Frankfurter Allgemeine Zeitung - 04.10.2019

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SEITE 32·FREITAG, 4. OKTOBER 2019·NR. 230 Sport FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


D


er Fall Alberto Salazar, der Sturz
des wohl berühmtesten Trainers
in der Welt des Langstreckenlaufs
und des Marathons, erscheint wie das
Gegenstück zum nicht endenden
Skandal um das systematische Do-
ping in Russland. Immer noch ver-
folgt der internationale Sport die
schwarzen Schafe aus Russland, sank-
tioniert einzelne Athleten, versucht
zu identifizieren, von welchen einzel-
nen Sportlern die mindestens 650 po-
sitiven Proben stammten, die das an-
gebliche Anti-Doping-Labor ver-
schwinden ließ. Deshalb das Interesse
an dessen Daten, deshalb deren jüngs-
te Manipulation durch staatliche russi-
sche Stellen. 43 Medaillen von Olym-
pischen Spielen wurden russischen
Athleten bislang aberkannt.
In Amerika ist von schwarzen Scha-
fen keine Rede. Es ist, will man im
Bild bleiben, der Schäfer, der gesperrt
wurde. Seine Schäflein bilden die er-
folgreichste Herde der Welt. Mit den
drei, vier Medaillen von Sifan Hassan,
Donavan Brazier und vielleicht auch
von Konstanze Klosterhalfen könnte
die internationale Truppe, wollte
man sie in den Medaillenspiegel der
Leichtathletik-Weltmeisterschaft von
Doha aufnehmen, einen vorderen
Platz einnehmen.
Wie kommt es, dass die Läuferin-
nen und Läufer, angefangen vom eins-
tigen Wunderläufer Mo Farah, der
vier Olympiasiege holte und sechs
Weltmeistertitel gewann, bis zur 22
Jahre alten Novizin Konstanze Klos-
terhalfen, die seit ihrem Wechsel vor
einem Dreivierteljahr sechs deutsche
Rekorde lief, als Unschuldslämmer
auftreten können?
Alberto Salazar ist ein Grenzgän-
ger. Als Athlet überforderte er sich in
Training und im Wettkampf. Bei ei-
nem Lauf 1978 auf Cape Cod brach er
mit einem Hitzschlag zusammen und
erhielt von einem Priester die letzte
Ölung. Zwei Jahre später gewann er

den ersten seiner drei New-York-Mara-
thons. Er wünschte sich, ein Bein zu
verlieren, verriet er seinem Biogra-
phen, um sich nicht mehr zum Laufen
zu zwingen, als er längst nicht mehr
laufen konnte. 2007, da war er längst
Trainer des Nike Oregon Projects, er-
litt er einen Infarkt; vierzehn Minu-
ten, so der Titel seiner Autobiogra-
phie, hatte er keinen Herzschlag.
Dass er überlebte, nahm Salazar als
Zeichen, einen göttlichen Auftrag zu
erfüllen. Im Zeichen eines Totenschä-
dels mit Lorbeer liefen deshalb seine
Athleten. Und er lotete weiterhin
Grenzen aus. Salazar experimentierte
mit Medikamenten, Substanzen, mit
L-Carnitin und Thyroxin, um Läufe-
rinnen und Läufer leichter, stärker
und schneller zu machen. Er ließ im
hauseigenen Labor von Nike testen,
welche Mengen Testosteron einen po-
sitiven Nachweis ergaben. „Wenn er
mit seiner Berufung nicht erfolgreich
ist“, schreibt Jeré Longman in der
„New York Times“, „könnte seine Trai-
ner-Laufbahn ebenso ruiniert enden
wie sein Körper.“ Salazar gebrauchte
nicht Läuferinnen und Läufer als Ver-
suchskaninchen. Einen Trainer, Steve
Magness, der zum Kronzeugen der
Anklage wurde, ließ er die intravenö-
se Anwendung eines Energiegetränks
ausprobieren. Die Testosteron-Versu-
che nahm er an seinen Söhnen vor.
Die russische Unterschlagung von Do-
ping-Fällen beschrieb Richard McLa-
ren in seinem Bericht für die Welt-
Anti-Doping-Agentur (Wada) als
„The Disappearing Positive Methodo-
logy“. Salazar, so legt es das Urteil
nahe, ließ nichts verschwinden, son-
dern versuchte, der Nachweisgrenze
so nah wie möglich zu kommen. Da-
bei scheint er – was er bestreitet –
Grenzen des Anstands und der Verant-
wortung überschritten zu haben.

