Frankfurter Allgemeine Zeitung - 04.10.2019

(lily) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Finanzen FREITAG, 4. OKTOBER 2019·NR. 230·SEITE 27


LONDON, 3.Oktober. In der City wer-
den die Lichter ausgehen, wenn die Bri-
ten für den EU-Austritt stimmen. Solche
schrillen Warnungen kursierten, als das
Brexit-Referendum vor gut drei Jahren
bevorstand. In vermeintlich seriösen
Analysen wurde von Oliver Wyman in ei-
nem Worst-Case-Szenario der Verlust
von bis zu 75 000 Arbeitsplätzen in der
Londoner Finanzbranche prognostiziert.
Auch Mark Carney, der Chef der Noten-
bank, hat ähnliche Zahlen genannt. Da-
von ist bislang fast nichts eingetreten –
und die Brexit-Befürworter tun diese ex-
trem pessimistischen Prognosen als „Pro-
ject Fear“ (die Angst-Kampagne) ab.
Neue Statistiken und Befragungen zei-
gen, wie erstaunlich gut der Finanzplatz
London sich gehalten hat, obwohl das ge-
plante EU-Austrittsdatum 31. Oktober
sehr nahe gerückt ist.
Laut einem Bericht der Beratungs-
gesellschaft EY haben Banken bislang le-
diglich 1000 Jobs aus dem Königreich in
andere EU-Länder verlegt. Und die regel-
mäßigen EY-Berichte, für die mehr als
220 Unternehmen befragt werden,
kommt auf eine Zahl von 7000 Finanz-
jobs, die „in der näheren Zukunft“ aus
London in EU-Städte verlagert werden
könnten – mit Betonung auf „könnten“.
Das ist etwas mehr als die Zahl, welche
die City of London Corporation, die Ver-


waltung und Lobbyorganisation des Fi-
nanzdistrikts, nennt. Laut City haben die
Banken insgesamt 5000 Arbeitsplatzverla-
gerungen wegen des Brexits angekündigt.
5000 Jobs sind aber nur wenig mehr
als ein Prozent der insgesamt 377 000 Ar-
beitsplätze – und dies sind hochbezahlte
Arbeitsplätze – in den Banken, Kanzlei-
en und anderen finanznahen Dienstleis-
tungsfirmen, die es laut City im Londo-
ner Finanzbezirk gibt. Nach jüngsten
Zahlen des Statistikamts ONS arbeiteten
2018 in der City 507 000 Menschen – das
waren 12 000 mehr als ein Jahr zuvor.
Die City, die auch als „The Square Mile“
(Die Quadratmeile) bezeichnet wird,
blüht also weiter, es gibt kein Anzeichen
eines Niedergangs. Auf den Straßen sieht
man Jaguar und Maserati, Lamborghini
und Bentleys in größerer Zahl fahren –
für solche Luxuskarren geben manche
Banker ihre Boni aus. Allerdings spru-
deln die Boni nicht mehr ganz so üppig.
Und in der Brexit-Befragung von EY ha-
ben fast zwei Drittel (63 Prozent) der Fi-
nanzunternehmen geäußert, sie hätten
schon daran gedacht, Arbeitsplätze aus
London in die EU zu verlagern.
Banken, die bislang in London ihren
Sitz haben, aber nach dem Brexit weiter-


