Handelsblatt - 04.10.2019

(nextflipdebug5) #1

den Sirup für seine braune Brause in
der irischen Republik, die Flaschen
werden aber in Nordirland abgefüllt
und dann wieder zurück über die
Grenze gebracht. So geht es mit vie-
len Produkten. Für die Herstellung
des cremigen Schnaps Baileys sind
fünf Grenzübertritte notwendig um
die Lieferkette bis zum Endprodukt
durchzuziehen. „Sollten dafür künf-
tig umfangreiche Zollpapiere oder
gar Zölle notwendig sein, wäre das
ein Desaster“, warnt Seamus Leheny,
Manager des nordirischen Logistik-
verbandes FTA.
Insbesondere die Farmer sind vom
kleinen Grenzverkehr abhängig. Auf
nordirischer Seite verdanken die
Landwirte bis zu 80 Prozent ihres
Einkommens den Subventionen aus
Brüssel. „400 000 Schweine werden
jenseits der Grenze verarbeitet“, be-
richtet Joe Healy, Präsident des iri-
schen Bauernverbandes. Rund 40
Prozent der landwirtschaftlichen
Ausfuhren Irlands gehen nach Groß-
britannien. „Ein harter Brexit ohne
Abkommen und eine harte Grenze
zu Nordirland wären für uns ein De-
saster“, warnt der Farmer, der selbst
einen Hof mit 100 Kühen betreibt.
Die neuen Vorschläge von Boris
Johnson hält er für „Blödsinn“. Für
Healy sieht es so aus, als ob London
und Brüssel wie Schlafwandler auf
eine Katastrophe zusteuern. Aber
auch für ihn geht es nicht nur um
Schweineexporte und Milchausfuh-
ren. „Die Grenzfrage entscheidet vor
allem über den Frieden auf der iri-
schen Insel.“


Europäischer Brennpunkt


„Handel und Wirtschaft sind wich-
tig“, betont auch der irische Außen-
minister Simon Coveney, „aber es
geht um so viel mehr.“ Vor allem geht
es nach fast 30 Jahren Bürgerkrieg
um das friedliche Zusammenleben
einer noch immer traumatisierten
und tief gespaltenen Gesellschaft, für
die das Karfreitagsabkommen den
Weg geebnet hat. Doch je näher man
den Grenzerfahrungen in Nordirland
kommt, desto klarer wird es, dass
der Geist des Belfaster Friedensab-
kommens von 1998 mit der Idee des
Brexits unvereinbar ist. „Das Karfrei-
tagsabkommen steht unter Be-
schuss“, sagt der Belfaster Bürger-
meister John Finucane. Mehr noch:
„Der Brexit hat für uns Nordiren
Shakespeares ewige Frage nach dem
Sein oder Nicht-Sein wieder aufge-
worfen“, erklärt Duncan Morrow, Po-
litologe an der Ulster University in
Belfast. Nach dem Karfreitagsabkom-
men konnten die Nordiren wählen,
ob sie Iren, Briten oder beides sein
wollten. „Jetzt müssen wir uns wie-
der für eine Identität entscheiden“,
sagt Morrow und schickt seine Ankla-
ge in Richtung London: „Wir fühlen
uns wie der Kollateralschaden des
englischen Nationalismus.“
Dass Nordirland überhaupt zum
Brennpunkt europäischer Politik
werden konnte, liegt an einer Ent-
scheidung, die der englische König
Jacob I. bereits vor 400 Jahren traf:
Damals begann der Monarch mit der
Ansiedlung englischer und schotti-
scher Protestanten in Nordirland und
legte damit die Saat für einen religi-
ös-kulturellen Konflikt zwischen den
beiden Religionsgemeinschaften, der
bis heute andauert. Noch immer ist
der katholische Stadtteil Falls in Bel-
fast vom benachbarten protestanti-
schen Viertel Shankill durch eine ho-
he Mauer getrennt, deren eiserne To-
re regelmäßig geschlossen werden.
Noch immer weht vor protestanti-
schen Häusern hinter hohen Zäunen
trotzig der britische Union Jack oder