Schäfer und


schwarze Schafe


Von Michael Reinsch


mr.DOHA.Als er Weltmeister geworden
war, war plötzlich der Antrieb weg. „Ich
hätte höher springen können in London“,
sagt Mutaz Essa Barshim, ein sehr dünner,
sehr langer junger Mann. Klar kann er hö-
her springen als 2,35 Meter. Schon 2014
überflog er in Brüssel beim Diamond-
League-Finale 2,43 Meter. Nur Xavier So-
tomayor aus Kuba ist je höher gesprun-
gen: 2,44 Meter, 2,45 Meter. Sehr schön,
fand Barshim, dass er in London Welt-
meister geworden war, „aber was da-
nach?“ 2018 sollte eine Zwischensaison
ohne große Meisterschaften werden, und
bei der WM 2019 in seiner Heimatstadt
Doha, sagte er damals, da wolle er etwas
Unvergessliches hinterlassen: „Den Welt-
rekord in der Heimatstadt springen, das
wäre das Allergrößte.“ Und dann, in Tokio
2020, nach Bronze in London 2012 und Sil-
ber in Rio 2016 endlich Olympiasieger
werden.
Barshim hat keine Scheu, große Ziele
zu formulieren. Mit sechzehn hatte er sich
ein Poster von Muhammad Ali ins Zim-
mer gehängt, weil er nicht nur bewundert,
wie dieser boxte, sondern auch dessen gro-
ße Klappe mochte. Nun ist Barshim, wenn
es an diesem Freitagabend im Stadion sei-
ner Stadt um seinen Titel geht, sehr klein-
laut geworden. Mühsam hat er sich von ei-
nem Bänderriss im Sprungfuß zurückge-
kämpft. In Székesfehérvár in Ungarn fühl-
te er sich so sicher und so stark, dass er
den Weltrekord angriff. Dreimal zu rei-
ßen, als er damals im Juli 2018 2,46 Meter
auflegen ließ, das wäre nicht weiter
schlimm gewesen. Doch die Sprünge ermü-
deten ihn, und beim dritten sprang er
falsch ab, rauschte in die Latte, und als er
auf der Matte gelandet war, wusste er, dass
er sich schwer am Knöchel verletzt hatte.
Nach der Operation des Bänderrisses
ging er, vor zwölf Monaten noch, an Krü-
cken. Im Lauf der Saison hat er lediglich

drei Wettkämpfe bestritten. Als es am
Dienstag um die Qualifikation fürs Finale
ging, sprang er viermal, blieb fehlerlos
und überflog schließlich 2,29 Meter. Seine
Saisonbestleistung. Barshim weiß, dass er
die Leistung in sich hat. Er weiß aber
auch, dass er zerbrechlich ist. Vor den
Olympischen Spielen von London erlitt er
einen Ermüdungsbruch im Rückgrat. Seit-
dem muss er, der zu schmächtig ist für
Krafttraining, Stärkungsübungen für sei-
nen Rücken machen. Auf seinen Schul-
tern trägt er große Hoffnungen. Enkel ei-
nes Paares, das mit Geschwistern und Cou-

