Handelsblatt - 04.10.2019

(nextflipdebug5) #1

terführen muss, egal wie ungeeignet
er ist. Stattdessen propagiert Henner-
kes ein Governance-Modell für große
Familienunternehmen, bei dem Ei-
gentümer und Management getrennt
sind und zusätzlich durch einen Beirat
externe Expertise ins Unternehmen
geholt wird.
Hennerkes wurde keineswegs in die
Unternehmerelite der Bundesrepublik
hineingeboren. Er ist als Arztsohn im
Westfälischen aufgewachsen. Sein Va-
ter hat aus dem Zweiten Weltkrieg ein
mittelschweres Drogenproblem mitge-
bracht und nimmt später als West-
deutscher eine Anstellung in der da-
maligen DDR an. Hennerkes bleibt in
der Bundesrepublik und besucht ein
katholisches Internat in Warburg, mit
dem er nahezu ausschließlich ange-
nehme Erinnerungen zu verbinden
scheint. Anschließend studiert er zu-
nächst Germanistik und Altphilologie,
dann Jura – „da die Betriebswirt-
schaftslehre damals kein hohes Anse-
hen genoss“.


Bessere Wirtschaftsgrößen


Die Welt der Unternehmen fasziniert
den humanistisch gebildeten jungen
Mann. Und so beginnt er bei Mannes-
mann in Düsseldorf seine berufliche
Laufbahn. Als Mitarbeiter in der Di-
rektionsabteilung nutzt
er seine Nähe zu den Ent-
scheidungsträgern, um
das Konzernbiotop mit all
seinen Hierarchien und
Regeln zu studieren. Er
kommt zu keiner positi-
ven Einschätzung.
Familienunternehmer
dagegen erscheinen ihm
als die besseren Wirt-
schaftsgrößen. So tritt er
in die Stuttgarter Kanzlei
von Conrad Böttcher
ein, der nur große Fami-
lienunternehmer berät.
Dort findet Hennerkes
seinen Lehrmeister und
seine berufliche Heimat.
Und er lernt Böttchers
großbürgerlichen Le-
bensstil schätzen, den
Hennerkes mittlerweile selbst pflegt:
Übernachtungen im Grand Hotel, die
S-Klasse mit dem Chauffeur, der ihn
bereits seit Jahrzehnten fährt. Die
Lunches mit Geschäfts- und Ge-
sprächspartnern bei einer Flasche
Sancerre. Geiz, Kleingeisterei und
Genussfeindlichkeit sind Hennerkes
ein Gräuel.
Er wird Böttchers Nachfolger. Mit
den Jahren kommen für Hennerkes
84 Aufsichts- oder Beiratsmandate in
Familienunternehmen oder Banken
zusammen. Doch der Anwalt mit flo-
rierender Kanzlei sieht sein eigentli-
ches Lebenswerk in etwas anderem:
in der Gründung der Stiftung Famili-
enunternehmen im Jahr 2002.
Innerhalb von nur wenigen Jahren
ist die Stiftung eine wichtige Stimme
im politischen Diskurs geworden und
hat das Image der großen deutschen
Familienkonzerne komplett gedreht:
Einst galten sie als Hort verknöcherter
Patriarchen, heute hingegen als die
wahrhaftigen Bewahrer der sozialen
Marktwirtschaft.
Zahlreiche Studien im Auftrag der
Stiftung fördern Wissenswertes über
die Spezies Familienunternehmen zu-
tage. Zugleich ist die Stiftung eine
mächtige Lobbystimme in Berlin. Be-
sonders deutlich wurde das 2017, als
die Reform der Erbschaftsteuer an-
stand. Die Stiftung bot Unternehmer
und Experten auf, um Schlimmeres
zu verhindern. Was blieb war ein
kompliziertes Gesetz, mit dem große
Familienunternehmer weiterhin nur
selten Erbschaftsteuer zahlen.


