh, wenn sie schei-
tern, und erfreuen in Maßen, wenn sie ge-
lingen. Zum Berliner Theatertreffen wer-
den die zehn besten Inszenierungen des
Jahres eingeladen. In seltenen Fällen be-
finden sich Inszenierungen von Frauen
darunter. Noch seltener übrigens Insze-
nierungen zeitgenössischer Dramatik.
Für 2020 und 2021 wurde eine Frauen-
quote eingeführt. Das ist umstritten, aber
sinnvoll. Prozesse verändern sich offen-
bar nur, wenn selbsterhaltender Hand-
lungsbedarf besteht. Auch hinsichtlich
der neuen Dramatik wäre es Zeit für eine
Quote. Mindestens die Hälfte der Stücke
auf großen Bühnen müsste zeitgenös-
sisch sein. Damit würde Dramatik in Be-
wegung geraten. Wachsen. Nicht alles
würde gelingen, aber der Weg wäre einge-
schlagen. Neue Dramatik wurde in den
letzten Jahren oftmals zu klein gedacht.
Das muss sich ändern. Wer, wenn nicht
die Theater, können einen professionel-
len Begleitschutz dafür bieten? Schon
die jüngsten Dramatiker sollten ermutigt
werden, das Große von Beginn an vor Au-
gen zu haben. Wir brauchen sie so drin-
gend, die Stücke, die Rollen für alle bie-
ten, die gesellschaftliche Umbrüche mit-
denken und sich in unsere Zeit einschrei-
ben. Stücke, in denen es um Menschen
und nicht um Geschlechter geht. In de-
nen Sprache gesprochen wird, wie wir sie
uns nicht hätten denken lassen, und die
von vielen, vielen Menschen an vielen
Theater gesehen werden kann. Der Weg
zum breitenwirksamen Lesedrama mag
noch so steinig sein. Wir gehen und disku-
tieren unbeirrt. Denn über allem
schwebt das freudige Wissen, dass das
Drama lebt.
FRIEDERIKE EMMERLING, OLIVER
FRANKE, STEFANIE VON LIEVEN, BARBA-
RA NEU, BETTINA WALTHER

Der Text ist ein Ausschnittaus dem Nachwort von
Dramatische Rundschau 01 – einer Neuauflage
der bisher bei FISCHER Taschenbuch erschienenen
Anthologie Theater Theater – die am


  1. November 2019 zum ersten Mal unter dem
    neuen Titel erscheinen wird.


G


anz Tschechien ist in Trauer.
Die Regierung überlegt, ein
Staatsbegräbnis zu veranstal-
ten und einen Staatstrauertag
auszurufen. Die Fahnen wehen schon
jetzt an vielen Orten auf halbmast, auch
auf der Prager Burg, dem Sitz des Präsi-
denten. Sogar der historische Veitsdom
war für die Trauerfeier im Gespräch. Das
wäre sehr ungewöhnlich, denn in der Ge-
schichte des Landes geschah es nur zwei
Mal: 2011, als Václav Havel starb. Und
1875 nach dem Tod des österreichischen
Kaisers Ferdinand I.
Einige Bürger halten diese Ideen für
übertrieben und fragen sich, warum
nicht schon zuvor ein anderer Tscheche
von Weltrang, zum Beispiel der Filmre-

gisseur Miloš Forman, so gewürdigt wur-
de. Kritiker werfen dem Premierminister
Andrej Babiš Populismus vor.
Doch Babiš weiß ganz genau, dass Ka-
rel Gott für viele im Land weit mehr als
nur ein bekannter Sänger ist, eine Ikone,
ein Heiliger im Land der Atheisten.
Denn wir Tschechen gehen viel seltener
in die Kirche als unsere polnischen, slo-
wakischen oder bayerischen Nachbarn.
Und doch heißt es nicht, dass wir nicht
an etwas glauben. Der eine glaubt an
Bier. Der andere an den einen oder ande-
ren privaten Gott. Doch die meisten an
Karel Gott. Der Sänger galt als unsterb-
lich. Als am Mittwoch sein Tod bekannt-
wurde, unterbrach das Tschechische
Fernsehen das Programm. Immer wieder
flimmerten die Bilder von seiner Villa in
Prag über den Bildschirm, vor der sich
seine Fans versammelten. Sie zündeten
Kerzen an und brachten Blumen mit.
Und viele Erinnerungen.
Die erfolgreiche Karriere von Karel
Gott begann in den frühen sechziger Jah-
ren. Der gelernte Elektrotechniker, gebo-
ren am 14. Juli 1939 in Pilsen, erklomm
sogleich die Hitparaden mit seinen ers-
ten Songs. Darunter einige Covers, aber
auch Singles, geschrieben von Jiří Suchý
und Jiří Šlitr vom legendären Prager
Theater Semafor. Für manche sind es bis