hin in der EU Finanzdienste anbieten
wollen, müssen in einem EU-Land einen
offiziellen Sitz angemeldet haben. Die
meisten haben es eher diskret getan: 24
Banken haben Sitze umgemeldet, berich-
tet die EZB, darunter seien sieben „signi-
fikante“, also Großbanken; alle zusam-
men würden bis zu 1,7 Billionen Vermö-
genswerte mit sich nehmen. Und sie müs-
sen in der EU echte neue Büros (nicht
bloß „leere Hüllen“) einrichten.
Frankfurt, Paris und Dublin sind die
Hauptkonkurrenten um die Neuankömm-
linge. Die meisten Londoner Banken ha-
ben die hessische Finanzmetropole als
künftigen EU-Sitz gewählt, etwa vier von
fünf amerikanischen Großbanken (Mor-
gan Stanley, JP Morgan, Goldman Sachs
und Citigroup), während die britischen
Banken teils auch nach Paris (wie
HSBC) und Dublin (wie Barclays) gin-
gen. Laut Angaben der „Financial
Times“ haben die Großbanken einen ein-
stelligen Millardenbetrag an direkten
Kosten für Brexit-Verlagerungen gemel-
det, das ist nur ein Bruchteil der Gewin-
ne eines einzigen Quartals.
Nimmt man nur Investmentbanker, so
sind wohl die meisten Jobs nach Frank-
furt verlagert worden. Andere Einhei-
ten, Vermögensverwalter, Versicherer
und weitere Services, sind vermehrt
nach Dublin und Luxemburg verlagert
worden. Doch London blutet nicht aus.
Während Nomura, Deutsche Bank und
Credit Suisse wegen des Brexits eine er-
hebliche Zahl von Jobs in London abge-
baut haben, hat die UBS die Zahl ihrer
Mitarbeiter in der britischen Hauptstadt
seit dem Brexit-Referendum um etwa
500 erhöht, weil sie vorher ausgelagerte

Dienstleistungen wieder zurück ins
Haus genommen hat.
Viel mehr wird auch nicht mehr verla-
gert, wenn das Königreich tatsächlich
die EU verlässt, meint etwa der Europa-
Chef der Citigroup, David Livingston.
„Der Brexit ist für die City schon gesche-
hen, wir operieren schon in einer Post-
Brexit-Welt“, sagte er jüngst. Andere se-
hen doch noch große Fragezeichen: EY-
Partner John Liver etwa betont: „Wie
die Finanzindustrie letztlich aussehen
wird und wie viele Jobs verlagert wer-
den, hängt am Ende davon ab, wie die
künftigen Beziehungen zwischen EU
und Großbritannien sein werden.“ Fach-
leute sehen wegen der Unsicherheit
schon eine Dämpfung des Wachstums.
London behält trotz des Brexits – bis-
lang – seinen Rang als zweitwichtigstes
Finanzzentrum der Welt hinter New
York, ergab jüngst die jährliche Studie
des City-Thinktanks Z/Yen Partners und
des China Development Institute (CDI).
114 Finanzzentren auf der ganzen Welt
haben die Forscher unter die Lupe ge-
nommen und anhand von mehr als 130
Kriterien in ihrer Rangliste plaziert. Die
Neuausgabe zeigt allerdings, dass Lon-
don relativ etwas zurückgefallen ist.
New York hat laut der Studie seinen Füh-
rungsplatz weiter ausgebaut, und einige
andere Finanzplätze, besonders Paris,
haben aufgeholt, so dass Londons zwei-
ter Platz auf Dauer bedroht sein könnte.
Die City-Verantwortlichen zeigen sich
dennoch zufrieden mit den Ergebnissen:
„Es sind zweifellos herausfordernde Zei-
ten“, sagt Catherine McGuinness, Politik-
chefin der City of London Corporation.
„Aber London hat seinen Rang als zweit-

bestes Finanzzentrum gehalten, was die
fundamentalen Stärken zeigt.“ Die City
zeichne sich aus durch die geballte Kom-
petenz, die Sprachvorteile, die geographi-
sche Lage, das finanzielle „Ökosystem“
rundherum. Und McGuinness verweist
auch auf die jüngsten Zahlen der Bank
von England (BoE), die zeigen, dass Lon-
don seinen Spitzenplatz als Devisen-
markt gehalten hat.
Tatsächlich hat London seinen Vor-
sprung seit dem Brexit-Referendum da
noch ausgebaut. Auf London entfallen
inzwischen 43 Prozent des globalen De-
visenhandelumsatzes, so die BoE-Statis-
tik. Im April 2016, also kurz vor dem
Brexit-Referendum, waren es erst 37 Pro-
zent des globalen Devisenhandels. Je-
den Tag werden fast 3,6 Billionen Dollar
Umsatz mit Währungsgeschäften ge-
macht. Und das Übernahmeangebot der
Börse Hongkong für die Londoner Bör-
se LSE für fast 30 Milliarden Pfund, das
die Londoner bislang ablehnen, zeigt,
wie dauerhaft attraktiv der Handels-
platz gesehen wird.
Dabei sind es nicht mehr die alten Fi-
nanzriesen, die für das Wachstum sor-
gen – viele Investmentbanken haben
Stellen abgebaut in den vergangenen
Jahren. Vielmehr sind es die Neugrün-
dungen und Start-ups, die Dynamik brin-
gen. Laut City-Angaben sprießen jedes
Jahr an die 1000 Start-ups in London
neu aus dem Boden, etwa 15 Prozent da-
von sind sogenannte Fintechs. „London
hat mehr Fintech-Einhörner als San
Francisco oder jede andere europäische
Stadt“, berichtet Joe Dibben, Pressespre-
cher der City of London Corporation,
nicht ohne Stolz.

