Frankfurter Allgemeine Zeitung - 04.10.2019

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SEITE 2·FREITAG, 4. OKTOBER 2019·NR. 230 F P M Politik FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


Johnson sollte einen vernünftigen Vertrag schließen
Die Londoner „Financial Times“ schreibt zu den neu-
en Brexit-Vorschlägen des britischen Premierministers
Boris Johnson:
„Die neuen Pläne der Konservativen schaffen nicht
nur eine, sondern gleich zwei Grenzen, mit einer ‚regula-
torischen‘ Barriere in der Irischen See zwischen Ost und
West. Johnson sollte sich der Realität stellen. Konfronta-
tion, verfassungsrechtliche Verrenkungen und ein Aus-
tritt ohne Abkommen würden Großbritannien immen-
sen Schaden zufügen. Die Erniedrigung, eine abermali-
ge Brexit-Verschiebung beantragen zu müssen, würde
schnell verblassen, wenn der Premierminister dann ei-
nen vernünftigen Vertrag schließen könnte.“


Johnson verteilt die Risiken sehr ungleich
Die Zeitung „Irish Independent“ aus Dublin kommen-
tiert die Pläne von Boris Johnson so:
„Die Brexit-Befürworter haben Angst, dass das Verei-
nigte Königreich auf unbestimmte Zeit in diesem Schwe-
bezustand gefangen sein könnte. Aber sie haben kein Pro-


blem damit, Nordirland in diese Lage zu bringen. Die Ab-
lehnung der neuen Vorschläge könnte zu einem harten
EU-Austritt führen. Aber die Akzeptanz der Pläne könn-
te die gleichen negativen Folgen haben. Der britische Pre-
mier behauptet, sein Vorhaben sei vernünftig. Die Risi-
ken scheinen aber sehr ungleich verteilt.“

Das Brexit-Hin-und-Her zermürbt die EU
Zu den neuen Brexit-Plänen meint die spanische Zei-
tung „El Mundo“:
„Der Fünf-Punkte-Plan von Johnson wird von West-
minster kaum akzeptiert werden. Die Respektierung des
Karfreitagsabkommens – das die Errichtung einer inner-
irischen Grenze verhindert – scheint unvereinbar mit
dem Vorhaben, dass Nordirland vier Jahre lang mit ei-
nem Fuß in der EU bleibt. In einem hat Johnson aber
recht: Knapp dreieinhalb Jahre nach dem von David Ca-
meron initiierten Referendum ,beginnen die Menschen
zu denken, dass wir sie für dumm verkaufen‘. Angesichts
einer drohenden neuen Wirtschaftskrise und des Miss-
trauens der internationalen Anleger führt die Tatsache,

dass es beim Brexit keine Einigung gibt, zu einer großen
Zermürbung bei den Staaten und den Bürgern der EU.“

Johnson muss sich aus dem Brexit-Käfig befreien
Der australische „Sydney Herald Morning“ befasst
sich ebenfalls mit dem bevorstehenden Brexit:
„Johnson weiß, dass er den Brexit erfolgreich hinter
sich bringen muss, um sich selbst aus dem ‚Brexit-Käfig‘
zu befreien. Nur dann kann er wieder der Boris werden,
der England für sich gewinnen kann.“

Peking sollte seine Öffnungspolitik fortsetzen
Die Zeitung „Lianhe Zaobao“ aus Singapur kommen-
tiert den 70. Jahrestag der Gründung der Volksrepu-
blik China:
„Wegen des geschichtlichen Erbes, des politischen Sys-
tems und der dahinterstehenden Ideologie ist die weitere
Entwicklung alles andere als folgerichtig. Das künftige
Verhalten Pekings gegenüber Hongkong und Taiwan
wird Auswirkungen auf die gesamte Region haben. Das
Gleiche gilt für die globale Seidenstraßenstrategie. Chi-

na braucht wohl einen längeren Gewöhnungsprozess,
um in seiner neuen Rolle als Weltmacht aufgehen zu kön-
nen. Nur wenn es die Reform- und Öffnungspolitik fort-
setzt, auf Hegemonialstreben und militärische Mittel ver-
zichtet und stattdessen andere mit seinem moralischen
Wertesystem überzeugen kann, wird dies auch gelingen.“