sins aus Sudan zur Arbeit nach Qatar kam,
Kind von Eltern, welche die qatarische
Staatsbürgerschaft erworben hatten, ver-
kehrt Barshim mit dem Palast. Vor und
nach seinem Sieg von London rief ihn der
Emir persönlich im Olympiastadion von
London auf dem Mobiltelefon an. Und
selbstverständlich gab es bei seiner Heim-
kehr einen Empfang. „Sie lieben mich
wirklich“, sagt er.
Abderrahman Samba löste mit dem drit-
ten Platz, den er am Montag über 400 Me-
ter Hürden erreichte, Jubelstürme unter
den Einheimischen aus – die erste Medail-
le für Qatar. Doch im Gegensatz zu Sam-

ba, der in Saudi-Arabien geboren ist und
auch schon für Mauretanien startete, ist
Barshim ein Kind des Landes. Der Name,
den seine Eltern ihm gaben, ist das arabi-
sche Wort für Stolz. Durch und durch Qa-
tarer, ist Barshim selten zu Hause in Doh.
Zwei Monate im Jahr, schätzt er, verbringe
er zu Hause, und da bestehe die Mutter
darauf, dass er im Elternhaus wohnt.
Ansonsten ist er, von Beruf Hochsprin-
ger, Weltbürger. Englisch spricht Barshim
fließend, ein paar Brocken Polnisch und
Schwedisch beherrscht er, weil er mit sei-
nem Trainer Stanislaw Szczyrba mal bei
Warschau und mal in Malmö trainiert.
Seit er 2011 bei den Asienspielen in Kobe
siegte, hat er ein Faible für Japan entwi-
ckelt. Er liest Mangas, er schaut sich be-
geistert Zeichentrickfilme an.
Szczyrba hat den Jungen an der Aspire
Academy Qatars entdeckt, einem luxuriö-
sen Campus, in dem es so etwas wie eine
Eliteschule Sport gibt, an der Ausbildung
und Training flexibel kombiniert wurden.
Wenn seine Mutter verlangte, dass er end-
lich Hausaufgaben machte, verschwand er
zum Training – und hatte engagierte Rü-
ckendeckung. „Wenn du Sport machst,
bist du für meinen Vater König“, erzählt
er. Nur musste er sich zunächst als Läufer
quälen. Beim Weitsprung störte ihn der
Sand, beim Dreisprung schmerzten die
Knie, und für den Hochsprung war er lan-
ge zu klein. Er liebt ihn trotzdem; wegen
des Flops auf die Matte, wegen des Trai-
nings auf dem Trampolin. Als er neun-
zehn war und ein Studium begann, nahm
sich der polnische Coach einige Monate
Zeit, den jungen Mann zu einem Trainings-
lager in Polen zu überreden. Als Barshim
zugesagt hatte, verbesserte er sich in acht
Wochen um elf Zentimeter auf 2,25 Meter.
Da wusste er nicht nur, dass er selbst gut
ist. „Da wusste ich, dass mein Trainer gut
ist“, sagt er. „Er ist wie ein Professor.“ An
die Hochschule ist er nie zurückgekehrt.

Die sLast der Erwartung:Mustaz
Barshimsollfür Qatar eine
Medaille holen. Foto Reuters

Basketball,Euroleague, Herren, Hauptrunde 1.
Spieltag: FC Bayern München – Olimpia Mailand
78:64.
Bundesliga, Männer, 1./5. Spieltag: Telekom Bas-
kets Bonn – Fraport Frankfurt 77:76, Alba Berlin



  • Rasta Vechta 101:78.


Eishockey,DEL, Männer, 7. Spieltag: Schwennin-
ger Wild Wings – EHC Red Bull München 2:4, Düs-
seldorfer EG – Adler Mannheim 5:4 n.P., Pinguins
Bremerhaven – Kölner Haie 4:3 n.V., Augsburger
Panther – ERC Ingolstadt 2:3, Iserlohn Roosters –
Eisbären Berlin 3:1, Nürnberg Ice Tigers – Krefeld
Pinguine 4:2, Grizzlys Wolfsburg – Straubing Ti-
gers 1:3.


