Anja Müller, Christian Rickens
Düsseldorf
D
er Stuttgarter Rechts-
anwalt Brun-Hagen
Hennerkes schreibt in
seinen Memoiren, dass
er stets am liebsten im
Hintergrund agiere. Aber eitel, das
gibt er gleich am Anfang des Buches
zu, sei er trotzdem.
Ein scheinbarer Widerspruch, der
für den Leser ein Glücksfall ist. Denn
Hennerkes Wunsch, sich und ande-
ren zu gefallen, schlägt sich in einer
Lust an der gelungenen Formulie-
rung und Anekdote nieder. Gleich zu
Beginn seines Buchs nimmt er den
Leser mit auf eine novemberliche
Reise ins Rheinland. Es gilt, dem ge-
heimen Doppelleben eines Unterneh-
mers nachzuspüren, der parallel
zwei Familien mitsamt Kindern un-
terhält. Was natürlich allerlei psycho-
logischen wie gesellschaftsrechtli-
chen Klärungsbedarf nach sich zieht.
Nicht umsonst bezeichnet sich der
promovierte Anwalt manchmal gerne
selbst als „Familientherapeuten mit
juristischer Zusatzausbildung“.
Keiner kennt und versteht sie so
gut wie Hennerkes, die verschwiege-
ne Welt der Unternehmerdynastien,
in denen sich betriebswirtschaftliche
Rationalität mit schwer zu kalkulie-
render Emotion vermengt. In der das
Schicksal von Zehntausenden Mitar-
beitern bisweilen daran hängt, dass
zwei Geschwister plötzlich nicht
mehr miteinander sprechen mögen.
Nun hat Hennerkes seine Erinnerun-
gen aufgeschrieben. Sie erscheinen
mit geändertem Titel (ursprünglich
sollte das Werk „Zu treuen Händen
heißen“), kurz nach dem 80. Ge-
burtstag des Autors, der an diesem
Freitag ist.
Den feiert Deutschlands wichtigs-
ter Familienversteher genau so, wie
er es liebt: kleiner Kreis, maximale
Bedeutung. Bundespräsident Frank-
Walter Steinmeier hat ihn zum
Abendessen in seine Dienstvilla
nach Berlin eingeladen, und neben
seiner Frau bringt Hennerkes noch
einige Familienunternehmer als
Gäste mit.
Zufall ist es sicher auch nicht, dass
er das Wort „Consigliere“ für seine
autobiografischen Aufzeichnungen
wählte. „Consigliere“ übersetzt Hen-
nerkes mit „Vertrauter einer Fami-
lie“. Das beinhalte eine enge Einbin-
dung, aber „muss keinesfalls Freund-
schaft bedeuten“. Dabei forderten
Unternehmer Freundschaft oft ein,
erinnert sich der Consigliere, weil sie
einsam an der Spitze seien. „Vor-
nehmstes Ziel des Consigliere“,
schreibt Hennerkes, „muss es daher
sein, komplizierte Beziehungen, wie
sie innerhalb eines Unternehmens
häufig vorkommen, auf eine tragfähi-
ge Basis zu stellen.“
Der Unternehmerversteher ist stolz
darauf, dass er mit seiner Beratertä-
tigkeit vielfach das althergebrachte
Kronprinzenprinzip zu Fall gebracht
hat: Jene unselige Tradition, dass
stets der älteste Sohn die Firma wei-
Brun-Hagen Hennerkes
Familientherapeut mit
Zusatzqualifikation
In seinen Memoiren gibt der Gründer der Stiftung Familienunternehmen
einen Einblick in seine Welt als Berater von Unternehmerdynastien – und
in seine Sicht der deutschen Wirtschaftsgeschichte.
Anwalt Hennerkes: Vertrauter,
aber nicht immer Freund.
Tom Pingel/Hennerkes, Kirchdörfer & Lörz,
Hennerkes und
Kanzlerin Merkel bei der Stiftung
Familienunternehmen:
Fast jährlicher Besuch.
