Handelsblatt - 04.10.2019

(nextflipdebug5) #1
Karriere
WOCHENENDE 4./5./6. OKTOBER 2019, NR. 191
58

Flexibilität, Kontakte, Nestwärme:


Wohngemeinschaften waren einst


ein Lebenskonzept für Studenten.


Heute wohnen immer mehr


Berufstätige auf diese Weise.


Ein Besuch in Deutschlands


größter Business-WG.


Michael Scheppe Düsseldorf

M

it einer gekonnten Handbewegung
schlägt Norman Neupert das Ei auf.
Das geht an diesem Sonntagmorgen
gleich 30-mal so. Neupert macht
Rührei, garniert mit Schnittlauch
und Feta-Käse. Der 28-Jährige probiert ein Häpp-
chen aus der Pfanne, bevor er zum riesigen Pfeffer-
streuer greift. Nicht nur der ist in Deutschlands
größter Business-WG überdimensioniert: Die
WG4U, so der Name der Düsseldorfer Wohnge-
meinschaft, bietet 50 Berufstätigen ein Zuhause auf
Zeit. Auf sechs Etagen, in einem umgebauten Büro-
gebäude der Telekom, leben und arbeiten 20 Frau-
en und 30 Männer, Unternehmensberater, Mana-
ger, Vertriebler, Architekten, Anwälte, Piloten und
Lehrer, im Schnitt um die 30 Jahre alt. Sie teilen
sich 25 Duschen, 22 Toiletten, zwölf Kochfelder,
fünf große Kühlschränke, vier Waschmaschinen,
zwei Fernsehräume, eine Sauna, einen Fitness-
raum und eine Dachterrasse.
Jedes Wochenende bereitet Unternehmensbera-
ter Neupert als Teil des „Brunch-Teams“ ein großes
Frühstück vor – für viele Bewohner ein Pflichtter-
min. Bei Käsebrötchen und Rührei sitzen sie hier in
Hoodie, kurzer Hose, tragen Badelatschen mit So-
cken und sprechen über die abendlichen Altstadt-
Erlebnisse oder den nächsten WG-Ausflug. Mon-
tags werden sie ihr Outfit wieder gegen Krawatte
und Anzugschuhe tauschen, in Meetings sitzen und
über Geschäftsziele diskutieren.
Die Düsseldorfer Business-Kommune dürfte die
größte der Republik sein. Aber überall in Deutsch-
land werden kleinere Business-WGs mit drei, vier
oder fünf Bewohnern gegründet. Waren Wohnge-
meinschaften früher nur etwas für Studierende,
entschließen sich heute immer mehr Berufstätige

dazu. Laut dem Zimmervermittler WG-Gesucht
sind 42 Prozent der WG-Angebote auf der Online-
plattform als „Business-“ oder „Berufstätigen-WG“
gekennzeichnet – 2013 waren es nur 28 Prozent.
Die Motive der Bewohner von Business-WGs mö-
gen unterschiedlich sein: Der eine will sein berufli-
ches Netzwerk unter den Mitbewohnern ausbauen
oder in Gesprächen mit Berufstätigen aus anderen
Branchen den Horizont erweitern. Andere erhoffen
sich private Kontakte und einen schnellen Start in
einer fremden Stadt. Was die Bewohner eint: Sie ste-
hen oft am Anfang ihrer beruflichen Karriere, sind
privat meist ungebunden, neu in der Stadt – und
dort häufig auch nur so lange, bis woanders eine
bessere Karriereoption winkt. „Business-WGs sind
die passende Lebensform für die digitalen Arbeits-
nomaden unserer Zeit“, sagt Hans-Peter Müller, So-
ziologieprofessor an der Humboldt-Universität zu
Berlin. Die Bewohner seien meist „hochgradig flexi-
bel“, „vorzüglich ausgebildet“ und „individuali-
siert“. Anders ausgedrückt: In Deutschlands Busi-
ness-WGs wohnen gefragte Fachkräfte.

Das Kommunen-Konzept ist auch Symptom der
modernen Arbeitswelt. Gerade die unter Dreißig-
jährigen bleiben ihren Arbeitgebern nicht mehr so
lange treu wie früher. Im Schnitt ist die Beschäfti-
gungslänge bei ein und demselben Unternehmen
in den vergangenen 20 Jahren um ein Drittel ge-
sunken. Das zeigen Zahlen des Instituts für Arbeits-
markt- und Berufsforschung. Hinzu kommt: Immer
mehr Menschen arbeiten in Teilzeit, zuletzt waren
es 40 Prozent der Arbeitnehmer. Und auch die
Zahl der befristet Angestellten steigt. Von beiden
Entwicklungen ist gerade die jüngere Generation
besonders betroffen.

Hohe Mieten
Berater Neupert wohnt seit einem Jahr in der WG.
Der Wirtschaftsingenieur kommt aus München und
studierte in Karlsruhe. Bei der Suche nach dem ers-
ten Job war ihm der Ort völlig egal, nur das Angebot
musste stimmen. Das passte bei der auf Ingenieure
spezialisierten Unternehmensberatung Avencore –
und so fiel die Wahl auf die NRW-Landeshauptstadt.
„Die WG war ein guter Start, um hier anzukommen
und Düsseldorf kennen zu lernen.“ Das wäre auch in
einer kleineren WG gegangen, klar. Doch mit 49 Mit-
bewohnern sei es einfacher, neue Leute zu finden.
„Ich genieße das Leben hier.“
Was Neupert auch mag: die Flexibilität. Wer sich
nicht dauerhaft an einen Arbeitgeber binden will,
auf Projektbasis arbeitet oder das Ende seiner Stel-
le schon nach der Vertragsunterschrift absieht, für
den passt das klassische Einzelapartment oft nicht.
Schließlich muss die Unterkunft in zahllosen Be-
sichtigungen erst gefunden und die Wohnung ein-
gerichtet werden – nur um dann fast schon wieder
einen Nachmieter zu suchen. Die Anbieter von

Ein Zuhause für


Jobnomaden


Gemeinsames Sonntagsfrühstück:
In der Düsseldorfer Business-WG leben 50 Berufstätige.

Jann Höfer für Handelsblatt (5)

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