die orangefarbene Unions-Flagge.
„Ich habe mit 15 Jahren zum ersten
Mal mit einem katholischen Jungen
gesprochen“, erzählt die 16-jährige
Rebecca vom Belfaster Jugendprojekt
Springboard. Mit ins protestantische
Elternhaus würde sie ihre katholi-
schen Freunde allerdings nicht neh-
men. Springboard ist eine von vielen
Initiativen, die sich seit dem Karfrei-
tagsabkommen um eine Annäherung
zwischen Protestanten und Katholi-
ken bemühen.
Auch die beiden Teile Irlands sind
sich durch das Karfreitagsabkommen
politisch näher gekommen. So
gibt es heute einen gemein-
samen „North South Mi-
nisterial Council“, der
nach den Plänen
Johnsons künftig ei-
ne wichtige Rolle
bei der Frage spie-
len soll, welche
Regeln und Stan-
dards auf der iri-
schen Insel gelten
sollen – europäi-
sche oder britische.
Das ist keine Kleinig-
keit, befürchten doch vie-
le Iren, dass Johnson nach
dem Brexit einen „Deregulierungs-
wettlauf nach unten“ um die nied-
rigsten Standards starten könnte.
„London könnte zum Beispiel die
Mindestlöhne senken“, warnt Patri-
cia King, Generalsekretärin der iri-
schen Gewerkschaften ICTU.
Einen solchen Wettlauf nach unten
soll der gemeinsame Ministerrat aus
Iren und Nordiren eigentlich verhin-
dern. Nur ist das Gremium seit drei
Jahren nicht mehr arbeitsfähig, weil
das nordirische Parlament und die
Belfaster Regierung ihre Mitarbeit
verweigern und nicht mehr zusam-
menkommen. „Die beiden großen
Parteien, die katholische Sinn Fein
und die protestantische DUP, scheu-
en unpopuläre Entscheidungen, die
ihnen Wählerstimmen kosten könn-
ten“, berichtet der Belfaster Stadtrat
de Faoite. Dass beide politischen Blö-
cke in Nordirland die Macht teilen
müssen und zu einer Koalition ge-
zwungen sind, führt zudem dazu,
dass sie sich mit einem Veto gegensei-
tig ausbremsen können. „Das gibt
den Unionisten der DUP die Möglich-
keit, die im Johnson-Plan vorgesehe-
ne regelmäßige Verlängerung ge-
meinsamer europäischer Regeln und
Standards auf der irischen Insel zu
blockieren“, warnt Kevin Conmy,
Joint Secretary und ständiger Vertre-
ter Irlands in Belfast.
Dass die nordirischen Farmer nicht
nur die treuesten Anhänger der DUP
sind, sondern auch von einem harten
Brexit wirtschaftlich am stärksten be-
troffen wären, gehört zu den vielen
Widersprüchen in einem Land, in
dem politische Identität immer noch
mehr zählt als das Portemonnaie. In-
sofern trägt Nordirland nicht nur die
Last der gewaltsamen Vergangenheit
mit sich, sondern zeigt dem vom Po-
pulismus erschütterten Rest Europas
auch, was eine Politik anrichten
kann, die Identität und Ideologie
pragmatischen Lösungen für die
Menschen vorzieht.
Einen Ausweg aus der Brexit-Sack-
gasse wissen auch die Nordiren nicht.
„Offenbar könnte nur eine Vereini-
gung Irlands den Widerspruch
zwischen Brexit und dem Karfreitags-
abkommen auflösen“, sagt Sam
McBride. Dass dieser Vorschlag aus-
gerechnet von einem Journalisten
kommt, dessen Newsletter den Unio-
nisten nahesteht, zeigt, wie verzwei-
felt die Lage an der nordirischen
Grenze ist.