BREXIT
Wasbisher geschah – und was
noch auf uns zukommt.

Der Finanzplatz London bleibt erstaunlich lebendig


BAD HOMBURG, 3.Oktober. Es war
ein Tag, der alles veränderte: Wer sich
am Freitag, den 18. September 2015 mor-
gens noch im Besitz eines sauberen Die-
sels wähnte, wusste am Abend, dass er
eine Dreckschleuder sein Eigen nannte.
Wohlwollend formuliert hatte man bei
Volkswagen die geltenden Gesetze sehr
großzügig interpretiert. Frei von der Le-
ber weg geschrieben: Man hatte belogen
und betrogen, wo man nur konnte. In
den kommenden Jahrzehnten wird man
diesen Freitag wahrscheinlich aber auch
als den Tag in den Geschichtsbüchern
notiert finden, der für den klassischen
Verbrennungsmotor den Anfang vom
Ende markierte. Völlig unabhängig von
der Frage, ob diese Entwicklung gerade
bei dem gegebenen Energiemix hierzu-
lande wirklich richtig ist: Ohne die Of-
fenbarung vom September 2015 wäre
die E-Mobilität wohl weiterhin lediglich
eine kaum beachtete Nische für hartge-
sottene Ökofreaks.
Erst der Freitag im September 2015
ebnete auch Tesla wirklich den Weg,
zwang die Autobauer hierzulande zu al-
lerlei Versprechen und zu einem mehr
oder weniger radikalen Konzernumbau.
Das Ende dieser Entwicklung ist kaum
abzusehen. Nachdem Elektromotoren
im Vergleich zu Verbrennungsmotoren
eher Lowtech sind, wird man wohl kein
allzu großer Prophet sein müssen, um
beispielsweise abzuleiten, dass es auf
dem Markt für individuelle Mobilität
künftig mehr Wettbewerber und weni-
ger Arbeitsplätze geben wird.
Ganz zweifelsohne hat auch diese Ent-
wicklung bei den Kursen der Aktien der
drei großen deutschen Autobauer und de-
ren Charts tiefe Spuren hinterlassen. In
der Spitze verloren Daimler im Rahmen
eines jahrelangen Siechtums 58 Prozent
und BMW 53 Prozent. Die jüngste Erho-
lung dieser beiden Werte ist technisch


zwar ganz in Ordnung. Ob sie aber für
lange Zeit das Ende der Baisse markie-
ren wird, steht noch in den Sternen. Et-
was anders sah es bei Volkswagen aus.
Wie die beiden anderen war zwar auch
die VW-Aktie zum Zeitpunkt des
Bekanntwerdens der Manipulationen
schon sehr angeschlagen, und es war da-
mals fast kein Problem, noch tiefere Kur-
se zu erwarten. Kaum ahnen konnte man
aber, dass sie sich, nachdem sie zuvor
schon fast 40 Prozent eingebüßt hatte,
nach dem 18. 9. noch einmal fast halbie-
ren würde – in nur drei Wochen.
Das wirklich richtig Außergewöhnli-
che ist aber, dass seither Ruhe im Kar-
ton ist. Während die Aktien der Bayern
und Schwaben in den letzten Jahren, be-
gleitet von immer neuen, wenig erbauli-
chen Nachrichten, sukzessive nach un-
ten durchgereicht wurden, stabilisierte
sich der Aktienkurs von Volkswagen
und notiert heute mit Kursen um 150
Euro zwar immer noch weit entfernt von
altem Glanz und Gloria – aber auch 80