Die Menschen in Peru zahlen einen hohen Preis
Zum Machtkampf in Peru schreibt die brasilianische
Zeitung „O Globo“:
„Peru steckt in einer tiefen und ernsten Krise, nach-
dem Präsident Vizcarra erst das Parlament aufgelöst und
Neuwahlen angesetzt hat, bevor er selbst wegen ,morali-
scher Unfähigkeit‘ vom Parlament abgesetzt wurde. Das
Land steckt in einer Krise, bei der alle nur verlieren kön-
nen. Den Hintergrund des Konflikts bildet der Korrup-
tionsskandal um den brasilianischen Baukonzern Ode-
brecht. Vor mehreren Monaten wurden außerdem schwe-
re Korruptionsvorwürfe gegen die Justiz selbst laut. Erste
wirtschaftliche Konsequenzen zeichnen sich bereits ab.
Der Preis für die Menschen könnte also hoch ausfallen.“

STIMMEN DER ANDEREN


WIEN, 3. Oktober. Regierungspolitiker
kennen keine freien Tage, aber wenn sich
ein deutscher Innenminister ausgerechnet
am Tag der Deutschen Einheit auf Aus-
landsreise begibt, muss schon etwas Be-
sonderes anstehen. Das hatte Bundesin-
nenminister Horst Seehofer (CSU) vor sei-
nen Gesprächen in Ankara am Donners-
tag sowie in Athen an diesem Freitag auch
durchaus deutlich gemacht. „Für die Mi-
gration entlang der Westbalkanroute sind
die Türkei und Griechenland von strate-
gisch wichtiger Bedeutung“, hatte er mit
besorgtem Blick auf die zuletzt deutlich
steigenden Ankunftszahlen irregulärer Mi-
granten auf den griechischen Ägäis-Inseln
bemerkt. Nicht nur in Berlin wird die
jüngste Entwicklung mit Sorge gesehen,
wie schon der Umstand zeigt, dass der
deutsche Innenminister die Reise gemein-
sam mit seinem französischen Gegenpart
Christophe Castaner unternimmt.
Die Zahl der auf den Inseln ankommen-
den irregulären Migranten steigt seit Wo-
chen. Laut Angaben der Vereinten Natio-
nen kamen seit Jahresbeginn bisher fast
36 000 Migranten dort an, weitere knapp
10 000 erreichten die EU über die grie-
chisch-türkische Landgrenze in Thrakien.
Zwar sind das immer noch weniger als
vor Inkrafttreten des EU-Türkei-Abkom-
mens zur Steuerung der irregulären Mi-
gration, das formal sei März 2016 gilt.
Aber es sind mehr als genug, um das grie-
chische Asylsystem vollkommen zu über-
fordern. Das EU-Türkei-Abkommen steht
damit vor dem Kollaps.
Die Vereinbarung basiert im Kern auf
der Errichtung einer psychologischen Bar-


