Handelsblatt - 04.10.2019

(nextflipdebug5) #1

Worte des Tages


„Mit jedem Tag, den ich mehr erfahre, komme
ich zu dem Schluss, dass das, was gerade
passiert, kein Amtsenthebungsverfahren ist,
sondern ein Putsch, der dem Volk seine
Macht wegnehmen soll.“
Donald Trump, US-Präsident

Schuldendebatte


Unfähig zu


investieren


S


tarökonom Paul Krugman
knöpfte sich kürzlich in ei-
nem seiner Beiträge Deutsch-
land vor. Mit ihrer „Schuldenobses-
sion“ schade die Bundesregierung
sich selbst und der Weltwirtschaft.
Krugman ging sogar so weit zu be-
haupten, die Welt habe „ein
Deutschland-Problem“. Nach seiner
Meinung braucht die Bundesregie-
rung also nichts weiter zu tun, als
das Mantra der „schwarzen Null“
aufzugeben, die Schulden-Tore weit
aufzureißen – und alles wird gut.
Ja, wenn es doch so einfach wäre.
Es gibt gute Gründe, warum
Deutschland die „schwarze Null“
aufgeben sollte. Der banalste: Wenn
die deutsche Wirtschaft tiefer in
den Abschwung rauscht, hieße, an
der schwarzen Null festzuhalten, in
die Rezession hineinzusparen. Das
wäre völliger Wahnsinn. Darüber
sind sich auch alle mit einem Fun-
ken Wirtschaftsverstand einig.
Umstrittener ist die Frage, ob an-
gesichts des immensen Investitions-
staus und der Megaherausforderun-
gen Digitalisierung und Klimawan-
del ein grundsätzliches Umsteuern
in der Finanzpolitik vonnöten ist.
Zumal dank Niedrigzinsen die Kos-
ten einer neuen Schuldenpolitik
überschaubar sind.
Neuere Studien zeigen, dass es
sich volkswirtschaftlich auszahlt,
über Schulden Investitionen anzu-
stoßen – solange diese sinnvoll sind.
Doch auch wenn das so ist, hilft die-
se Erkenntnis im Augenblick aus
zwei Gründen nicht weiter. Erstens:
Union und SPD haben den Bürgern
die „schwarze Null“ versprochen,
sie ist zudem das einzige gemeinsa-
me Leuchtturm-Projekt der Koaliti-
on. Diesen Leuchtturm abzureißen
wäre sowohl den eigenen Leuten,
aber auch der Bevölkerung in die-
ser Wahlperiode kaum vermittelbar.
Zweitens: Schon jetzt bleiben Mil-
liarden an Fördergeldern wegen
fehlender baureifer Projekte liegen.
Dieses Phänomen besteht seit Jah-
ren, geändert hat sich nichts. Statt
die Koalition für zu geringe Ausga-
ben zu kritisieren, gehört sie viel-
mehr dafür an den Pranger, dass sie
gar nicht imstande ist, in die Zu-
kunft zu investieren. Das ist das
wahre „Deutschland-Problem“.


Solange der Finanzminister auf
Fördergeld sitzen bleibt, ist die
Debatte um die schwarze Null
Spiegelfechterei, so Martin Greive.

Der Autor ist Korrespondent im
Hauptstadtbüro.
Sie erreichen ihn unter:
[email protected]


N

un gibt es ihn, den Brexit-Plan des Boris
Johnson – und das sogar in schriftlicher
Form. Das ist keine Selbstverständlich-
keit. Lange haben die EU-Verhandlungs-
partner auf Verbindliches aus London
warten müssen. Jetzt gibt es wenigstens so etwas wie
eine Verhandlungsbasis für einen möglichen, aber im-
mer noch unwahrscheinlichen Deal.
Nach wie vor löst der Vorschlag des britischen Pre-
miers das zentrale Problem nicht – und es stellt
sich einmal mehr die Frage, ob Johnson überhaupt ein
Abkommen anstrebt. An dem wichtigsten Grundsatz
der Brexiteers hält der Tory-Chef fest: Ganz Großbri-
tannien inklusive Nordirland will er am Tag des Aus-
tritts aus der Zollunion mit der EU herauslösen, ohne
Grenzkontrollen zwischen der britischen Provinz
Nordirland und dem EU-Mitglied Irland einzuführen.
Wie das aber funktionieren soll, ist schleierhaft.
Solange das so bleibt, wird die EU nicht zustimmen –
zu wichtig ist die Solidarität mit Irland, zu groß die Ge-
fahr, dass der blutige Bürgerkrieg, der mit dem histori-
schen Karfreitagsabkommen von 1998 beendet wurde,
wieder ausbrechen könnte. All das weiß Johnson.
Trotzdem sieht er seinen angeblichen Kompromissvor-
schlag weniger als vier Wochen vor dem Brexit-Termin
als letzte Chance.
Seit Monaten reden die Konfliktparteien über nichts
anderes als den Backstop, also jene Sicherungsklausel
im Brexit-Vertrag, die sicherstellen soll, dass es unter
keinen Umständen eine harte Grenze in Irland gibt.
Das ist sicher ein legitimes Anliegen der EU-Partner. Es
sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es
beim Brexit um ganz andere Dimensionen geht als
den Streit über eine Grenze, die keine sein darf.
Das Ausscheiden aus der EU berührt die ganz gro-
ßen Fragen einer Nation. Es geht um Souveränität, es
geht um Sicherheit, und es geht um die ökonomischen
Zukunftsperspektiven. Der größte Fehler dieses unseli-
gen Brexit-Prozesses war es, diese großen Fragen im
Juni 2016 auf eine simple Ja-nein-Frage zu reduzieren.
Weder von einer Brexit-Rechnung war die Rede noch
vom Backstop und schon gar nicht von einem No-Deal.
Johnson hat die Lage seit seinem Amtsantritt Ende
Juli drastisch verschlimmert. Er selbst weiß offenbar
um seine prekäre Situation. Das zeigt schon seine für
einen Regierungschef völlig unangemessene Rhetorik.
„Kollaboration“ oder „Verrat“ wirft er den etwas Nach-
denklicheren in seiner Partei vor – oder gar Feigheit
vor dem Feind. „Lieber tot im Graben liegen“, als die
EU um eine weitere Verschiebung des Brexit-Termins
zu bitten, so wie es das Gesetz ihm vorschreibt, sollte
er keinen Deal erzielen.
Wer so spricht, ist verzweifelt. Wie sollte es auch an-
ders sein? Eine Mehrheit im Parlament hat der Pre-
mier nicht mehr, seit er kritische Tory-Abgeordnete
aus der Fraktion warf. Der Weg zu den ersehnten Neu-
wahlen ist ihm zunächst versperrt. Und auch die im