Prozent über ihren Tiefs. Noch erstaunli-
cher wird es, wenn man einen Blick auf
die letzten 15 Monate wirft.
War die Entwicklung des VW-Kurses
lange Zeit von wilden Schwankungen ge-
prägt, geschieht seit dem Sommer 2018
einfach nur noch so gut wie nichts mehr.
Es ging rauf und runter und wieder rauf
und runter und, weil es dann immer
noch nicht genug war, gleich noch ein-
mal wieder rauf und runter. Aber das
Schwankungsintervall blieb konstant:
Unzählige Male war unten spätestens
bei rund 135 Euro für die Bären Schluss
und oben für die Bullen spätestens bei
165 Euro. Es wäre die Untertreibung des
Jahres, dieses Marktverhalten lediglich
als „ungewöhnlich“ zu klassifizieren.
Was lässt sich daraus ableiten?
Eine der grundlegenden Regeln der
technischen Analyse lautet: Je länger
eine Konsolidierung anhält, desto nach-
haltiger ist ein Ausbruch aus dieser Han-
delszone und desto größer sind die im
Mittel zu erwartenden Kursveränderun-

gen. Das hilft schon einmal weiter: Jeder
Ausbruch über 165 Euro, den oberen
Rand der Handelsrange, dürfte der Ak-
tie deshalb helfen, sich zumindest wie-
der in Bereichen um 190 Euro einzufin-
den. Jeder Ausbruch unter 135 Euro,
den unteren Rand der Konsolidierungs-
zone, dürfte die Aktie – wenigstens – auf
Werte um 110 Euro zurückführen. Wel-
chen Weg wird die Volkswagen-Aktie
einschlagen?
In erster Näherung wird man vermu-
ten müssen, dass sie erst einmal keinen
von beiden nehmen, sondern, so un-
glaublich es auch klingen mag, ihre Seit-
wärtsentwicklung in den bekannten
Grenzen fortsetzen und damit das Poten-
tial nach einem Ausbruch noch größer
machen wird. Für die Zeit danach und
unter der Annahme, dass sich die techni-
schen Rahmenbedingungen bis dahin
nicht grundlegend ändern, erscheint
heute, fast schon irritierenderweise, ein
Ausbruch nach oben etwas wahrscheinli-
cher zu sein als einer nach unten. Man
geht wohl nicht fehl, wenn man vermu-
tet, dass dies die gesamte Autobranche
mit sich ziehen würde, und das wieder-
um dürfte auch beim Dax Spuren hinter-
lassen.
Aber – ich will und muss es betonen:
Noch ist es nicht soweit. Noch sieht das
Ganze nicht richtig „ausbruchsreif“ aus,
und noch muss man den Dax auch des-
halb eher verhalten betrachten. Es wäre
deshalb nicht annähernd hinreichend zu
begründen, meine bekannt zurückhal-
tenden Einschätzungen gerade jetzt ins
vorbehaltlos Zuversichtliche zu drehen.
Zu vieles stimmt noch nicht, und zu vie-
les ist noch sehr unsicher. Sicher ist: Der


  1. September 2015 hat sehr viel be-
    wegt. Vielleicht noch mehr, als wir heu-
    te überhaupt abschätzen können. Und
    damit hatte dieser Tag auch etwas Gu-
    tes.
    Der Autor leitet die Staud Research GmbH in Bad
    Homburg.


Attraktion:Hochhäuser des Londoner Finanzdistrikts Canary Wharf Foto Reuters


Finanzen


Aktienkurs von Volkswagen zeigt deutliche Marken


Welchen Weg wird der Autobauer an der Börse einschlagen? Technische Analyse von Wieland Staud


Trotz des bevorstehenden


Brexits behauptet sich die


City als führendes


Finanzzentrum.