heute seine besten Lieder, da die Texte
eine gewisse Melancholie mit viel Witz
und Ironie verbinden.
Im geschichtsträchtigen Jahr 1968 war
er schon ein Star. Und das nicht nur in
der Tschechoslowakei, sondern auch im
Westen. Im Sommer drehte ein amerika-
nisches Team in Prag einen Dokumentar-
film über den Prager Frühling. Später be-
kam er den Titel „Czechoslovakia: Por-
trait of a Tragedy“. Gleich am Anfang
hat auch Karel Gott seinen Auftritt. Er
lehnt entspannt am Geländer der Karls-
brücke und schaut gelassen in die Kame-
ra. „Als Sänger treffe ich viele junge Men-
schen. Und ich empfinde eine neue At-
mosphäre von Hoffnung und Optimis-
mus“" beantwortet er die Frage, wie die
junge Generation die politischen Verän-
derungen in der Tschechoslowakei wahr-
nimmt. Gott versuchte immer, seine
Kunst und Person von der Politik zu tren-
nen. Doch das ist ihm nie gelungen. Das
war schlichtweg unmöglich. Gott war
vor 1989 der größte Star der Tschechoslo-
wakei, vielleicht des ganzen Ostblocks.
Kurz nach dem sowjetischen Einmarsch
1968 spielte Gott mit dem Gedanken, im
Westen zu bleiben. Doch dann kehrte er
nach Prag zurück. Anders als die meisten
seiner Landsleute durfte er jederzeit ins
Ausland reisen, und das kommunistische

Regime konnte sich mit ihm schmücken.
1977 stellte er sich mit etlichen regime-
treuen Künstlern gegen die Bürgerbewe-
gung Charta 77 von Václav Havel und Pa-
vel Kohout und unterzeichnete die soge-
nannte Anticharta, was ihm bis heute vie-
le vorwerfen. Andererseits unterstützte
er insgeheim einige Dissidenten und ver-
botene Musiker, wie später bekanntwur-
de. Und im November 1989 stand er auf
dem Wenzelsplatz und sang zusammen
mit dem bis dato verbotenen Liederma-
cher Karel Kryl die Nationalhymne. Das
war eine große Geste der Versöhnung.
Uns Tschechen bringt er zusammen, ob
wir wollen oder nicht. Man muss seine
Lieder nicht mögen. Man kann ihm seine
Regimetreue vorwerfen, seinen Opportu-
nismus. Man kann auch über die Ver-
schwörungstheorien schmunzeln, denen
er sich vor allem in seinen letzten Jahren
zuwendete. Doch man kann seine Rolle
für uns alle nicht ausblenden.
Seinen letzten Song „Die Herzen erlö-
schen nicht“ sang Karel Gott mit seiner
Tochter Charlotte. Es ist ein sehr per-
sönliches Duett. Sie singen über Gott
und Tod, über die Vergänglichkeit des
Lebens, über die Liebe, ein schönes,
würdiges Abschiedslied. Am Dienstag
ist Karel Gott achtzigjährig in Prag ge-
storben. JAROSLAV RUDIŠ

