Handelsblatt - 04.10.2019

(nextflipdebug5) #1
EU-Kommission

Gentiloni peilt Transfers an


A


ls die designierte EU-Kommissionspräsi-
dentin Ursula von der Leyen vor zwei Wo-
chen ihren Wirtschaftskommissar vor-
stellte, war das Erstaunen in Deutschland groß:
Paolo Gentiloni kommt aus Italien, dem EU-Staat
mit dem zweithöchsten Schuldenberg und dem
schwächsten Wirtschaftswachstum der Euro-Zo-
ne. „Wenn ein italienischer Sozialdemokrat die
Aufsicht über die gemeinsame Währung bekom-
men soll, fragen sich viele, ob hier nicht der Bock
zum Gärtner gemacht wird“, meint CSU-Europa-
parlamentarier Markus Ferber. Gentiloni müsse
daher „eine ganz klare Aussage dazu machen,
wie er es mit dem Stabilitäts- und Wachstums-
pakt und den europäischen Fiskalregeln hält“.
Den Wunsch hat Gentiloni in seiner obligatori-
schen Anhörung als Kommissionsanwärter erfüllt


  • allerdings nicht unbedingt im Sinne eines deut-
    schen Christdemokraten. „Ich werde die Flexibi-
    lität im Pakt wenn nötig nutzen“, sagte der Sozial-
    demokrat am Donnerstagmorgen im Europapar-
    lament. Dabei wolle er sich auf die „Reduzierung
    von Schulden konzentrieren“, zugleich aber auch
    „fiskalische Spielräume nutzen“, um dem dro-
    henden Wirtschaftsabschwung entgegenzuwir-
    ken. Der Stabilitätspakt habe nicht nur die Haus-
    haltskonsolidierung zum Ziel, sondern auch die
    Wachstumsförderung. „Die Geldpolitik allein
    reicht nicht, um die schwache Konjunktur anzu-
    kurbeln. Wir brauchen auch eine koordinierte
    Fiskalpolitik“, so Gentiloni. Die Haushaltsvor-
    schriften des Paktes, insbesondere die Limits für
    das Staatsdefizit (drei Prozent des Bruttoinlands-
    produkts) und für die Gesamtverschuldung (
    Prozent des BIP) erwähnte er nicht.
    Damit dürfte klar sein, dass es der künftige
    Wirtschaftskommissar mit der Haushaltskonsoli-
    dierung ebenso hält wie der bisherige: Sie hat
    keine Priorität. Die Drei-Prozent-Obergrenze hat-
    te Amtsinhaber Pierre Moscovici schon nicht be-
    sonders ernst genommen. Sein Nachfolger wird
    es erst recht nicht tun. Wie Gentiloni mit dem
    Staatshaushalt seines Heimatlandes umgehen
    wird, ließ er offen. Er betonte lediglich, dass Ita-
    lien keine Vorzugsbehandlung zu erwarten habe.
    Nach seinem Amtsantritt am 1. November muss
    Gentiloni sehr schnell entscheiden, ob ein Straf-
    verfahren wegen überhöhter Schulden gegen Ita-
    lien eingeleitet wird oder nicht.
    Völlig freie Hand wird der neue EU-Wirtschafts-
    kommissar dabei nicht haben. Kommissionsvize
    Valdis Dombrovskis, ebenfalls für die Euro-Zone
    zuständig, soll auf den Italiener aufpassen. So hat
    es die künftige Kommissionschefin verfügt. Dom-
    brovskis holt sich dafür deutsche Unterstützung:
    Michael Hager, bisher Kabinettschef von EU-
    Kommissar Günther Oettinger, werde zu Dom-
    brovskis wechseln, hieß es in EU-Kreisen. Hager