riere: Sie sieht vor, dass alle irregulären
Migranten, die seit dem 20. März 2016
auf den Inseln ankommen (für die Land-
grenze gilt das Abkommen nicht) unter
bestimmten Bedingungen in die Türkei
zurückgeschickt werden können. Zwar
wird ihnen weiterhin das Recht zugestan-
den, in Griechenland Asyl zu beantragen.
Bei einer Ablehnung – etwa mit dem Hin-
weis, dass die Antragsteller bereits in der
Türkei sicher gewesen seien – dürfen die
Betroffenen aber dorthin zurückgeschickt
werden. Nur kommen inzwischen fast täg-
lich mehr irreguläre Migranten auf den In-
seln an, als Griechenland in einem Monat
Asylanträge bearbeiten kann. Um die völ-
lig überfüllten Lager auf den Inseln zu ent-
lasten, hat die griechische Regierung be-
reits mehrfach Migranten mit Fähren an
Land gebracht – doch sobald sie dort
sind, gilt das EU-Türkei-Abkommen für
sie nicht mehr. Die Türkei müsste sie also
selbst dann nicht mehr zurücknehmen,
wenn ihre Asylanträge abgelehnt werden.
Damit steht die psychologische Barrie-
re des EU-Türkei-Abkommens vor der Auf-
lösung. Jede Fähre, die Migranten auf das
griechische Festland bringt, ist eine Bot-
schaft an Millionen Afghanen, Syrer, Kon-
golesen und andere potentielle Migranten
in der Türkei oder anderswo, dass sich die
Überfahrt von der türkischen Küste aus
wieder lohnen kann, da die griechischen
Inseln nicht länger die Endstation der Rei-
se sind.
Die Sogwirkung dieser Botschaft ist ein-
deutig. Was Athen derzeit aus der Not her-
aus unternimmt, nämlich immer wieder
Migranten ans Festland zu bringen, ist

kurzfristig humanitär geboten. Es wird
aber nicht mehr lange dauern, bis Grie-
chenland nicht nur auf den Inseln, son-
dern auch am Festland mit der Unterbrin-
gung der Migranten überfordert ist.
Auf der ersten Station ihrer Reise stand
für Seehofer und Castaner am Donners-
tag unter anderem ein Gespräch mit Sü-
leyman Soylu an, der in Ankara das Res-
sort Inneres leitet und als Vertrauter des
türkischen Staatspräsidenten Recep Tay-
yip Erdogan gilt. Die Türkei hatte schon
vor der Ankunft der beiden Minister über
verschiedene Kanäle deutlich gemacht,
was sie sich von der EU erwartet. Die
bald direkt, bald mittelbar vorgetragenen
Forderungen reichen von Visaerleichte-
rungen (wie im EU-Türkei-Abkommen
vorgesehen) über eine deutliche Aufsto-
ckung der Finanzhilfen für die Flüchtlin-
ge bis zu einer Unterstützung von Erdo-
gans seit Jahren gehegtem Plan zum Auf-
bau einer „Schutzzone“ im Norden Sy-
riens. Die Schutzzone soll aus Sicht der
Türkei einen mit arabischen Sunniten zu
besiedelnden Cordon sanitaire gegen die
syrischen Kurden bilden.
Ömer Celik, Sprecher von Erdogans Re-
gierungspartei AKP, machte dieser Tage
deutlich, dass es sich bei den türkischen
Begehren nach mehr Finanzhilfen nicht
um Bitten, sondern um Forderungen han-
dele. Die Zahlungen für die in der Türkei
lebenden Flüchtlinge seien nicht etwa ein
Akt des Wohlwollens, sondern eine euro-
päische Verpflichtung gegenüber der Tür-
kei, sagte Celik und ergänzte: „Die Türkei
ist nicht das Flüchtlingslager irgendeines
anderen Landes.“ Erdogan war unlängst
noch deutlicher geworden, als er drohte,