Ein schönes, würdiges Abschiedslied

„Wie ein ewig dauerndes Klangwunder“
soll es klingen. So erklärte der Cellist
László Fenyö einem sechzehnjährigen
Studenten das, was er ihm gerade vorge-
spielt hatte. Es war eindeutig nicht al-
lein der Winkel der Bogenhaare auf den
Saiten, sondern auch die Energie der Be-
wegung und die gestalterische Vision da-
hinter, die zum eindringlichen Aus-
druck führten. Am Ende der täglichen
Workshop-Reihe während des Festivals
drückte er das aus, was die Arbeit an der
Kronberg Academy generell ausmacht:
die Offenbarung von Wegen zur höhe-
ren Interpretationskunst. Jungen, beson-
ders begabten Musikern wird hier er-
möglicht, sich im Austausch mit weltbe-
kannten Künstlern in Workshops oder
durch gemeinsame Auftritte künstle-
risch weiterzuentwickeln. Vorbildlich
war zudem László Fenyös kurzfristiges
Einspringen für Truls Mørk mit unverän-
dertem Programm samt Beethovens letz-
ter Cellosonate.
Die feierlichen Anlässe häuften sich in
diesem Jahr bei der vierzehnten Ausgabe
der Kronberger Biennale. Die Über-
schrift „Searching for Ludwig“ definierte
die Thematik zum Auftakt des Beetho-
venjahrs 2020. Musikalisch gedacht wur-
de von Gidon Kremer und der Kremera-
ta Baltica auch des diesjährigen hunderts-
ten Geburtstags von Mieczysław Wein-
berg. Das Debüt des Chamber Orchestra
of Europe in Kronberg war zugleich das
hundertste Konzert des Orchesters unter
der Leitung von Sir András Schiff, eine
exklusive Veranstaltung war dem fünf-
undzwanzigjährigen Bestehen des Ver-
eins der Freunde und Förderer der Kron-
berg Academy gewidmet, und das Richt-
fest des Casals Forums stand im Mittel-
punkt des gesamten Festivals.
Trotz so unterschiedlicher Aspekte ge-
lang es Friedemann Eichhorn, selbst Gei-
ger und Musikwissenschaftler, ein in sich
stimmiges Programm mit einfallsreich ge-
setzten Akzenten zu konzipieren. Wir-
kungsstark entfalteten sich überraschen-

de Zusammenhänge und machten tief-
gründige, vielgestaltige Einsichten in
Beethovens komplexe musikalische und
menschliche Persönlichkeit möglich. Spe-
ziell für das Festival geplant und vorberei-
tet, war jedes Konzert ein Unikat.
Über verschiedene Konzerte verteilt
hörte man die fünf Cellosonaten Beetho-
vens wie beispielsweise die erste in
F-Dur op. 5 Nr. 1 und die dritte in A-Dur
op. 69 mit Steven Isserlis im Duo mit
zwei jungen Solisten, die beide an der
Kronberg Academy im Rahmen des „Sir
András Schiff Performance Programme
for Young Pianists“ studieren. Da schien
das Adagio sostenuto der frühen Sonate
mit Mishka Rushdie Momen am Klavier
wie ein Lauschen ins Reich der Töne zu
beginnen, um dann die Läufe des Allegro
perlen zu lassen im Wechsel von freudi-
gen, heroischen und reflexiven Stimmun-
gen. In der A-Dur-Sonate zeigte der Pia-
nist Jean-Sélim Abdelmoula viel Sinn für
musikalische Charaktere und unterstütz-

te den edlen Klang des Cellos besonders
in poetisch anmutenden Momenten.
Aphoristische Miniaturen von György
Kurtág für Cello solo lagen hier zwi-
schen den Sonaten wie ätherische Klang-
juwelen. Sir András Schiff war am Pult
des Chamber Orchestra of Europe zu er-
leben, aber auch als Klavierpartner, je-
weils mit verschiedenen hervorragenden
jungen Solisten aus der Akademie, die er
mit tragender und inspirierender künstle-
rischer Präsenz auf der Bühne unterstütz-
te.
Drei neue Werke, die deutlich mach-
ten, dass die Musik als eine unmittelbar
verständliche Sprache weiterlebt und aus
sich selbst heraus eine Zukunft hat, ka-
men durch Kompositionsaufträge zur Ur-
aufführung. Sie ließen einmal mehr
Kronberg als einen Ort erkennen, „wo
die Musik nicht durchreist, sondern ent-
steht“, wie Raimund Trenkler, Gründer
und Leiter der Academy, betonte. Sicher-
lich trug hier die Unterstützung von
Sponsoren wie die Jubiläumsgesellschaft