gilt als Kenner der EU-Institutionen und als An-
hänger der Haushaltsvorschriften des Paktes.
Der 64-jährige studierte Politologe Gentiloni ist
kein Fachmann für Wirtschaft. Allenfalls in seiner
kurzen Amtszeit als Premierminister (2016 bis
2018) musste er sich mit fiskalpolitischen Fragen
auseinandersetzen. Gleichwohl meisterte er die
dreistündige Anhörung souverän. Die teils sehr
detaillierten Fragen der Abgeordneten beantwor-
tete er frei und ohne abzulesen. Anders als Mos-
covici scheint Gentiloni ein Mann zu sein, der sel-
ber Akten studiert und die Fachfragen nicht nur
seinen Mitarbeitern überlässt.
Neben der Überwachung der nationalen Bud-
gets der EU-Staaten stehen Reformen der Wäh-
rungsunion auf der Agenda des künftigen Wirt-
schaftskommissars. Gentiloni sprach sich – eben-
so wie zuvor auch von der Leyen – für die
Einführung einer Arbeitslosenrückversicherung
in der Euro-Zone aus. Es gehe darum, die Sozial-
systeme von Mitgliedstaaten in Krisenzeiten zu
unterstützen, erst einmal mit Darlehen, später
vielleicht auch mit Zuschüssen, so Gentiloni. Er
plädierte auch dafür, der Euro-Zone einen ge-
meinsamen Haushalt zu geben. Um das soge-
nannte „Instrument für Konvergenz und Wettbe-
werbsfähigkeit“ wird in der Euro-Zone seit gerau-
mer Zeit gestritten; nächste Woche will der
EU-Finanzministerrat dazu einen Beschluss fas-
sen. Gentiloni kündigte außerdem eine Überprü-
fung des Stabilitätspaktes bis Jahresende an. Er
räumte ein, dass die Vorschriften des Paktes ver-
einfacht werden müssten. Undurchschaubare
Kriterien wie das Potenzialwachstum müssten
eventuell durch transparentere Messzahlen wie
ein staatliches Ausgabenziel ersetzt werden.
Ebenso wie Moscovici soll sich auch Gentiloni
um die EU-Steuerpolitik kümmern. Er sprach
sich für eine CO 2 -Steuer auf Importe aus Dritt-
staaten aus. Die Anfang dieses Jahres gescheiterte
EU-Digitalsteuer will er eventuell wiederbeleben


  • allerdings erst Ende 2020. Wenn bis dahin kein
    internationaler Konsens über die Besteuerung di-
    gitaler Erträge großer Unternehmen erzielt wor-
    den sei, müsse die EU allein handeln, so Gentilo-
    ni. Dann müsse man auch die Harmonisierung
    der Bemessungsgrundlage bei der Körperschaft-
    steuer in Angriff nehmen. An dem Vorhaben ar-
    beitet die EU schon seit fast einem Jahrzehnt ver-
    geblich. Ein wesentlicher Grund für den Still-
    stand in der europäischen Steuerpolitik ist der
    Zwang zu einstimmigen Beschlüssen. Das Veto ei-
    nes einzigen Mitgliedstaates genügt, um EU-Steu-
    ergesetze zu stoppen. Gentiloni will das ändern
    und Möglichkeiten für Mehrheitsbeschlüsse in
    der Steuerpolitik ausloten. Ohne EU-Vertragsän-
    derung dürfte das allerdings schwierig werden.
    Ruth Berschens


Paolo Gentiloni:
Anhörung im EU-Parlament
souverän gemeistert.

AP

Handels-


kriege sind


leicht zu


beginnen,


aber sie


nehmen


meist kein


gutes Ende.


Jean-Claude Juncker
EU-Kommissionschef

eigenen Subventionen für ihre Flugzeugindustrie
zurückfahren könnten. Dabei geht es darum, die
staatliche Anschubfinanzierung für die Entwick-
lung neuer Modelle zurückzufahren. Im nächsten
Schritt könnten EU und USA auf Länder wie China,
Russland oder Brasilien zugehen, die ihre Anbieter
mit Staatshilfen aufpäppelten. Diese seien das ei-
gentliche Problem, so die Kommission.
Eine Antwort auf das Angebot blieb Washington
aber bislang schuldig. Lighthizer machte keinen
Hehl daraus, dass die US-Regierung zunächst die
eigenen Zölle in Kraft treten lassen wolle, um diese
als Druckmittel einzusetzen. „Über Jahre hat
Europa Airbus massiv subventioniert und dabei
der US-Luftfahrtindustrie und ihren Arbeitern
schwer geschadet“, sagte der US-Handelsbeauftrag-
te. Er wolle nun in Verhandlungen mit der EU er-
reichen, „das Problem so zu lösen, dass die ameri-
kanischen Arbeitnehmer davon profitieren“.