bei Ausbleiben einer angemessenen euro-
päischen Unterstützung eine neue Flücht-
lingswelle auf Europa loszulassen. Geld
oder Leben – so ließe sich die türkische
Forderung zusammenfassen. Dabei geht
es längst nicht mehr um syrische Flücht-
linge allein. Afghanen stellen mit fast 40
Prozent inzwischen die mit Abstand größ-
te Gruppe der irregulären Migranten auf
den griechischen Inseln. Erst an zweiter
Stelle stehen Syrer mit etwa 20 Prozent,
gefolgt von Migranten aus dem Kongo
und Irak sowie Palästinensern.
In Athen werden die beiden Innenmi-
nister an diesem Freitag mit anderen
Wünschen konfrontiert werden. Kyriakos
Mitsotakis wusste seit mindestens einem
Jahr, dass er die Parlamentswahl gegen
seinen Vorgänger Alexis Tsipras wohl ge-
winnen würde. Noch zu Oppositionszei-
ten hat er sich mit seinem Schattenkabi-
nett akribisch auf alle zu erwartenden
Großthemen vorbereitet, so auch auf das
Migrationsdossier. Der heutige Außenmi-
nister Nikos Dendias und der nun im Kabi-
nett für Migration zuständige Minister
Giorgos Koumoutsakos trafen in Athen
dafür den Migrationsfachmann Gerald
Knaus, der als „Erfinder“ des EU-Türkei-
Pakts gilt. Aus späteren Aussagen von Mit-
sotakis und Koumoutsakos wurde deut-
lich, dass die neue Regierung Knaus’ Ana-
lyse der Mängel bei der Durchsetzung des
Abkommens teilt und deren Ergebnisse
in ihre Politik einfließen lassen will.
Dazu gehört die Einsicht, dass der ur-
sprünglich in dem Abkommen genannte
Stichtag, von dem an irreguläre Migran-
ten in die Türkei zurückgeschickt werden
sollen, also der 20. März 2016, aufgrund

des hohen Rückstaus an unbearbeiteten
Fällen nicht mehr zu halten ist. Ein neuer
Stichtag werde benötigt, heißt es dazu aus
berufenem Munde in Athen. Aber eine
neue Zäsur festzulegen sei erst sinnvoll,
wenn das griechische Asylsystem zuvor
mit personeller Unterstützung aus ande-
ren EU-Staaten in die Lage versetzt wor-
den sei, über Asylanträge dann auch
rasch zu entscheiden. Andernfalls werde
der neue Stichtag nur dazu führen, dass
sich nach einigen Monaten wiederum vie-
le Tausende unbearbeitete oder schweben-
de Fälle in der griechischen Asylbehörde
türmten und die neuankommenden Fälle
nicht rasch bearbeitet werden könnten.
Koumoutsakos, der in dieser Sache
auch mit Angela Merkels außenpoliti-
schem Berater Jan Hecker in Verbindung
steht, spricht von Personalmangel und
überlangen Bearbeitungsfristen in der
griechischen Asylbehörde. Es müsse ge-
lingen, insbesondere die Berufungsverfah-
ren abgelehnter Asylbewerber zu be-
schleunigen, so Koumoutsakos. Dazu
müsste indes zunächst einmal ein Plan
vorliegen, wie viele zusätzliche Ressour-
cen die griechischen Stellen überhaupt
brauchten, um das derzeitige Aufkom-
men rasch zu bearbeiten. Zumindest für
eine Übergangszeit wäre die Asylbehörde
darauf angewiesen, dass aus anderen Mit-
gliedstaaten abgestellte Beamte sie in ih-
rer Arbeit unterstützen. „Das wäre auch
im Interesse unserer Partner in Europa –
denn letztlich würden die entsandten Be-
amten ja Fälle bearbeiten, die andernfalls
ohnehin auf ihren Tischen landen wür-
den“, heißt es dazu aus gut informierter
Quelle in Athen.