HANDELSBLATT

REPUBLIK
IRLAND
EU

NORDIRLAND
Großbritannien

IRI

SC

HE

SE

E

Belfast

Dublin

Simon Coveney:
„Handel und
Wirtschaft sind
wichtig.“

imago images / ZUMA Press

Brexit-Vorschläge

EU-27 bleibt skeptisch


G


uten Willen zeigen, aber in
der Sache hart bleiben: Auf
den kurzen Nenner lässt
sich die Haltung der EU-27 zu den
jüngsten Brexit-Vorschlägen aus
London bringen. Nach wochenlan-
gen Vorgesprächen hatte der briti-
sche Premier Boris Johnson am
Mittwoch endlich einen offiziellen
Änderungsvorschlag zum vorlie-
genden britischen Austrittsabkom-
men in Brüssel vorgelegt. Johnson
will damit erreichen, dass der so-
genannte Backstop für Irland aus
dem Abkommen gestrichen wird.
Er sieht vor, dass ganz Großbritan-
nien so lange in einer Zollunion
mit der EU bleibt, bis sich beide
Seiten auf ein Handelsabkommen
geeinigt haben. Auf diese Weise
sollen friedensgefährdende Grenz-
kontrollen an der Landgrenze zwi-
schen dem EU-Mitglied Irland und
der britischen Provinz Nordirland
vermieden werden.
Johnsons abgeschwächte Alter-
native: Nordirland bleibt zwar
nach dem Austritt noch Teil des
EU-Binnenmarktes. Doch aus der
Zollunion mit der EU tritt das ge-
samte Vereinigte Königreich aus.
Dass damit Zollkontrollen in Irland
nötig werden, räumt Johnson ein.
Sie sollen aber nicht an der Gren-
ze, sondern in nicht näher spezifi-
zierten Kontrollzentren im Hinter-
land stattfinden.
Die EU-27 lehnte den Londoner
Vorstoß zwar nicht rundweg ab.
Doch kaum jemand in Brüssel
glaubt ernsthaft daran, dass damit
ein geregelter Austritt am 31. Okto-
ber möglich wird. Immerhin konn-
te Kommissionspräsident Jean-
Claude Juncker dem britischen
Vorschlag überhaupt etwas Gutes
abgewinnen. Dass Johnson nun ak-
zeptiere, alle Güter in Nordirland
den EU-Binnenmarktregeln zu un-
terwerfen, sei ein „positiver Fort-
schritt“, sagte Juncker nach einem
Telefonat mit dem britischen Pre-
mier am Mittwochabend. Ansons-
ten enthalte der Vorschlag aus
London aber „problematische
Punkte“, so Juncker. EU-Diploma-
ten zufolge ist unklar, wie und wo
Grenzkontrollen stattfinden kön-
nen, ohne den nordirischen Frie-
den zu gefährden. Eine löchrige
EU-Außengrenze, die Schmugglern
Tür und Tor öffnet, will die EU in
Irland keinesfalls dulden.
Die irische Regierung zeigte sich
ebenfalls skeptisch. Der britische
Vorschlag werde den Zielen des
Backstops im Abkommen nicht

vollständig gerecht, hieß es in
Dublin. Man wolle aber nun mit
den Briten über ihren Vorschlag
verhandeln.
Die demonstrative Verhand-
lungsbereitschaft der EU-27 hat
nicht zuletzt mit der Befürchtung
zu tun, sonst am Ende als Sünden-
bock dazustehen. Der Verdacht:
Johnson tut nur so, als ob er ver-
handeln wolle, um der EU-27 am
Ende die Schuld für einen chaoti-
schen Brexit zuschieben zu kön-
nen. In diese Falle wollen die Kon-
tinentaleuropäer nicht tappen.
Am 17. Oktober kommen die EU-
Regierungschefs in Brüssel zu ih-
rem nächsten Gipfeltreffen zusam-
men. Nach derzeitigem Zeitplan
ist das die letzte Gelegenheit, um
ein verändertes Austrittsabkom-
men zu beschließen. EU-Diploma-
ten haben Zweifel, dass man sich
bis dahin mit Johnson einigen
kann. Aus EU-Sicht könnte daher
erneut eine Verlängerung der bri-
tischen EU-Mitgliedschaft nötig
werden, um einen Chaos-Brexit zu
vermeiden.
Der britische Premier schließt je-
doch bisher kategorisch aus, einen
entsprechenden Antrag in Brüssel
zu stellen. Sollte er darauf behar-
ren, könnte nur die britische Justiz
den Chaos-Brexit verhindern. Die
EU-27 hofft, dass ein Gericht John-
son zu einem Verlängerungsantrag
zwingt. Schließlich hatte sich das
Unterhaus klar gegen einen unge-
regelten Brexit ausgesprochen,
und daran muss sich der Regie-
rungschef eigentlich halten.
In Großbritannien fielen die Re-
aktionen auf Johnsons Brexit-Plan
verhalten positiv aus. Der Premier
zeige damit „einen vernünftigen
Weg vorwärts auf “, erklärte die
Chefin der nordirischen DUP-Par-
tei, die in der innerbritischen Bre-
xit-Debatte eine gewichtige Rolle
spielt. Die Tories waren im Parla-
ment lange auf die Unterstützung
der zehn Abgeordneten der DUP
angewiesen. Inzwischen hat John-
son allerdings selbst mit der DUP
keine Mehrheit mehr im Unter-
haus. Genau das bereitet der EU-
ebenfalls große Sorgen. Falls man
sich mit Johnson tatsächlich auf ei-
nen Deal verständige, müsse der
schließlich vom Unterhaus ratifi-
ziert werden. Eine Mehrheit im
Parlament kann Johnson aber gar
nicht garantieren. Ruth Berschens,
Kerstin Leitel

> Leitartikel Seite 18

Boris Johnson:
Der britische Premier-
minister will den
Brexit am 31. Oktober
durch ziehen.
dpa

Wirtschaft & Politik
WOCHENENDE 4./5./6. OKTOBER 2019, NR. 191
15

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