Fußball,Europa League, 2. Spieltag, Gruppe I:
AS St. Étienne – VfL Wolfsburg 1:1; – Gruppe J :
Istanbul Basaksehir – Bor. Mönchengladbach
1:1; – Gruppe F: Vitória Guimarães - Eintracht
Frankfurt 0:1.


Handball,DHB-Pokal, Achtelfinale, Männer: SG
Flensburg-Handewitt – TSV Hannover-Burgdorf
20:26, Rhein-Neckar Löwen – Frisch Auf Göppin-
gen 36:34 n.V., TBV Lemgo Lippe – Bergischer
HC 27:24, ASV Hamm-Westfalen – Die Eulen Lud-
wigshafen 24:25, HSG Wetzlar – THW Kiel 25:26.


Leichtathletik,Weltmeisterschaften in Doha,


Frauen, Kugelstoß: 1. Gong (China) 19,55 m, 2.
Thomas-Dodd (Jamaika) 19,47, 3. Schwanitz (Ge-
lenau) 19,17.
Frauen, 400 m: 1.. Naser (Bahrain) 48,14 Sek., 2.
Miller-Uibo (Bahamas) 48,37, 3. Jackson (Jamai-
ka) 49,47.
Männer, 110 m Hürden: 1. Holloway (USA) 13,10
Sek., 2. Schubenkow (Neutrales Team) 13,15, 3.
Martinot-Lagarde (Frankreich) 13,18, Ortega
(Spanien) 13,30 (zweite Bronzemedaille nach
Jury-Entscheidung).
Hammerwurf: 1. Fajdek (Polen) 80,50 m, 2. Bigot
(Frankreich) 78,19, 3. Halász (Ungarn) 78,18 und
Nowicki (Polen/nach Jury-Entscheid) 77,69.
Frauen, 200 m: 1. Asher-Smith (Großbritannien)
21,88 Sek., 2. Brown (USA) 22,22, 3. Kambundji
(Schweiz) 22,51.
Rugby,WM in Japan, Männer, Gruppe A: Irland


  • Russland 35:0. – Gruppe B: Neuseeland – Kana-
    da 63:0. – Gruppe C: Frankreich – USA 33:9. –
    Gruppe D: Georgien – Fidschi 10:45.
    Tennis,ATP-Tour in Peking, Herren, Einzel (3,515
    Mio. US-Dollar), Achtelfinale: Alexander Zverev
    (Hamburg) – Auger-Aliassime (Kanada) 6:3, 6:1.
    Lotto(Mittwoch): 3 – 26 – 29 – 31 – 33 – 48.
    Superzahl:0.
    Spiel 77:2 4 6 6 9 0 6. –Super 6:4 2 2 5 8 5.


