Handelsblatt - 04.10.2019

(nextflipdebug5) #1
intertopics/eyevine/Magali Delporte

B

runo Le Maire sitzt in der Bibliothek
der französischen Botschaft in Berlin.
Von seinem Sessel aus blickt er auf den
Pariser Platz und das Brandenburger
Tor. Vor dem französischen Finanzmi-
nister liegt eine dicke blaue Mappe mit Papieren:
Vorbereitungsunterlagen für das Treffen mit Olaf
Scholz. Bevor sich Le Maire zum Bundesfinanzminis-
terium aufmachte, sprach er mit dem Handelsblatt
über seine Erwartungen an die Bundesregierung.

Herr Minister Le Maire, sind Sie besorgt über den
Wirtschaftsabschwung in Deutschland?
Ich bin besorgt über die wirtschaftliche Abkühlung
überall auf der Welt und insbesondere in der Euro-
Zone. Wir sind aufgrund des Handelskriegs zwi-
schen China und den USA mit einer erheblichen
Abschwächung des Wachstums konfrontiert; aber
auch mit strukturellen Herausforderungen und ei-
nem sehr niedrigen Inflationsumfeld. Diese Situati-
on macht es schwieriger zu erklären, dass die Euro-
Zone ein Erfolg für die europäischen Bürger ist. Ich
möchte, dass die Währungsunion nicht nur für Sta-
bilität sorgt, sondern auch für Wohlstand, Wachs-
tum, Arbeitsplätze und Wettbewerbsfähigkeit.

Und wie wollen Sie das alles erreichen?
Wir brauchen eindeutig mehr Investitionen in der
Euro-Zone. Ich unterstütze die jüngsten Entschei-
dungen der Europäischen Zentralbank (EZB), aber
die Geldpolitik kann es nicht allein richten. Ich
denke, alle sind sich einig, dass die sehr niedrigen
Zinssätze einige Vorteile haben.

In Deutschland sehen das viele Banken und Spa-
rer anders.
Wir sollten uns der Risiken bewusst sein, die mit
den niedrigen oder negativen Zinssätzen für die
Sparer verbunden sind – auch wenn die EZB in
schlechten Zeiten den Sparern geholfen und die
Arbeitslosigkeit begrenzt hat, indem sie das Wirt-
schaftswachstum unterstützt hat. Für einige der
Schlüsselbranchen in Frankreich und Deutschland,
nämlich den Bankensektor und den Versicherungs-
sektor, gibt es Nachteile. Und das ist ein weiterer
Grund, warum ich es für geboten halte, jetzt mehr
zu investieren. Wenn die Geldpolitik ihre Wirkung
entfalten soll, müssen die Länder, die den Spiel-
raum haben, fiskalpolitisch mehr tun.

Sie meinen Deutschland?
Ich sage Deutschland nicht, was es tun soll. Ich sage,
dass wir als Euro-Zonen-Mitglieder alle im selben
Boot sitzen und dass wir alle unsere Aufgaben erfül-
len müssen. Frankreich hat wichtige Strukturrefor-
men vorgenommen, etwa im Steuersystem und auf
dem Arbeitsmarkt. Wir sind dabei, eine Rentenre-
form umzusetzen. Zweitens leisten wir unseren Bei-
trag bei den öffentlichen Ausgaben. Die Staatsver-
schuldung in Frankreich ist in den letzten zehn Jah-
ren um 30 Prozentpunkte gestiegen. Jetzt stabilisie-
ren wir sie und erfüllen gleichzeitig die europäi-
schen Regeln. Frankreich macht unter Präsident
Emmanuel Macron seinen Job. Und deshalb fordern
wir Deutschland auf, auch seinen Beitrag zu leisten.

Was erwarten Sie von Deutschland?
Deutschland hat in den letzten zehn Jahren bereits
tief gehende Strukturreformen umgesetzt und ei-
nen enormen wirtschaftlichen Erfolg verzeichnet.
Das ist großartig für Deutschland, aber auch für al-
le anderen Mitglieder der Euro-Zone. Und ich be-
wundere wirklich den Erfolg der deutschen Indus-
trie. Aber nun haben sich die wirtschaftlichen
Rahmenbedingungen geändert, und hier macht
Frankreich seinen Job. Und wir möchten, dass
Deutschland seinen Beitrag leistet, dass es mehr
Geld ausgibt und mehr investiert in zukünftige
Wachstumsbereiche. Deutschland sollte den fiska-
lischen Spielraum nutzen, den es sich durch seine
mutigen Reformen geschaffen hat.

Finanzminister Olaf Scholz betont immer wieder,
dass er die Investitionen bereits auf Rekordniveau
gesteigert hat. Reicht das nicht?

„Wir sitzen im


selben Boot“


Frankreichs Finanzminister spricht über seine


Bewunderung für Deutschlands Reformpolitik – und


darüber, warum sie nicht mehr ausreicht, damit Europa


im Systemwettbewerb mit China und den USA besteht.


Bruno Le Maire


Schwerpunkt


Diskussion um Finanzpolitik


WOCHENENDE 4./5./6. OKTOBER 2019, NR. 191
6
Free download pdf