EU plant Vergeltung für Mitte 2020


Die EU-Staaten aber halten dagegen: „Die US-Zölle
werden unsere Position nicht aufweichen“, sagt ein
Diplomat. Die Europäer gehen davon aus, dass die
WTO sie im nächsten Frühjahr oder Sommer zu
noch höheren Vergeltungsmaßnahmen ermächti-
gen wird als nun die USA. „Wir kommen dann in ei-
ne Eskalationsspirale von Zöllen und Gegenmaß-
nahmen der EU, die unausweichlich sind, falls die
USA ihre Zölle anwenden“, warnte Le Maire.
Allerdings muss die EU darauf achten, die Rei-
hen geschlossen zu halten. Die US-Seite habe die
Zölle so angelegt, dass sie spaltend wirkten, warnt
der Grünen-Europaabgeordnete Reinhard Bütiko-
fer. So finden sich auf der US-Liste etliche italieni-
sche Exportschlager wie Parmesan-Käse, Pasta
oder Wein, obwohl das Land nicht an den Airbus-
Programmen beteiligt ist. Die Strafzölle würden Ita-
lien „sehr wehtun“, sagte Premier Conte.
Hauptziel der Strafmaßnahmen ist aber Airbus
selbst. Der Konzern muss zehn Prozent Zoll auf
neue in die USA importierte Verkehrsflugzeuge ab-
führen und verliert damit an preislicher Wettbe-
werbsfähigkeit. Allerdings nimmt die US-Regierung
einzelne Bauteile aus und verschont damit die Air-
bus-Produktion im eigenen Land. Der Konzern
baut in seinem Werk im Bundesstaat Alabama Ma-
schinen der A320-Serie. Der Airbus-Aktienkurs leg-
te daraufhin deutlich zu. Der Konzern forderte USA
und EU auf, sich um eine Verhandlungslösung zu
bemühen, bevor die Luftfahrtindustrie und die
Weltwirtschaft „erheblich geschädigt werden“.
Offen ist, ob der Konflikt um die Flugzeugbauer
auch das Klima für die übrigen Handelsgespräche
zwischen den beiden Handelsmächten belastet.
„Wir hatten gehofft, dass die neue EU-Kommission
mit der designierten Präsidentin von der Leyen ei-
ne Chance für die Verbesserung der handelspoliti-
schen Beziehungen bietet“, sagte Ulrich Acker-
mann vom Maschinenbauverband VDMA. „Leider
sieht es jetzt nicht nach einer Entspannung aus.“
Die von Juncker und Trump vor gut einem Jahr
vereinbarten Gespräche über ein Industriezollab-
kommen stecken fest, weil Washington auf die Ein-
beziehung des Agrarsektors pocht. Fruchtbarer
verlaufen die Verhandlungen über die gegenseitige
Anerkennung von Sicherheitsprüfungen etwa im
Maschinenbau oder in der Pharmaindustrie, aller-
dings gibt es auch hier noch keine Ergebnisse.
In Brüssel herrscht dennoch die Hoffnung, dass
Trump auf die angedrohten Autozölle verzichtet.
Der US-Präsident hatte den Europäern eine Frist
bis Mitte November gesetzt, um eine Beschränkung
ihrer Autoexporte in die Vereinigten Staaten zu ak-
zeptieren – was diese strikt ablehnen. Um das The-
ma sei es „erfreulich ruhig geworden“, sagt ein EU-
Diplomat. Womöglich habe auch Trump angesichts
der schwächelnden Konjunktur derzeit kein Inte-
resse, einen Konflikt von derartiger Größenord-
nung anzuzetteln. Der WTO-Entscheid biete dem
US-Präsidenten nun auch so die Gelegenheit, die
ungeliebte EU mit Zöllen zu treffen.


Wirtschaft & Politik


WOCHENENDE 4./5./6. OKTOBER 2019, NR. 191
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