Handelsblatt - 04.10.2019

(nextflipdebug5) #1

wackelige Treppe eines Metallgerüsts
hinauf, das auf die oberen Etagen der
ehemaligen Lebensmittelfabrik des Mi-
litärs führt. „Hier entsteht auf 12 000
Quadratmetern der größte Start-up-
Hub in Portugal“, sagt Schäfer, der das
Projekt als Chef des Bauträgeres Facto-
ry finanziert. Zugleich leitet er „Start-
up Portugal“ – eine Initiative, die junge
Gründer fördern will.
In dem Gebäude röhren noch die
Schlagbohrer, Wände werden eingeris-
sen und Zwischendecken angebracht.
Alles soll groß und luftig werden, mit
riesigen Glasfenstern, die den Blick auf
den Fluss Tejo freigeben. Im Sommer
2020 soll alles fertig sein.


IT-Talente verfügbar


Der Deutsche hat in Berlin zwei ähnli-
che Start-up-Komplexe gebaut. „Der
Unterschied ist, dass hier die Politik
voll hinter dem Projekt steht und auch
bereit ist, Risiken einzugehen“, sagt
Schäfer. So muss er der Stadt Lissabon
erst dann Miete zahlen, wenn er selbst
mit den Mieteinnahmen einen Gewinn
erzielt. „Bei zwölf Millionen Euro In-
vestitionen wird das zehn bis zwölf
Jahre dauern“, sagt er. „In Berlin wäre
das kaum vorstellbar gewesen.“
Portugal hat gut ausgebildete und
mehrsprachige Entwickler, die nicht
nur billiger sind als ihre Pendants in
Deutschland, sondern vor allem noch


verfügbar. In Deutschland dagegen ist
der Markt für Software-Ingenieure na-
hezu leer gefegt. Alle drei großen deut-
schen Autobauer haben deshalb inzwi-
schen Software-Entwicklungszentren
in Portugal.
Zu den portugiesischen Vorzeige-
Unternehmen der Branche gehört Cri-
tical Software. 80 Prozent der Kunden
sitzen im Ausland – von der amerikani-
schen Raumfahrtagentur Nasa über
Alstom bis Vodafone. „Wir machen
nur die komplizierten Sachen und ent-
wickeln Lösungen von Grund auf “,
sagt Unternehmenschef João Carreira.
Das mache sein Unternehmen für gute
Entwickler attraktiv.
Im vergangenen Jahr gründete BMW
ein Gemeinschaftsunternehmen mit
Critical Software. „Das Joint Venture
bringt uns Talente, die wir allein kurz-
fristig so vielleicht nicht bekommen
hätten“, sagt Jochen Kirschbaum, COO
des Gemeinschaftsunternehmens.
Die Portugiesen arbeiten mit den
Münchenern unter anderem an Lö-
sungen für das autonome Fahren. 650
Entwickler hat das Gemeinschaftsun-
ternehmen Critical Techworks bereits
eingestellt – eine Größenordnung, die
sich in vielen EU-Ländern in so kurzer
Zeit nur schwer realisieren ließe. Im
Lissabonner Büro arbeiten sie auf vier
Etagen, die Kollegen der Mutter Criti-
cal Software nur auf zweien.

Direkt vor der Tür liegt ein Regional-
bahnhof, ein paar Meter weiter die Me-
tro-Station. „Wir sind aus einem Vorort
hierhergezogen, weil die jungen Mitar-
beiter in der Innenstadt arbeiten und
mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur
Arbeit kommen wollen“, erklärt Car-
reira. Auch in Portugal versuchen die
Unternehmen im Kampf um Talente,
den begehrten Entwicklern die besten
Arbeitsbedingungen zu bieten.
Beispiele wie die von Critical Soft-
ware spiegeln die Erfolgsära Costas wi-
der und verstärken sie zugleich. In der
jüngsten Umfrage liegen die Sozialisten
bei 37 Prozent – sieben Prozentpunkte
vor den Konservativen als zweistärkste
Partei. Nach dem portugiesischen
Wahlsystem könnten sie ab einem
Stimmenanteil von rund 40 Prozent
die absolute Mehrheit der Sitze im Par-
lament schaffen.
Bisher hat Costa eine Minderheitsre-
gierung angeführt, unterstützt von
Kommunisten, dem linken Block und
den Grünen. Ihnen machte er Zuge-
ständnisse, ohne aber sein eigenes
Programm stark zu verändern. Für Pe-
dro Delgado Alves, Vizechef der sozia-
listischen Fraktion, liegt darin ein
Grund für die Stabilität der portugiesi-
schen Politik. „Wenn eine Partei ihrem
Profil und ihrer Identität treu bleibt,
verhindert sie, dass neue populistische
Strömungen entstehen, die das abde-
cken“, sagt er.
Auch für rechtsradikale Parteien ist
in Portugal kein Platz. Zwar hat sich
als Folge der parteiinternen Krise der
konservativen PSD mit Chega vor eini-
gen Monaten eine neue Rechtsaußen-