Königreich politisch so zurückhaltenden Richter des
Su preme Court haben sich mit ihrer einstimmigen Ent-
scheidung, Johnsons Suspendierung des Parlaments
für illegal zu erklären, gegen die Regierung gestellt.
Aus der traditionsreichen, pluralistischen und auf
ihren Pragmatismus so stolzen Tory-Partei hat John-
son inzwischen eine Art Brexit-Sekte gemacht. Und
auch in seinem Kabinett befinden sich inzwischen fast
ausschließlich Brexit-Frömmler und Empire-Nostalgi-
ker, die für rationale Argumente kaum mehr zugäng-
lich sind. Johnson glaubt, das Volk sei sein letzter, aber
wichtigster Verbündeter. Er glaubt, notfalls mit einem
ungeregelten Brexit den Volkswillen zu vollstrecken.
Nur, was ist mit der anderen Hälfte des Volkes, die da-
mals gegen den Austritt gestimmt hat? Und was ist
überhaupt der Wille des Volkes? Der Versuch jeden-
falls, mit der öffentlichen Meinung gegen die staatli-
chen Institutionen zu regieren, wird kaum gelingen.
Aber auch die Europäer, die auf ihre Einigkeit in der
Brexit-Frage so stolz sind, haben Fehler gemacht. Sie
müssen sich fragen, ob sie nicht ihren Teil zur schwie-
rigen Lage auf der Insel beigetragen haben. Viel unter-
nommen, um die moderaten Kräfte in London zu stüt-
zen, haben die Verhandler jedenfalls nicht. Auch des-
halb, weil sie ein abschreckendes Signal an andere
ausstiegswillige Länder senden wollten, so, als sei die
Union eine Art Zwangsklub. Tatsächlich gibt es aus
britischer Sicht auch Gründe, den Brexit-Vertrag
skeptisch zu sehen. 35 Milliarden Euro sollen die Bri-
ten für den Austritt zahlen, und sie müssen so lange
in der EU-Zollunion verbleiben, bis einvernehmlich
etwas anderes vereinbart worden ist. Das heißt aber
auch: London hat einen großen taktischen Nachteil
bei den Gesprächen über ein künftiges Handelsab-
kommen. Dass London zumindest eine zeitliche Be-
grenzung des Backstops fordert, ist also durchaus
nachvollziehbar. Und auch aus kontinentaleuropäi-
scher Sicht sollte klar sein: Kommt es zum harten
Brexit, würde es in jedem Fall eine harte Grenze zwi-
schen Irland und Nordirland geben. Das heißt: Die
Europäer führen womöglich mit ihrer harten Linie
das herbei, was sie unbedingt verhindern wollen.
Auch in Brüssel und anderen kontinentaleuro -
päischen Städten gerät in dem täglichen Gezänk of-
fenbar das Wesentliche aus dem Blick. Mit den Bri-
ten geht nicht nur knapp ein Sechstel der Wirt-
schaftskraft verloren, sondern ein großes Stück
politischer Kultur: Liberalismus, Empirismus – und
auch Pragmatismus, für den die Briten einmal in
der Vor-Brexit-Ära standen. Den Austritt der Briten
noch verhindern zu können ist eine Illusion. Aber
es sollte uns einen Versuch wert sein, Großbritan-
nien möglichst eng an Europa zu binden.

Leitartikel


Der Offenbarungseid


Boris Johnson hat
sich selbst und
Großbritannien in
eine prekäre Lage
manövriert. Aber
auch die EU hat
wenig dazu
beigetragen, dass
Brexit-Desaster
zu verhindern,
meint Jens
Münchrath.

Den Brexit noch


verhindern zu


können ist eine


Illusion.


Aber es sollte


uns einen


Versuch wert


sein, Groß -


britannien


möglichst eng


an Europa zu


binden.


Der Autor leitet das Auslandsressort.
Sie erreichen ihn unter:
[email protected]

Meinung


& Analyse


WOCHENENDE 4./5./6. OKTOBER 2019, NR. 191
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