AFP/Getty Images,
Beim Essen mit Frankreichs Ex-Präsident Sarkozy:
Kein Platz für Genussfeindlichkeit.
Stiftung Familienunternehmen,
Im Gespräch mit BMW-Erbin Klatten:
Flüsterer und Unternehmerversteher.
dpa
Montagsdemonstrationen
Der Mann,
der die Filme
machte
V
or 30 Jahren demonstrierten
in der DDR die Menschen ge-
gen die Mauer. Der Journalist
Siegbert Schefke, aufgewachsen in
der DDR, filmte heimlich die Proteste
in Leipzig – und die Mauer war bald
Geschichte. Jetzt hat Schefke ein
schmales Büchlein über seinen muti-
gen Reportereinsatz geschrieben.
Trotz seiner gerade einmal 160 Seiten
hat es historisch enormes Gewicht.
Schefke wächst in einem Staat auf,
der sich nicht groß um seine Bürger
und ihre Nöte schert und etwa maro-
de Altbauten einfach per Mauer vor
der Öffentlichkeit versteckt, statt sie
zu sanieren. Durch die vielen Verbote
wird Schefke langsam zum Wider-
standskämpfer. Das beginnt schon
bei seiner Ausbildung: Weil die Fami-
lie Westverwandte hatte, bekommt
er zunächst kein Abitur. Also beginnt
er eine Baufacharbeiterlehre – und
machte so doch noch Fachabi.
Als Fotograf, Kameramann und Re-
porter arbeitet Schefke bereits ab
1987 auf Honorarbasis für verschiede-
ne Fernsehmagazine und Zeitungen
im Westen. Im Buch lässt es der Jour-
nalist fast leicht aussehen, wie er Fil-
me über Giftmüll-Deponien oder ver-
seuchte Böden in Bitterfeld dreht
und die Videokassetten anschließend
über die Grenze schmuggeln lässt.
Aber er riskierte seine Freiheit und
sein Leben. Die Schwierigkeiten und
Bedrängnisse als Journalist zu arbei-
ten und die Montagsdemos in Leipzig
zu filmen, waren enorm. Es hätte
auch ganz anders ausgehen können.
Eine der stärksten Passagen im
Buch ist Schefkes Treffen mit seinem
ehemaligen Stasi-Offizier, der neun
Akten über ihn vollschrieb. Schefke
schildert, wie der einstige DDR-Be-
amte über die realsozialistische Büro-
kratie motzt: Um Schefke etwa mit
dem Auto zu verfolgen, braucht es
vier Unterschriften. Gerne würde
man an solchen Stellen Schefke mehr
Zeit und Platz für weitere Reflexio-
nen geben. Wie geht es ihm, wenn er
so etwas hört? Was fühlt er, wenn er
erfährt, dass viele seiner Freunde
jahrelang der Stasi Informationen
über ihn steckten? Auch, wie und
was der Stasi-Offizier heute über sei-
ne Taten denkt, erfährt der Leser
nicht. Dass Schefke kein Profischrei-
ber ist, merkt man. Dafür wirken sei-
ne Schilderungen umso authenti-
scher. Dazu tragen die vielen Fotos
und Texte aus seiner Stasi-Akte bei.
Faszinierend ist es auch, von sei-
ner heutigen Arbeit als MDR-Repor-
ter zu erfahren. Wie er sich mit Pegi-
da-Anhängern und Rechtsradikalen
im Osten auseinandersetzt und ein-
mal auf der Autobahn gejagt wird. Es
ist eine traurige Bilanz, dreißig Jahre
nach den Montagsdemonstrationen,
für Freiheit und Demokratie. T. Jahn
Siegbert
Schefke:
Als die
Angst die
Seite
wechselte.
Transit,
Berlin 2019,
160 Seiten,
16 Euro.
Literatur
WOCHENENDE 4./5./6. OKTOBER 2019, NR. 191
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