der Bundesregierung BTHVN2020 und
das Kulturfonds Frankfurt RheinMain
wesentlich zur Realisierung bei.
Johannes X. Schachtners Konzertante
Strophen für Violine, Violoncello und
Streichorchester „Mehr Ausdruck der
Empfindung als Malerei“, inspiriert von
Beethovens pastoralen Symphonien und
dessen Haltung zur Natur und den Mit-
menschen, kam unter der Leitung des
Komponisten durch Kremerata Baltica
mit Marie-Astrid Hulot und Claudio Bo-
hórquez als Solisten zu Gehör. Zwölf Sta-
tionen, die gleichsam einen Weg durch
alle Tonarten beschreiten, bis hin zum
„utopischen“ C-Dur, scheinen vor allem
in den tonal instabilen Übergängen mit
lautmalenden Naturgeräuschen über den
Klang selbst als Naturphänomen zu re-
flektieren.
Moritz Eggert bezog in vier Konzerten
auf jede der zehn Violinsonaten Beetho-
vens ein kurzes Stück für Solovioline, das
vor der jeweiligen Sonate erklang. Unter
dem Titel „Mir mit Dir“, zeigte er einen
höchst originellen Umgang mit der Tona-
lität und mit traditionellen Satztechni-
ken, zugleich immer den Kern der Aussa-
ge Beethovens reflektierend.
Nie erfüllte Sehnsüchte Beethovens in-
spirierten Jüri Reinvere zu seinem Vio-
loncellokonzert „Inter Lacrimas et
Luctum“, das im markanten Abschluss-
konzert des Ensemble Modern mit Fuad
Ibrahimov am Pult und mit Jean-Guihen
Queyras als Solist zum ersten Mal er-
klang. Der Komponist bereitet gerade
auch die Uraufführung seiner Oper „Mi-
nona“ vor, die um die Tochter von Jose-
phine, geborene Brunswick, kreist und
diese in Beziehung zu Beethovens Brief
an die „Unsterbliche Geliebte“ setzt.
Eine emotionale, sehr persönliche Spra-
che führte hier suggestiv in eine Welt, in
der die gesangliche Cellostimme wie aus
Schichten der Erinnerung emporstieg.
Weiße Klänge des Orchesters brachten
sie wie ein Windhauch ein, um dann mit-
reißende Stimmungen zu durchleben
und schließlich wie ein Hauch wieder ins
Jenseits zu entrinnen. ANA POPESCU

Eine Quote für


neue Dramatik!


Nicht nur das alte, auch das neue Drama lebt: Ein Aufruf


zur Stärkung der zeitgenössischen Dramatik


Die Schriftstellerin und Übersetzerin Na-
tascha Wodin erhält in diesem Jahr den
Hilde-Domin-Preis der Stadt Heidelberg.
Die alle drei Jahre verliehene Auszeich-
nung würdigt die Werke von Schriftstel-
lern, die in Deutschland im Exil leben
oder als Nachkommen von Exilanten die-
ses Thema zu ihrem literarischen Gegen-
stand gemacht haben.
Natascha Wodin wurde 1945 als Kind
zweier sowjetischer Zwangsarbeiter, die
nach Kriegsende in Bayern blieben, gebo-
ren; in ihren Büchern, zuletzt dem mit
dem Preis der Leipziger Buchmesse aus-

gezeichneten „Sie kam aus Mariupol“
und erst kürzlich auch in „Irgendwo in
diesem Dunkel“ (beide Rowohlt Verlag),
erzählt sie von ihren eigenen Erfahrun-
gen bei der Suche nach ihrer leidvollen
Familiengeschichte und bei der Anpas-
sung ans deutsche Leben. Die Jury wür-
digt mit ihrem Entscheid, dass Wodins
Bücher „von der Rettung durch Sprache
gezeichnet“ sind. Sie entziehen sich „al-
len Migrations-Schablonen und leicht-
gängigen Zuschreibungen“. Der mit
15000 Euro dotierte Preis, der nach der
Schriftstellerin und Heidelberger Ehren-
bürgerin Hilde Domin benannt ist, die
im Exil die Nazi-Zeit überlebte, wird Na-
tascha Wodin voraussichtlich im Dezem-
ber verliehen. F.A.Z.

Mit jungen Solisten auf der Suche nach Ludwig


Das Kronberg Academy Festival näherte sich einfallsreich der komplexen Persönlichkeit Beethovens


Retten durch Sprache


Domin-Preis an Natascha Wodin


Unpolitische Musik von


einer wider Willen


politischen Figur kann


ein Land in Trauer


einen: Zum Tod des


Sängers Karel Gott


Als die Leute in seiner Heimat noch nicht selbst entscheiden konnten, wem sie ihre Stimme geben sollten, war seine schon unüberhörbar: Karel Gott Foto dpa


Nachtkonzert mit Marc Bouchkov (vorne, Violine), Adrien Boisseau (Mitte hinten,
Viola) und Kian Soltani (hinten rechts, Violoncello) Foto Patricia Truchsess
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