Angela Merkel lässt sich fast jährlich
im Adlon beim Hochamt der Stiftung,
dem Tag des deutschen Familienun-
ternehmens, blicken. Hennerkes hielt
bis auf die letzten beiden Jahre immer
die Eröffnungsrede.
In seinen Memoiren sortiert der Ju-
rist die deutsche Wirtschaftselite in
rechtschaffene und weniger recht-
schaffene Wegbegleiter. Der fallierte
Drogist Anton Schlecker und der eins-
tige Deutsche-Bank-Chef Josef Acker-
mann kommen schlecht weg. So wie
die Deutsche Bank mit ihrer Mischung
aus Hybris und Erfolglosigkeit über-
haupt alles zu verkörpern scheint,
was Hennerkes an der Konzernwelt
verachtet.
Wobei Ackermann in den Me-
moiren immerhin erwähnt wird. Hen-
nerkes Kontrahenten im kleinen
Markt der Familienflüsterer, der eben-
falls in Stuttgart wirkende Anwalt
Mark Binz und der Bonner Jurist und
Unternehmensberater Peter May, wer-
den mit der Höchststrafe unter
Rechtswissenschaftlern belegt: Nicht-
erwähnung. Das ist umso bemerkens-
werter, als Binz und May beide einst
als Anwälte in Hennerkes Stuttgarter
Kanzlei wirkten.
Bei vielen anderen für die Geschil-
derten wenig schmeichelhaften Anek-
doten in seinem Buch lässt
Hennerkes die Namen weg
und wahrt so die anwaltli-
che Schweigepflicht. So
mancher Unternehmer
wird das Buch als Rätsel-
spaß begreifen und sich
fragen: Wen beschreibt der
Autor wohl hier nun wie-
der?
Wenn man allein be-
denkt, in wie vielen Auf-
sichts- und Beiräten Hen-
nerkes als Netzwerker wirk-
te, wird klar: Hier weiß
einer sehr viel mehr über
die deutsche Wirtschaft als
die meisten anderen Juris-
ten. Dabei verklärt Henner-
kes die Familienunterneh-
mer keines wegs sentimen-
tal. Er schaut realistisch auf
ihre (Fehl-)Leistungen und riet einst so
manchem Patriarchen lieber zum Ver-
kauf. Seine geistige Unabhängigkeit
lässt Hennerkes sich vom Klienten
nicht abkaufen. Für die Zukunft der Fa-
milienunternehmen ist er einerseits
optimistisch, andererseits wirft er doch
einige skeptische Fragen auf: Gelingt es
weiterhin die Vorteile der unternehme-
risch agierenden Familie zu nutzen,
nämlich das gegenüber Konzernen mit
zersplitterter Aktionärsstruktur stärker
ausgeprägte unternehmerische Verant-
wortungsgefühl? Und wie lassen sich
zugleich die Nachteile des Familienein-
flusses beherrschen, die vor allem in
der unberechenbaren emotionalen
Binnendynamik liegen, die in jeder Ge-
neration neu austariert werden muss?

Nachfolgefrage noch offen
Nach unzähligen Familienunterneh-
men, denen Hennerkes bei der Nach-
folgeplanung geholfen hat, muss der
Consigliere nun seine eigene Nachfol-
ge regeln. In der Kanzlei ist das bereits
geschehen, sie wird von den übrigen
Partnern weitergeführt. In der Stif-
tung will Hennerkes innerhalb der
kommenden eineinhalb Jahre sein
Mandat zurückgeben.
Gerne sähe er stattdessen seinen
Sohn Christian im Vorstand der Stif-
tung. Der ist ebenfalls Jurist und führt
derzeit das Schweizer Industrieunter-
nehmen Von Roll. Selbstverständlich
handelt es sich um ein Unternehmen,
das von einer Familie kontrolliert
wird. Die Aktienmehrheit hält die Dy-
nastie um Baron August von Finck.

Brun-Hagen
Hennerkes:
Meine Zeit als
Consigliere.
Herder,
Freiburg 2019,
448 Seiten,
28 Euro.

Heike Buchter:
Ölbeben. Wie die
USA unsere Exis-
tenz gefährden.
Campus, Frankfurt
2019, 304 Seiten,
24,95 Euro.

Deutscher Wirtschaftsbuchpreis

Mit Nachdruck und Kawumm


Eine deutsche US-Korrespondentin zeichnet den Aufstieg
Amerikas zum wichtigsten Ölexporteur der Welt nach.