J


eder, der sich nur ein bisschen in
diesem Sport auskennt, weiß,
dass über dieser Gruppe ein
schwarzer Schatten liegt, eine
schwarze Wolke“, kommentiert
die einstige Weltmeisterin Jen-
ny Simpson die Sperre, die das Nike Ore-
gon Project (NOP) ihren Kopf gekostet
hat. „Warum sich jemand dafür entschei-
det, Teil dieser Gruppe zu sein, weiß ich
nicht. Wer schockiert ist, kennt sich im
Sport nicht aus.“
Als Elite der Laufwelt verstand sich das
Nike Oregon Project. Alberto Salazar rief
es 2001 ins Leben, um die Überlegenheit
der Läuferinnen und Läufer Ostafrikas
mit wissenschaftlichem Training, mit
technologischen Innovationen und, wie
von der amerikanischen Anti-Doping-
Agentur (Usada) und dem für Doping-
Sanktionen zuständigen Schiedsgericht
bestätigt wurde, zweifelhaftem Umgang
mit Medikamenten und Hormonsubstan-
zen sowie mit einem Ansatz zu Täu-
schung und Manipulation wettzumachen.
Das Urteil bestätigt auf 140 Seiten Berich-
te der BBC und der Website Pro Publica
aus dem Jahr 2015.
Dennoch spricht die vor bald einem
Jahr aus Leverkusen nach Portland zu Sa-
lazar gewechselte und seitdem immer
wieder auf die Vorwürfe angesprochene
Konstanze Klosterhalfen von einem
Schock. Als sie sich bei der Weltmeister-
schaft von Doha am Donnerstag fürs Fi-
nale über 5000 Meter am Samstag qualifi-
ziert hatte, machte sie bei ihrem kurzen
Stopp in der Mixed Zone deutlich, dass
sie die Dimension des Falles nicht ver-
standen hat. „Aus unserem Team betrifft
das alle nicht“, behauptete sie, offenbar
unter Bezug darauf, dass die inkriminier-
ten Fälle in den Jahren 2010 bis 2014 la-
gen. „Wir konnten damals noch gar nicht
laufen.“ Sie habe nicht vor, Konsequen-
zen zu ziehen.
Alberto Salazar, für vier Jahre für jede
Tätigkeit im Sport gesperrt, ist eine über-
lebensgroße Figur in der amerikanischen
Sportwelt und in der Laufszene. In Havan-
na geboren, machte er sich als Läufer ei-
nen Namen, der vor allem gegenüber sich
selbst rücksichtslos war. Er gewann drei
Mal den New-York-Marathon. Über sei-
nen Sieg in Boston 1982 schrieb der Au-
tor John Brant das Buch „Duell in der Son-
ne“. Seine Autobiographie „14 Minuten“
war ein Bestseller; der Titel spielt auf ei-
nen Herzstillstand 2007 an. Nike hat ein
Gebäude auf seinem Campus in Beaver-
ton bei Portland (Oregon) nach Salazar
benannt. Dort verfügen die derzeit zwölf
Läuferinnen und Läufer über Bahnen und
Hallen, Kraft- und weitere Trainingsräu-
me. Bei einem Besuch vor wenigen Jah-
ren zeigten Salazar und sein erfolgreichs-
ter Läufer, der inzwischen nach Großbri-
tannien zurückgekehrte Mo Farah, dass
zu ihrem Training auch Sprint- und Box-
Übungen gehören. Salazar benutzt Unter-
wasser-Laufbänder für das Training sei-
ner Athleten und Aufhängungen, um die
Stöße der Schritte zu dämpfen. Sie schla-
fen, um vom Höheneffekt zu profitieren,
in einem Haus mit Unterdruck; im Trai-
ningslager in entsprechenden Zelten. Zu
den Olympischen Spielen in London ließ
Salazar in ein Hotelzimmer eine Kälte-
kammer einbauen, damit Galen Rupp
und Farah, die über 10 000 Meter Zweiter
und Erster geworden waren, sich im Hin-
blick auf die 5000 Meter schneller erho-
len konnten. Farah gewann in seiner Hei-
matstadt zwei Goldmedaillen. Nike unter-
stützt das Projekt großzügig und nutzt es
für sein Ansehen in der Laufszene.


„Ich habe das beste Jahr gehabt und bin
superglücklich, in diesem Team zu sein“,
sagte die 22 Jahre alte Konstanze Kloster-
halfen in Doha. „Ich freue mich jetzt
schon drauf, nach der Saisonpause wie-
der hinzugehen und weiter zu trainieren
und besser und schneller zu werden.“ Seit
ihrem Wechsel zum NOP hat sie sechs
deutsche Rekorde aufgestellt, drei in der
Halle, drei im Stadion.
Zu diesem Zeitpunkt hatte sie über das
vernichtende Urteil noch nicht mit ihren
Eltern gesprochen, einer Lateinlehrerin
und einem Rechtsanwalt. Zwar sind diese
in täglichem Kontakt mit ihrer Tochter,
doch ein Unglück anderer Art hinderte
sie an einem Austausch. Die Reise aus Kö-
nigswinter bei Bonn zur Weltmeister-

