Handelsblatt - 04.10.2019

(nextflipdebug5) #1
Torsten Riecke Belfast

D

er Ausblick in die Ver-
gangenheit erscheint
grandios. Vor uns liegt
der Carlingford-Fjord
in der Abendsonne,
dahinter friedlich die oft stürmische
Irische See. „Da unten ist Warren-
point“, sagt Peadar Carpenter und
zeigt hinunter auf die kleine Hafen-
stadt an der nordirischen Ostküste.
Nichts erinnert auf den ersten Blick
an das Grauen, das hier an der un-
sichtbaren Grenze auf der irischen
Insel vor nicht allzu langer Zeit noch
allgegenwärtig war. „Dort verloren
vor 30 Jahren 18 britische Soldaten in
einem Hinterhalt der IRA ihr Leben“,
sagt der pensionierte Diplomat, der
hier zwischen dem irischen Newry
und dem nordirischen Omeath auf-
gewachsen ist.
„Jede Familie in der Grenzregion“,
erzählt Carpenter, „trägt bis heute
schmerzhafte Erinnerungen aus der
Zeit des Bürgerkrieges mit sich he-
rum.“ Mehr als 3 400 Menschen ka-
men damals ums Leben, etwa
40 000 wurden verletzt. Die „Trou-
bles“, wie die Iren die Zeit von 1969
bis 1998 nennen, sind wie Narben,
die nicht heilen wollen. Nur wenige
Meilen entfernt, unweit der nordiri-
schen Stadt Armagh, liegt die Kings-
mill Road, wo 1976 elf protestanti-
sche Arbeiter auf dem Weg nach
Hause von IRA-Terroristen hinge-
richtet wurden. Ein Stück weiter im
Norden im Dorf Loughinisland
stürmten noch 1994 Paramilitärs der
protestantischen Ulster Volunteer
Force in einen katholischen Pub und
erschossen sechs Männer, die gera-
de vor dem Fernseher die irische
Nationalmannschaft im Fußball-
Weltmeisterschaftsspiel gegen Italien
anfeuerten.
Erst das Karfreitagsabkommen von
1998 brachte einen bis heute leicht
zerbrechlichen Frieden auf die iri-
sche Insel. Selbst danach kam es
noch vereinzelt zu Anschlägen auf
Polizeibeamte. Und im April dieses
Jahres kam die nordirische Journalis-
tin Lyra McKee im Kreuzfeuer der
„New IRA“ ums Leben.

Angst vor der Gewalt
Über die Angst, dass die Gewalt nach
einem Brexit nach Nordirland zu-
rückkehren könnte, wird offiziell
kaum gesprochen, und doch ist sie
überall spürbar. „Sollte es Zollkon-
trollen mit neuen Grenzeinrichtun-
gen geben, könnten die Grenzposten
und die Beamten, die dort arbeiten,
zu Zielscheiben neuer Anschläge
werden“, warnen Regierungsvertre-
ter in Dublin und Belfast. Chris Pat-
ten, der nach dem Karfreitagsabkom-
men von 1998 eine unabhängige
Kommission zur Sicherheit in Nordir-
land leitete, wird da schon deutli-
cher: „Wenn wir bei der Grenzfrage
einen Fehler machen, werden erneut
Menschen sterben.“
Der sogenannte Backstop und die
nordirische Grenze sind zum Dreh-
und Angelpunkt des Brexit-Dramas
geworden. „Wer das verstehen will,
der muss nach Nordirland kommen“,
sagt Seamas de Faoite, Stadtverord-
neter der sozialdemokratischen Par-
tei SDLP in Belfast. Tatsächlich ist die
Reise nach Nordirland wie eine
schrittweise Annäherung an den po-
litischen Streit, der Europa zu zerrei-
ßen droht. Aus dem technokrati-
schen Begriff „Backstop“, über den
London und Brüssel auch nach den
jüngsten Vorschlägen des britischen
Premierministers Boris Johnson im-
mer noch ringen und der im Kern ei-
ne Notlösung darstellt, um eine harte

Grenze zwischen den beiden irischen
Landesteilen zu vermeiden, wird auf
halber Strecke zwischen Dublin und
Belfast ein sehr konkretes Problem,
das den Alltag der geteilten Insel mit
ihren insgesamt mehr als 6,5 Millio-
nen Einwohnern bestimmt. Dass die
500 Kilometer lange Grenze oft quer
durch Ortschaften und manchmal so-
gar mitten durch Häuser verläuft,
macht die Sache nicht leichter. Ein
Beispiel: Im größten Krankenhaus
der nordirischen Stadt Derry kom-
men fast 70 Prozent der Kranken-
schwestern aus der irischen Repu-
blik.
Mehr als 14 000 Lkws fahren täg-
lich oft mehrmals über die unsichtba-
re Grenze und halten so die Wirt-
schaft auf beiden Seiten am Leben.
Coca-Cola zum Beispiel produziert

Grenzerfahrungen


Eine mögliche harte Grenze zwischen Nordirland und


der Republik Irland dominiert den Streit um den


EU-Ausstieg Großbritanniens. Der Frieden ist 21 Jahre nach


dem Karfreitagsabkommen immer noch brüchig.


Die Friedensbrücke im
nordirischen Derry: Die
Bürgerkriegsgefahr ist real.

Ros Kavanagh/VIEW / FOTOFINDER.COM

Irischer Außenhandel
Nordirische Exporte* nach Irland in Mio. Euro Irische Exporte* nach Nordirland in Mio. Euro

HANDELSBLATT *Top-5-Produkte 2018 • Quellen: HMRC, UK Trade Info

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Sonstige Waren

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195,

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WOCHENENDE 4./5./6. OKTOBER 2019, NR. 191
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