Von Philip Plickert


Unterstützungen


Widerstände


Langfristiger Abwärtstrend


2015 2016 2017 2018 2019

Volkswagen Vorzüge

180

160

140

120

100

190

165

135

110

200

220

240

260

Quelle: Staud Research Bad Homburg F.A.Z.-Grafik Kaiser

Angaben Euro (Skala logarithmisch)

Briefe an die Herausgeber


Zu„Kein schöner Land – Wir fielen vor
dreißig Jahren in eine reife Demokratie
wie Semmeln in einen Milchbach. Sind
wir Ostdeutschen undankbar?“ von Tanja
Nause (F.A.Z. vom 30. September): Die-
ser sehr interessante Artikel mit dem Hin-
weis auf nur drei östliche Abteilungsleiter
in den Bundesministerien veranlasst
mich als interessierten Leser vorzuschla-
gen, ob Sie nicht redaktionell dieser Fra-
ge einmal nachgehen könnten. Die Unter-
suchung, wodurch ein Abteilungsleiter als
Westdeutscher definiert ist, müsste mei-

nes Erachtens erklärt werden. Gibt der
Geburtsort den Ausschlag? Wie steht es
um die soziale Herkunft? Zugespitzt: Wie
viel geographische Herkunft und wie viel
von Bourdieus „feinen Unterschieden“
stecken hinter dem Ganzen?
Müsste man nicht einmal die Karrie-
ren von tausend Ostdeutschen in dritter
Generation und tausend Ostdeutschen
mit ostdeutschen Großeltern und west-
deutscher Sozialisation vergleichend un-
tersuchen?
MICHAEL MARX, GARBSEN

Danke für Ihren Kommentar „Klebers Fra-
gen“ zu Claus Klebers „Interview“ mit
dem österreichischen Wahlsieger Sebasti-
an Kurz (F.A.Z. vom 1. Oktober): Nach
der erfolgreichen Etablierung des betreu-
ten Denkens und des betreuten Wählens
hätte Claus Kleber am Wahlabend nun ger-
ne das „betreute Regieren“ in Deutsch-
lands Nachbarländern eingeführt. Klebers
fragwürdiges Demokratieverständnis hat

allerdings durch Sebastian Kurz die richti-
gen Antworten erhalten. Das Schlimme
daran: Kleber und das ZDF zeigen nicht ei-
nen Funken der Einsicht, dass sie mit ih-
rer journalistischen Haltung falsch liegen.
Das Schlimmste ist allerdings, dass wir in
Deutschland solches Fernsehen ertragen
müssen und es per GEZ-Zwangsabgabe
widerspruchslos bezahlen.
PETER EICHENSEHER, BAD DRIBURG

Der Leitartikel „Warum Kirche?“ von Da-
niel Deckers in der F.A.Z. vom 28. Sep-
tember liefert eine teils richtige, aber
überspitzt und polemisch formulierte Dia-
gnose des derzeitigen Zustands unserer
Kirche.
In seiner Beschreibung für die Gründe
bleibt er jedoch an der Oberfläche und zi-
tiert die üblichen „Verdächtigen“: Zölibat
und Frauenordination. Wenn die Abschaf-
fung des einen und die Einführung des an-
deren die Hauptgründe wären für die Glau-
benskrise in Deutschland, dann müssten
ja die evangelischen Kirchen überquellen
vor Gläubigen (was nachweislich nicht
der Fall ist). Der westliche Lebensstil hat
bei vielen Menschen die Sehnsucht nach
dem transzendentalen Aspekt des Lebens
zugedeckt, wenn nicht zerstört. Dass dies
nicht zwangsläufig so sein muss, beweist

ein Blick über die Grenzen: Ich besuchte
kürzlich Polen und Litauen; dort sind die
Sonntagsmessen so gut besucht, wie ich es
noch aus meiner Jugend kenne, und zwar
von Menschen aller Altersklassen. Dort
spürt man, wie der Glaube (trotz zuneh-
menden Wohlstands) in den Familien und
der Gesellschaft tief verwurzelt ist.
Christlicher Glaube wurde und wird
seit 2000 Jahren durch das Zeugnis der
Gläubigen weitergegeben (Bischöfe, Pries-
ter, Laien). Dieses Zeugnis muss wieder
sichtbarer und glaubwürdiger werden und
vor allem durch die Laien in die alltägli-
che Welt der Menschen hineingetragen
werden. Dazu müssen wir vom und über
den Glauben sprechen, damit Menschen
erkennen, dass er unser Leben reicher,
freud- und hoffnungsvoller machen kann.
DR. WOLFRAM FRANK, LENZKIRCH