BEIRUT, 3. Oktober. Für gewöhnlich
sind es die Sommermonate, in denen
die Iraker ihrer Wut auf der Straße Luft
machen. Wenn die Hitze unerträglich
ist und die ständigen Stromausfälle und
die schlechte Wasserversorgung ihnen
noch härter zusetzen als üblich. Dass
jetzt, da die Temperaturen abklingen,
in mehreren Städten der Unmut über
die Korruption, den dysfunktionalen
Staat und die Arbeits- wie Perspektivlo-
sigkeit überkocht, ist ein deutliches Sig-
nal an die Regierung. Ebenso die Slo-
gans, die den „Sturz des Regimes“ ver-
langten und aus den Tagen der arabi-
schen Aufstände von 2011 herrühren.
Es kam zu heftigen Zusammenstö-
ßen, bei denen nach UN-Angaben 25
Personen ums Leben kamen und annä-
hernd 1500 verletzt wurden. Unter den
Toten waren demnach 23 Zivilisten so-
wie zwei Mitglieder der Sicherheitskräf-
te. In mehreren Städten im Südirak,
aber auch in der Hauptstadt Bagdad
gilt bis auf weiteres eine Ausgangssper-
re. Die Organisation „Netblocks“ mel-
dete am Donnerstagmorgen eine flä-
chendeckende Blockade des Internets,
in dem Aufrufe zu Protesten verbreitet
worden waren. Etwa drei Viertel des
Landes seien „offline“, inklusive der
Hauptstadt. Bewohner Bagdads bestä-
tigten das.
Die Proteste und die Gewalt waren
am Dienstag ausgebrochen, am Mitt-
woch gab es dann abermals Demonstra-
tionen, die zum Teil zu gewalttätigen
Auseinandersetzungen eskalierten. Im
Süden des Landes verloren die Sicher-
heitskräfte mancherorts die Kontrolle,
und Demonstranten besetzten Regie-
rungsgebäude. In Bagdad gab es eben-
falls Szenen des Chaos und schwere
Krawalle. Die Sicherheitskräfte gingen
schon am Dienstag mit harter Hand ge-
gen Demonstranten vor, die versuch-
ten, in die „Grüne Zone“ vordringen, in
der viele Regierungsgebäude und aus-
ländische Botschaften liegen. Sie setz-
ten Tränengas ein, später laut Augen-
zeugenberichten auch scharfe Muniti-
on. Am Mittwoch gab es neue Gewalt
im Zentrum, ebenso in Unterschichten-
vierteln am Rande der Hauptstadt. Das
Verteidigungsministerium versetzte die
Streitkräfte in Alarmbereitschaft. Der
zentrale „Platz der Befreiung“, wo sich
die Leute gewöhnlich zu Protesten ver-
sammeln, wurde abgeriegelt. Am Don-
nerstagmorgen schossen die Sicher-
heitskräfte dort in die Luft, um Dutzen-
de Demonstranten zu vertreiben, die
sich der Ausgangssperre widersetzt hat-
ten. Mindestens fünf Personen wurden
bei Zusammenstößen im ganzen Land
getötet.
Zu dem Chaos durch die Proteste hin-
zu kamen dann noch Meldungen aus
der Nacht zum Donnerstag über Explo-
sionen aus der Grünen Zone, bei denen
es sich offenbar um Raketeneinschläge
handelte. Ein Sprecher der amerika-
nisch geführten Anti-IS-Koalition teilte
am Donnerstag mit, Militäranlagen der
Koalition seien nicht getroffen worden.
Er bekräftigte zugleich: „Die Truppen
der Koalition behalten sich immer das
Recht vor, sich zu verteidigen. Angriffe
auf unser Personal werden nicht tole-
riert.“ Für die irakische Führung war
damit eine zusätzliche Baustelle eröff-
net, denn im Zuge solcher Vorfälle rich-
tet sich der erste Verdacht gegen schiiti-
sche Milizen, die von Iran gelenkt wer-
den und im Auftrag Teherans die ameri-
kanischen Militärs und Diplomaten mit
Nadelstichen traktieren. Vor knapp
zwei Wochen waren Katjuscha-Rake-
ten nahe dem amerikanischen Bot-
schaftsgelände eingeschlagen. Die iraki-
sche Regierung sitzt im iranisch-ameri-
kanischen Konflikt zwischen den Stüh-
len. Sie braucht sowohl Teheran als
auch Washington als Partner. Beide
Mächte verfügen über großen Einfluss.
Vor allem aber muss Regierungschef
Adel Abdul Mahdi den Volkszorn beru-
higen. Muqtada al Sadr, der schiitische
Prediger, der jederzeit die Massen mobi-
lisieren kann und sich als Anwalt der
Vernachlässigten inszeniert, hat zu ei-
nem friedlichen Generalstreik aufgeru-
fen. Mahdis Vorgänger Haider al Abadi
war vor allem auch an den Protesten ge-
scheitert, die im vergangenen Jahr die
südirakische Stadt Basra erschüttert
hatten. Am Mittwochmorgen rief der
Ministerpräsident den Nationalen Si-
cherheitsrat zu einer Dringlichkeitssit-
zung zusammen, in der er die „legiti-
men Forderungen“ der Demonstranten
anerkannte und zugleich den „Vandalis-
mus“ verurteilte. Die Opfer unter den
Demonstranten und den Sicherheits-
kräften, die Zerstörungen und Plünde-
rungen würden ihm das „Herz bre-
chen“, erklärte Mahdi. Den Irakern ver-
sicherte er, die Regierung konzentriere
sich darauf, Lösungen für „über Jahr-
zehnte angehäufte Probleme“ zu fin-
den.
Tatsächlich hat die Korruption im
Irak so tiefe Wurzeln geschlagen, dass
führende Politiker zugeben, sie sei bes-
tenfalls einzuhegen. Noch immer sind
Teile des Landes zerstört durch den lan-
gen Krieg gegen den IS. Einige der schii-
tischen Milizen, die unter dem Dach
der „Volksmobilisierung“ (Haschd al
schaabi) gegen die Dschihadisten zu
Felde gezogen waren, haben ihre
Macht aus- und mafiahafte Wirtschafts-
imperien aufgebaut.