schaft hatten sie bei Thomas Cook ge-
bucht und mussten dafür sorgen, dass der
Konkurs des Reiseunternehmens nicht
für den Ausfall ihres Ausflugs sorgte. Am
Donnerstag trafen sie ein. Dann dürfte
ihr Krisenmanagement begonnen haben.
Das Urteil gegen Salazar, nach zweijäh-
riger Geheimverhandlung von einer Kam-
mer der American Arbitration Associati-
on getroffen, wirft einen dunklen Schat-
ten auf das Nike Oregon Project. Es be-
scheinigt Salazar, „verbotenes Doping-
Verhalten orchestriert und gefördert“ zu
haben, und bestätigt die seit Jahren be-
kannten Vorwürfe, dass Salazar zu Test-
zwecken seine Söhne mit einer Testoste-
ronsubstanz einrieb, dass er Athleten
Substanzen verabreichte wie das Schild-
drüsenhormon Thyroxin oder Asthma-
mittel, die medizinisch nicht indiziert wa-
ren. Die Läuferin Kara Goucher sagte
aus, dass Salazar sie gedrängt habe, Thy-
roxin zu nehmen, um nach der Geburt ih-
res Kindes schneller Gewicht zu verlie-
ren. Der Trainer Steve Magness musste
sich ein leistungssteigerndes Sportge-
tränk intravenös verabreichen; es steiger-
te seine Insulinausschüttung und damit
sein Leistungsvermögen. Das vielverspre-
chende Resultat teilte Salazar Lance
Armstrong mit: „Du wirst einen Triath-
lon 16 Minuten schneller absolvieren.“
Mit dem Radprofi, der ähnlich besessen

davon war, seine Leistung mit allen Mit-
teln zu steigern, und dem wegen jahrelan-
gen Dopings seine sieben Siege bei der
Tour de France aberkannt worden sind,
ist Salazar befreundet. Auch den damali-
gen Vorstandsvorsitzenden Mark Parker,
inzwischen als Nachfolger von Phil
Knight Chairman von Nike, informierte
Salazar über diese Perspektiven und die
Testosteron-Versuche. Parker, ehemali-
ger Läufer, ermutigte Salazar zu weiteren
Experimenten. In Reaktion auf das Be-
kanntwerden der E-Mails machte er sich
Salazars Behauptung zu eigen, die Tests
hätten nicht dem Doping gedient, son-
dern dem Zweck, Sabotage zu verhin-
dern.Im Zusammenhang mit Infusionen
von L-Carnitin, die bis zu einer bestimm-
ten Menge nicht verboten sind, hielt Sala-
zar seine Sportlerinnen und Sportler
dazu an, diese zu verheimlichen; er selbst
behinderte die Ermittlungen von Usada.
Das Urteil attestiert allerdings auch, dass
Salazar versehentlich Fehler gemacht und
damit die Regeln verletzt habe. Er sei da-
von motiviert gewesen, seinen Athleten
das beste Training und die besten Ergeb-
nisse zu ermöglichen. Doch dieser
Wunsch habe sein Urteilsvermögen in ei-
nigen Fällen eingeschränkt.
Konstanze Klosterhalfen beschrieb,
dass sie versuche, jede Ablenkung vom
Sport auszublenden und Medien zu mei-