Zu „Maßregelung hilft nicht weiter“ von
Paul Ingendaay (F.A.Z. vom 17. Septem-
ber): Kann der etablierte Politik- und Me-
dienbetrieb noch unaufgeregt mit der
AfD umgehen? Ja, er kann, und einen
schlüssigen Beweis dafür liefert Ingen-
daay. Erfreulich klar rügt er den morali-
sierenden Umgang der etablierten Partei-
en mit AfD-Wählern und die damit ein-
hergehende programmatische Verzwer-
gung der Etablierten. Man kann getrost
noch einen Schritt weitergehen: Letztlich
dürfte die sich zuspitzende Polarisierung
zwischen Konservatismus und Liberalis-
mus, zwischen Heimattreue und Vater-
landsliebe auf der einen sowie dem Kos-
mopolitismus des Justemilieu auf der an-
deren Seite, das aktuelle Parteiengefüge
sprengen. Übrig bleiben werden die AfD
(oder eine kongeniale, weniger „gärige“
Nachfolgepartei) und die Grünen. Nur
diesen beiden ist zuzutrauen, im einset-
zenden Kulturkampf die konträren welt-
anschaulichen Grundpositionen authen-
tisch zu vertreten.
Ingendaay entlarvt auch den „Gegen
Rechts“-Popanz der Etablierten, der den
Konservatismus ein für alle Mal verban-
nen will, ihn tatsächlich aber als schlag-
starke Waffe den Bataillonen der AfD
überlässt. Ähnlich verhält es sich mit

dem kautschukartigen Kampfbegriff „völ-
kisch“, der die AfD als Wiedergänger des
Nationalsozialismus diskreditieren soll.
Bei aller Kritik an der „Vogelschiss“-Me-
tapher eines Alexander Gauland und der
wabernden Gegenaufklärung eines
Björn Höcke – glaubt man im Ernst, mün-
dige „Bürger“ (im traditionellen besten
Sinne des Wortes) mit grobschlächtigen
Attacken überzeugen zu können?
Das Schlimmste an dieser fortgesetz-
ten Teufelsaustreibung ist aber der Scha-
den für die Demokratie, angerichtet von
diktatorischen Meinungsfürsten, die sich
groteskerweise als „anständige Demokra-
ten“ feiern. Der Mainstream sollte sich
die Ehrlichkeit des Rechtsphilosophen
und zeitweiligen SPD-Justizpolitikers
Gustav Radbruch (1878-1949) zu Herzen
nehmen. Erschüttert von der legalen
„Machtergreifung“ Anfang 1933 und der
Verhöhnung der Menschen- und Bürger-
rechte im NS-Staat, ordnete Radbruch
1946 die Demokratie hinter den Men-
schenrechten ein: „Demokratie ist gewiss
ein preiswertes Gut, Rechtsstaat ist aber
wie das tägliche Brot, wie Wasser zum
Trinken und wie Luft zum Atmen, und
das Beste an der Demokratie gerade die-
ses, dass nur sie geeignet ist, den Rechts-
staat zu sichern.“
DR. BJÖRN SCHUMACHER, SAARBRÜCKEN