LONDON/BRÜSSEL, 3. Oktober


E


s war ein verwandelter Premier-
minister, der sich am Donnerstag
im Unterhaus präsentierte. Das
Wahlkämpferische, zuweilen Aggressive,
das Boris Johnson in den vergangenen
Wochen an den Tag gelegt hatte, wich ei-
nem besonnenen, auf Ausgleich gerichte-
ten Ton. Nachdem Oppositionschef Jere-
my Corbyn Johnsons Verhandlungsange-
bot an Brüssel scharf kritisiert und als
„Trump-Deal-Brexit“ zurückgewiesen hat-
te, holte Johnson nicht zum üblichen Ge-
genangriff aus, sondern sagte ruhig: „Ich
bin enttäuscht von diesem Ton, denn ich
glaube, dass dies eine sehr gute Grundla-
ge für einen Deal ist.“
Johnson ist im Werbemodus. Er
braucht auch Stimmen aus den Reihen
der Opposition, wenn er einen neuen Bre-
xit-Vertrag durchs Parlament bringen
will. Von den schottischen Nationalisten
und den Liberaldemokraten hat er nichts
zu erwarten; sie sind grundsätzlich gegen
den Brexit und würden gar keinem Deal
zustimmen. Seine Hoffnung liegt auf je-
nen Labour-Abgeordneten, die den Aus-
tritt aus der EU lieber früher als später
hinter sich bringen wollen und bereit
sind, aus der Fraktionsdisziplin auszu-
scheren. Dass Corbyn versucht, seine Rei-
hen geschlossen zu halten, machte er in ei-
nem Satz deutlich: „Kein Labour-Abge-
ordneter kann einen derart unverantwort-
lichen Deal unterstützen.“ Dieser gefähr-
de das nordirische Friedensabkommen
und obendrein das Niveau der Arbeitneh-
mer- und Umweltrechte im Königreich, ar-
gumentierte Corbyn.
Einige Labour-Abgeordnete und Unab-
hängige werden ihre Bedenken jedoch
dem Ziel unterordnen, mit Hilfe eines
neuen Abkommens den Brexit mit dem
Segen der EU endlich zu vollziehen. De-
ren Zahl wird auf mindestens zwanzig ge-
schätzt, was Johnson eine realistische
Chance gibt, einen Deal über die Hürden
zu bringen. Denn anders als unter There-