Darum geht es: Es ist eine kaum vor-
stellbare Entwicklung, die sich in den
Vereinigten Staaten vollzogen hat: In-
nerhalb weniger Jahre sind die USA
vom größten Ölimporteur der Welt
zum größten Produzenten aufgestie-
gen. Erst kürzlich hat Amerika Saudi-
Arabien und Russland sogar von der
Spitze der weltgrößten Ölexporteure
verdrängt. Jeden Tag fluten die USA
den Weltmarkt mit 13 Millionen Bar-
rel Öl und unzähligen Kubikmetern
Erdgas. Das meiste davon kommt aus
dem Permischen Becken, einer Regi-
on in den Bundesstaaten Texas und
New Mexico. Die Autorin Heike Buch-
ter spürt dort dem Boom des ameri-
kanischen Schieferöls nach.
Sie spricht vor Ort mit Arbeitern,
Unternehmern und Lokalpolitikern,
die von dem Ölrausch profitieren. In
akribischer Archivrecherche zeichnet
sie die Werdegänge der Protagonis-
ten nach, ohne die die Förderung des
Schieferöls niemals möglich gewesen
wäre. Der Leser lernt etwa Colonel
Edward Roberts kennen, der bereits
im 19. Jahrhundert mit Kriegsmuniti-
on und Schießpulver Bohrlöcher auf-
sprengte und die Grundlage für die
umstrittene Fracking-Methode schuf,
bei der unter hohem Druck Wasser,
Sand und Chemikalien in Bohrlöcher
gepresst werden, um Gas oder Öl aus
Gestein zu lösen und zu fördern.
Auch versteht es die Autorin, die
engen Verflechtungen zwischen Wei-
ßem Haus und texanischen Ölförde-
rern nachzuzeichnen. So wird ver-
ständlich, wie die USA den grundle-
genden Wandel zum Ölexporteur
Nummer eins vorangetrieben haben


  • und welche Auswirkungen die Ent-
    wicklung auf Volkswirtschaften, Geo-
    politik und Weltklima hat.
    Das ist die Autorin: Heike Buchter
    arbeitet als freie Autorin und Korres-
    pondentin im New Yorker Büro der
    „Zeit“ und berichtet seit 2001 von
    der Wall Street. Ihr Report zu kom-
    plexen Finanzinstrumenten, die die
    Finanzkrise ausgelöst haben – veröf-
    fentlicht drei Monate vor der Pleite
    der Investmentbank Lehman
    Brothers – war 2009 für den Henri-
    Nannen-Preis nominiert. Die Wir-
    kung von US-Präsident Donald
    Trump auf die Massen hat sie bereits
    vor dessen Wahl zum US-Präsidenten
    beschrieben. Im Jahr 2015 hat sie im


Campus-Verlag ein Buch über die
Macht des weltgrößten Vermögens-
verwalters Blackrock veröffentlicht.
Das überrascht: Während Europa
sich den Kopf darüber zerbricht, wie
das beim Pariser Klimaabkommen
vereinbarte Ziel der Erderwärmung
um maximal zwei Grad noch zu er-
reichen ist, haben die USA eine
Kehrtwende hingelegt. Sie setzen voll
auf fossile Energieträger. Die Autorin
liefert einen wichtigen Beitrag zur
Klimadebatte, indem sie zeigt, wie
durch Investitionen in Schieferöl-Pro-
jekte, Pipelines und Infrastruktur kli-
maschädliche CO 2 -Emissionen auf
Jahre zementiert und die Hoffnung
auf sinkende Emissionen zunichtege-
macht werden. Ihre nüchternen Be-
schreibungen der Fracking-Technolo-
gie und der Lieferketten der Schiefer-
öl-Industrie führen dem Leser vor
Augen, wie viele Lkw-Kilometer und
Liter Wasser nötig sind, um ein Ölfass
im Permischen Becken zu produzie-
ren. Analysten, Fachpublikationen
und einige Medien veröffentlichen
seit Jahren Beiträge über den Schie-
ferölboom in den USA.
So viel versteht man: Ein Rohstoff-
Analyst dürfte in dem Buch zwar we-
nig Neues erfahren. Doch gerade im
deutschsprachigen Raum gibt es bis-
lang wenig Vergleichbares und Ver-
ständlicheres zum Aufstieg der USA
als Ölnation. Buchters Buch lässt sich
wie ein Roman in einem Rutsch
durchlesen. Szenische Elemente und
Protagonisten machen den abstrak-
ten Schieferölboom greifbar. Techni-
sche Details teilt Buchter in gut lesba-
re Texthappen auf und diese be-
schränken sich auf das, was für das
Verständnis nötig ist.
In wenigen Fällen rutscht Buchters
Sprache allerdings etwas zu sehr ins
comichaft Kindliche, etwa wenn die
Autorin die Resultate früher Fra-
cking-Experimente in Großbuchsta-
ben mit „KAWUMM!“ beschreibt
oder wenn von „Backe-backe-Ku-
chen-Sandförmchen“ die Rede ist.
Das ändert jedoch nichts daran, dass
„Ölbeben“ ein wichtiges und lesens-
wertes Buch ist. Jakob Blume

Literatur
WOCHENENDE 4./5./6. OKTOBER 2019, NR. 191
61

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