Partei gegründet. Doch sie kommt in
den Umfragen nur auf ein Prozent.
Die seit Jahren existierende rechtsradi-
kale „Partido Nacional Renovador“
bleibt sogar noch darunter. Portugal
hat kein Immigrationsproblem und
Euro-skeptische Positionen haben tra-
ditionell die Kommunisten und der
linke Block vertreten.
Doch als neue Blaupause für den
Weg aus der Krise – so wie die Sozialis-
ten ihre Bilanz gerne verkaufen – diene
Portugal nicht, sagt Politikberater San-
ti. Denn Costa hatte auch einfach
Glück: Das weltweite Wirtschafts-
wachstum habe just zu seinem Amts-
antritt 2015 Fahrt aufgenommen und
seine Lage sehr erleichtert.
Dennoch zollen selbst die Konserva-
tiven Costa hinter vorgehaltener Hand
Respekt für seine Leistung. So ist das
Haushaltsdefizit von 4,4 Prozent bei
Amtsantritt der Sozialisten stark gesun-
ken. In diesem Jahr soll es bei 0,2 Pro-
zent liegen. Der Architekt dieses Er-
folgs, Finanzminister Mário Centeno,
wurde 2018 zum Chef der Euro-Grup-
pe ernannt. Im Pavillon Carlos Lopes
bejubeln ihn die Parteimitglieder
ebenso euphorisch wie Costa. Doch
der Premier, monieren die Konservati-
ven, habe notwendige strukturelle Re-
formen versäumt. So sei etwa das Ge-
sundheitssystem durch fehlende Inves-
titionen in einem schlechten Zustand.

Auch ist die Verschuldung von Staat,
Unternehmen und privaten Haushal-
ten hoch. Die Staatsschulden lagen im
vergangenen Jahr bei 122 Prozent der
Wirtschaftsleistung. Das ist der dritt-
höchste Wert in der EU hinter Grie-
chenland und Italien. „Ich fürchte,
dass der portugiesische Wirtschaftsauf-
schwung nur temporär ist. Wenn die
nächste Krise kommt, wird die Lage
hier wieder sehr schwierig“, sagt Filipe
García, Chef der Beratung Informaçao
de Mercados Financeiros. Auch die
Analysten der Commerzbank weisen
darauf hin, dass Erfolge beim Defizit
vor allem dem starken Wachstum und
den niedrigen Zinsen der EZB zu ver-
danken sind.

Hippes Touristenziel
Doch auch wenn Portugals Boom nur
temporär ist, das Land hat ihn für ei-
nen wichtigen Imagewandel genutzt
und ist zum Touristen-Hotspot gewor-
den. Die Einnahmen mit Urlaubern
sind in den vergangenen drei Jahren
um 45 Prozent gestiegen – so stark wie
nirgendwo sonst in Europa. Tourismus
machte 2017 13,7 Prozent der Wirt-
schaftsleistung aus.
Dieser Boom liege nicht allein an
der Angst vor Terrorangriffen in be-
liebten Zielen wie der Türkei oder
Nordafrika, betont Ana Mendes Go-
dingho, Staatssekretärin für Touris-
mus. „Unsere größten Zuwächse stam-
men aus neuen Herkunftsländern.“
Aus den USA und Kanada, Brasilien
und China. 580 neue Flugverbindun-
gen hat Portugal in den vergangenen
drei Jahren geschaffen. Der Flughafen

in Lissabon wird zu klein. Costa plant
einen zweiten. 117 000 neue Arbeits-
plätze sind Godingho zufolge in der
Branche entstanden. Sie haben gehol-
fen, die Arbeitslosenquote von zwölf
Prozent im Jahr 2015 auf 6,2 Prozent
zu senken.
Bei ihren Tourismusplänen setzte
die Regierung auch auf die heimischen
Software-Entwickler: Sie rief Start-ups
auf, Ideen für touristische Erlebnisse
zu entwickeln. Mehr als 600 beteilig-
ten sich. Reisende können jetzt etwa
ein Elektroauto mit einer Kamera auf
dem Dach mieten, die online live Bil-
der der Urlaubstouren für Freunde zur
Verfügung stellt. Oder sie buchen ein
Hotel, dessen Preis je nach Wasser-
und Stromverbrauch vor Ort variiert.
Der deutlichste Wandel lässt sich in
der Hauptstadt Lissabon beobachten.
Das Zentrum, vor zehn Jahren noch
weitgehend verödet, entwickelt sich
zum Hipster-Paradies mit Ramen-Bi-
stros, veganen Restaurants und De-
sign-Läden. Die Immobilienpreise stei-
gen rasant, überall werden baufällige
Altbauten mit ihren traditionellen Ka-
cheln an den Wänden aufwendig res-
tauriert. „Portugal gilt heute bei Tou-
risten als hip“, sagt Politologin David.
„Diesen Imagewandel hat schon die
konservative Regierung begonnen. Die
Sozialisten haben ihn erfolgreich wei-
tergeführt.“

António Costa:
Die sozialistische
Partei des portugiesi-
schen Regierungs-
chefs liegt in den Um-
fragen deutlich vorn.

AFP/Getty Images

Der


Unterschied


ist, dass hier


die Politik


voll hinter


dem Projekt


steht und


auch bereit


ist, Risiken


einzugehen.


Simon Schäfer
Start-up-Hub-
Entwickler

Lissabon:
In Portugal ist die
Arbeitslosen -
quote deutlich
zurückgegangen.

imageBROKER / Mara Brandl

Touristen in Lissabon:
Nirgendwo sonst in
Europa ist die Zahl
der Urlauber in den
vergangenen Jahren
so stark gestiegen
wie in Portugal.

G&M Therin-Weise / RHPL / vario

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Wirtschaft & Politik
WOCHENENDE 4./5./6. OKTOBER 2019, NR. 191
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