sa May äußern sich die Erz-Brexiteers in
der Tory-Fraktion und auch die Abgeord-
neten der nordirischen Democratic Unio-
nist Party (DUP) positiv. Und auch unter
den 21 Konservativen, die im September
aus der Partei ausgeschlossen wurden,
gibt es viele, die Johnsons Ansatz unter-
stützen. Der Abgeordnete Alistair Burt
sagte im Unterhaus, ein Deal sei „jetzt er-
reichbar“, wenn Johnson bei seinem neu-
en, Kompromissbereitschaft signalisie-
renden Ton bleibe.
Die „Brexit-Spartaner“ unter den Kon-
servativen lobten vor allem die perspekti-
vische Neuausrichtung, die der Vertrag
mit der EU durch die alternativen Rege-
lungen für den „Backstop“ nehme. Der
„Backstop“ sieht vor, Großbritannien
und Nordirland auf unbestimmte Zeit in
einer Zollunion mit der EU zu halten, um
so die unsichtbare Grenze auf der iri-
schen Insel zu bewahren. Nach Johnsons
Vorschlag würde das Königreich als Gan-
zes nach der (mindestens 15 Monate dau-
ernden) Übergangsphase aus der Zolluni-
on austreten, womit es ihm freistünde,
Zölle festzulegen und eigene Handelsver-
träge abzuschließen. Das war eine der
Kernforderungen des radikalen Brexit-
Flügels. Es gebe nun „guten Grund für Op-

timismus“, sagte der Abgeordnete Bern-
hard Jenkins am Donnerstag.
Um die unsichtbare Grenze zur Iri-
schen Republik zu erhalten, bietet John-
son an, Nordirland im EU-Binnenmarkt
für Güter zu halten. Damit entfielen Pro-
duktkontrollen. Das Zollproblem wieder-
um glaubt er mit Maßnahmen in den
Griff zu bekommen, die keine physischen
Kontrollen „an oder nahe der Grenze“ nö-
tig machen; am Donnerstag schloss er sie
sogar für ganz Nordirland aus. Stattdes-
sen würden notwendige Kontrollen elek-
tronisch vorgenommen, während die
meisten Großlieferanten ihre Zollerklä-
rungen selbst ausfüllen könnten. Die Be-
reitschaft, Nordirland einen Sonderstatus
einzuräumen, betrachtet Johnson als Ent-
gegenkommen an die EU. Um die DUP
mit an Bord zu bekommen, hat Johnson
vorgeschlagen, dass die Regierung und
das Parlament in Belfast der Regelung im
Laufe der Übergangsphase zustimmen
müssten – und danach alle vier Jahre eine
weitere Abstimmung abhielten. Offenbar
vertraut Johnson darauf, dass die Institu-
tionen in Belfast, die seit Januar 2017
funktionsuntüchtig sind, bis zum Ende
der Übergangsphase wieder ihre Arbeit
aufnehmen werden.

Johnson hob im Unterhaus hervor, dass
die Wahrung des nordirischen Friedensab-
kommens „die höchste aller Prioritäten“
sei. Zugleich appellierte er an die Europäi-
sche Union, auf dieser Grundlage zu ver-
handeln und bis zum Gipfeltreffen am 17.
Oktober ein Ergebnis zu erzielen. Sollte
der Prozess mit einem Austritt ohne Deal
enden, wäre dies „ein Scheitern von Staats-
kunst, für das alle Seiten verantwortlich
wären“, sagte er.
Während in London die Zeichen auf Zu-
versicht standen, überwog in Brüssel wei-
ter Skepsis, ob es noch rechtzeitig vor dem
Monatsende zu einer Einigung mit Lon-
don kommen wird. Positiv vermerkte die
Europäische Kommission, dass es nun
konkrete Vorschläge gebe. Schon am Mitt-
woch hatte Kommissionspräsident Jean-
Claude Juncker nach einem Telefonat mit
Johnson zwar dessen „Entschlossenheit,
in den Gesprächen voranzukommen“, ge-
lobt. Aber er hatte auch auf „einige proble-
matische Punkte“ verwiesen, die einer Ei-
nigung im Wege stünden. Vor einer ab-
schließenden Bewertung der Vorschläge
sollen sie jedoch zunächst im Detail ge-
prüft werden.
Dennoch war am Donnerstag gegen-
über dem Vortag eine Verschärfung der