Mit Vergnügen und Zustimmung habe
ich den Kommentar „Klebers Fragen“
von Michael Hanfeld (F.A.Z. vom 1. Ok-
tober) gelesen. Er praktiziert als journa-
listische Gewohnheit, dass er fast regel-
mäßig in seinen Eingangskommentierun-
gen den Zuschauern verkündet, was sie
von den nachfolgend mitgeteilten Fakten
zu denken haben. Leider ist Kleber im
ZDF kein Einzelfall. Auch Marietta Slom-
ka neigt dazu, ihre Kommentare zum
Weltgeschehen regelmäßig mit den ge-
meldeten Nachrichten untrennbar zu ver-
mischen. Darum danke ich Ihnen für die
Offenlegung des anstößigen Verhaltens
von Herrn Kleber.
PROF. DR. BERND RÜTHERS, KREUZLINGEN

Im Kommentar „Nicht eine Frau“ in der
F.A.Z. vom 24. September wird erwähnt,
dass sich in der Schweiz ein dem deut-
schen synodalen Weg ähnlicher Weg an-
bahne. Es handelt sich um einen im Me-
diencommuniqué vom 19. September
2019 der Schweizer Bischofskonferenz er-
wähntes Dossier „Erneuerung der Kir-
che“. Man will bei dem bevorstehenden
Weg „Junge, Alte, Frauen, Männer, Laien
und Geweihte, Migrantinnen und Migran-
ten sowie Schweizerinnen und Schweizer
in diesen Prozess mit einbinden“, in der
Hoffnung, „dass so die gegenwärtige
Glaubwürdigkeitskrise überwunden wer-
den kann“. Bei den von den Bischöfen
identifizierten Themenbereichen han-
delt es sich auch um „Glaube und Glau-
benswiedergabe, Rolle der Frauen, Zöli-
bat und viri probati, sexuelle Übergriffe
und Machtmissbrauch“.
Bemerkenswert, dass dabei die derzeit
in der Schweiz vorgesehenen Beratungs-
themen unkommentiert genannt werden,
dass der Konferenzvorsitzende, Bischof

Gmür, mit dem Ausspruch: „Wir sehen,
dass vielerorts die Frustration hoch ist“
zitiert wird, aber auch dessen Bemer-
kung: „Wir vermeiden die Begriffe syn-
odal oder Synode“ und als mögliches Er-
gebnis des Schweizer Prozesses, „dass die
Bischöfe ermuntert würden, in einem
Brief den Papst auf ein bestimmtes Ergeb-
nis anzusprechen“.
Auch in der Schweiz gibt es bei den Bi-
schöfen zu Fragen der Kirchenreform
Meinungsunterschiede. Und auch hier
gibt es in den einzelnen Diözesen unter-
schiedliche Einschätzungen von Reform-
bemühungen bei Bistumsleitung und Mit-
arbeitern, welche wie in den Bistümern
Chur und Köln sogar in der Presse ver-
folgt werden können. So wird in jedem
Fall – nenne man das Vorgehen synoda-
ler Weg oder Erneuerungsprozess – in
Rom oder vor Ort viel Geduld und Dia-
logbereitschaft erforderlich sein, um ei-
nen Weg aus der Krise zu finden.
DR. HERMANN GIETZ, GEISENHEIM

Herzlichen Glückwunsch der F.A.Z. zu
ihrem 70. Geburtstag! Und ein großes
DANKE an alle Mitarbeiter! Ich möchte
Ihre Zeitung nicht missen. Ein Frühstück
ohne F.A.Z. ist ein echtes Elend! Ad mul-
tos annos!
ISABELLA BERCZELY,POZUELO DE ALARCÓN,
SPANIEN

In Polen und Litauen anders


Heimattreue und Vaterlandsliebe


Wer ist eigentlich Ostdeutscher?


Anstößig


Klebers seltsame Fragen


Geduld und Dialogbereitschaft


Alles Gute


X
Von den vielen Zuschriften,die uns täglich erreichen
und die uns wertvolle Anregungen für unsere Arbeit
geben, können wir nur einen kleinen Teil veröffent-
lichen. Dabei kommt es nicht darauf an, ob sie Kritik
oder Zustimmung enthalten. Oft müssen wir kürzen,
denn möglichst viele Leser sollen zu Wort kommen.
Wir lesen alle Briefe sorgfältig und beachten sie, auch
wenn wir sie nicht beantworten können.
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