den. „Wir konzentrieren uns hier darauf,
unsere Leistung zu bringen und damit zu
zeigen, wie hart wir trainieren“, sagte sie.
„Alberto Salazar ist der Gründungsvater,
aber ich werde von Pete Julian betreut.
Ich möchte das auch für die sagen, deren
Trainer Alberto Salazar ist: Sie waren Ba-
bies, als das passiert ist.“ Julian ist der As-
sistent von Salazar und trainiert auch den
neuen 800-Meter-Weltmeister Brazier. Er
solle, ist zu hören, die Führung des Pro-
jekts übernehmen. „Ich will mein bestes
Rennen der Saison zeigen“, kündigte Kon-
stanze Klosterhalfen an.
Die Athletic Integrity Unit, die vom
Weltverband (IAAF) unabhängige Ein-
heit zur Ermittlung und Sanktionierung
von Doping, teilte den Athleten Salazars
in Doha mit, dass sie mit diesem keinen
Umgang mehr haben dürften. Eine ent-
sprechende Regel wurde geschaffen, als
russische Trainer, die in systematisches
Doping verwickelt gewesen und deshalb
gesperrt waren, heimlich zurückkehrten
in die Leichtathletik. Athleten, die mit Sa-
lazar weiterarbeiten, drohen Sperren.
Ohnehin drohe den NOP-Athleten ein
Ansehensverlust. Man könne nicht eng
mit Salazar verbunden sein, ohne dass
nun mit Fingern auf einen gezeigt werde,
sagte Jenny Simpson. Konstanze Kloster-
halfen und ihr Team laufen schweren Zei-
ten entgegen.

DOHA(dpa/sid). Kugelstoßerin Christi-
na Schwanitz hat bei der ersten Weltmeis-
terschaft nach der Geburt ihrer Zwillinge
Bronze gewonnen. Die 33-Jährige vom
LV 90 Erzgebirge jubelte am Donnerstag-
abend in Doha über 19,17 Meter. „Dieses
Bronze ist mein ganz persönliches Gold.
Ich möchte allen Danke sagen, die uns un-
terstützt haben“, sagte Schwanitz in der
ARD.
Gold holte Titelverteidigerin und Top-
favoritin Gong Lijiao aus China mit 19,55
Metern. Silber ging an die Jamaikanerin
Danniell Thomas-Dodd mit 19,47 Me-


tern. Schwanitz schob sich im zweiten
Versuch eines spannenden Wettkampfs
mit 18,87 Metern auf den Bronzerang vor,
verlor ihn in Runde vier und holte ihn mit
dem vorletzten, ihrem weitesten Stoß zu-
rück. Schwanitz blieb im Khalifa-Stadion
zwar unter ihrer Saisonbestweite von
19,47 Metern, glänzte aber als Dritte. Sie
war 2015 bereits Weltmeisterin, nach ih-
rer Babypause gewann sie bei der Heim-
EM 2018 in Berlin Silber. Sara Gambetta
(Halle/Saale) und Alina Kenzel (Waiblin-
gen) waren am Mittwoch in der Qualifika-
tion ausgeschieden.

Ergebnisse


Dünnes Eis:Konstanze Klosterhalfen will sich vom Projekt des gesperrten Alberto Salazar (oben) nicht distanzieren. Genau wie Donavan Brazier (rechts). Fotos dpa/Imago/Getty Images


ENTSCHEIDUNGEN
19.15 Uhr: Hochsprung Männer
20.00 Uhr: Diskuswurf Frauen
20.30 Uhr: 400 Meter Hürden Frauen
20.45 Uhr: 3000 Meter Hindernis Männer
21.20 Uhr: 400 Meter Männer
22.30 Uhr: 20 Kilometer Gehen Männer
(Das ZDF berichtet von 19.20 Uhr an.)

Qatars große Hoffnung


Der zerbrechliche Hochspringer Mustaz Barshim muss Rückschläge verkraften


Hauptsache, schneller werden


Bronze für Christina Schwanitz


Die Kugelstoßerin holt vier Jahre nach WM-Sieg Medaille


Das soll eine Elite sein?


Konstanze Klosterhalfen


und Kollegen wollen


einfach so tun, als


beträfe die Sperre für


Salazar sie nicht.


Von Michael Reinsch,


Doha


Leichtathletik-WM heute


Der Grenzgänger Salazar


Salazar, so legt es das
Urteil nahe, ließ nichts
verschwinden, sondern
versuchte, der
Nachweisgrenze so nah
wie möglich zu kommen.
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