Brüsseler Tonart gegenüber London zu
spüren. Die Feststellung des britischen
Brexit-Ministers Stephen Barclay, dass
nun der Ball im Spielfeld der 27 Partner
liege, wies eine Sprecherin der Europäi-
schen Kommission reichlich undiploma-
tisch zurück. Unter Anspielung auf die aus
EU-Sicht mit den Grundsätzen der „Back-
stop“-Regelung unvereinbare, aber auf der
Grundlage des Londoner Vorschlags un-
vermeidliche Wiedereinführung von Kon-
trollen im Warenverkehr zwischen Nordir-
land und Irland stellte sie klar, dass es nun
allein an den Briten liege, ihre Vorschläge
nachzubessern. „Wir möchten Sie daran
erinnern, dass das Vereinigte Königreich
die Europäische Union verlässt, nicht aber
die EU das Vereinigte Königreich“, sagte
die Sprecherin.
Schon vor einem Telefonat Junckers
mit dem irischen Premierminister Leo Va-
radkar hieß es in Brüssel, die 27 EU-Part-
ner stünden geeint und solidarisch an der
Seite des EU-Mitglieds Irland. Nach einer
Unterredung mit seinem schwedischen
Amtskollegen Stefan Löfven sagte Varad-
kar, er könne es sich nicht ausmalen, wie
beide Teile der Insel nicht derselben Zoll-
union angehören sollten, ohne dass dies
mit Beeinträchtigungen des grenzüber-
schreitenden Warenverkehrs einhergehen
werde.
Außerdem kritisierte er den britischen
Vorschlag, es dem seit längerem nicht
mehr tagenden Regionalparlament in Bel-
fast zu überlassen, wie letztlich das irische
Grenzregime geregelt werde. Unter Hin-
weis auf die britische Argumentation,
dass es um eine demokratische Legitimie-
rung gehe, stellte Varadkar klar, ein Me-
chanismus für die Grenze zwischen Irland
und Nordirland müsse sich auf die Unter-
stützung der Bürger beider Teile der Insel
stützen.
In Brüssel hatte zuvor eine EU-Spreche-
rin bekräftigt, dass es eine Verständigung
mit London nur geben könne, wenn keine
„harte Grenze“ in Irland entstehe, das Kar-
freitagsabkommen von 1998 zur Befrie-
dung der einstigen Unruheregion gewahrt
bleibe sowie die Wirtschaft beiderseits
der Grenze sich einträchtig und gedeih-
lich entwickeln könne.
Kritisch bewertete die Vorschläge John-
sons erwartungsgemäß die Brexit-Len-
kungsgruppe des EU-Parlaments, das
dem Austrittsvertrag zustimmen muss. In
ihrer jetzigen Form bildeten sie keine
Grundlage für eine Billigung durch die Eu-
ropaabgeordneten. „Jegliche Form von
Kontrollen und Checks an der und rings-
um die Grenze würde ein Ende des rei-
bungslosen Handels bedeuten und daher
die Wirtschaft auf der gesamten Insel schä-
digen sowie ein ernsthaftes Risiko für den
Friedensprozess darstellen“, hieß es in ei-
ner Stellungnahme der Lenkungsgruppe.

Geld oder Leben in der Ägäis


Die Türkei droht mit einer Flüchtlingswelle, Griechenland braucht Hilfe – nun reist Horst Seehofer nach Ankara und Athen / Von Michael Martens


Die Wut


der Iraker


Warum die Proteste eine


neue Dimension erreichen


Von Christoph Ehrhardt


Ein Wechsel der Tonart reicht Brüssel nicht


Boris Johnsons neue


Vorschläge für einen


Brexit-Vertrag sind bei


der EU-Kommission


auf wenig Gegenliebe


gestoßen.


Von Jochen Buchsteiner


und Michael Stabenow


Sachlich bleiben:Johnson verzichtet darauf, Oppositionsführer Corbyn (links) im Unterhaus zu attackieren. Foto EPA

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