Der Stern - 26.09.2019

(Romina) #1
Innovativer Sound
zwischen Platten-
bau-Blues und
Clubhit, jeder Song
ein Volltreffer – das
letzte Album von
Trettmann wurde vor zwei Jahren
zum Instant-Klassiker. Der selbst
betitelte Nachfolger kann dieses Level
nicht immer halten. Was nicht am
Sound liegt: In die Beats würde man
sich am liebsten einwickeln. Und auch
lyrisch wirkt der Rapper aus Chemnitz
vielseitiger. Er singt über seine Tochter,
über Trennungsschmerzen und
setzt düsteren Zeiten in „Stolperstei-
ne“ ein bemerkenswertes Mahnmal.
Zwischendurch aber plätschern
manche Songs unentschlossen am
Herz vorbei. Das schmerzt, weil der

Rest so schön ist. (^22222)
HIP-HOP
Ein paar schnelle
Akkorde vom Bass,
dann jagt auch
schon das Schlag-
zeug hinterher – und
das ist schon mal ein
großartiger Auftakt. Seit einiger Zeit
erscheinen wieder vermehrt Alben,
die sich im Plattenladen prima unter
„Punk“ einsortieren lassen. Eine der
neuen Bands sind Automatic, drei
junge Frauen aus Los Angeles, die auf
dem ersten Album „Signal“ ihre Songs
schnell und dringlich spielen. Dabei
kommen sie ohne ein vermeintlich
unverzichtbares Instrument aus: Izzy
Glaudini hat ihre Gitarre zur Seite ge-
legt und schlägt stattdessen die Tas-
ten eines Synthesizers an. Dabei zeigt
sie, dass sie auch bei alten Elektronik-
Helden wie Neu! und Suicide genau
hingehört hat. Klasse! (^22222)
ROCK
Eigentlich war es
nur ein weiteres
Tonband im Archiv,
aber in der Jazz-
welt ist jeder
Schnipsel mit unver-
öffentlichten Aufnahmen des 1967
verstorbenen John Coltrane mindes-
tens eine Sensation. Eigentlich als
Filmmusik gedacht, hat der Saxopho-
nist auf „Blue World“ mehr mit Melo-
dien als in Improvisationen gespielt,
und so ist wunderbar zu hören,
wie sich sein Saxophon mal scheu oder
mal fordernd zwischen Klavier und
Bass schmiegt und die musikalischen
Themen variiert. Vor allem mit
„Naima“ und „Village Blues“ schafft
Coltrane diesen in die Nacht entfüh-
renden, endlosen Sound, dem beim
Zuhören alle Gedanken folgen und der
die Zeit vergessen lässt. (^22222)
JAZZ
Charli XCX: „Charli“
Vielfältiger, mutiger Pop,
zum Teil etwas unaus-
gewogen (^22222)
Aber was ist das nun für Musik? „Char­
li“, das neue Album, sollte man sich mehr­
mals anhören, weil es ein sehr überlegtes,
bis in die kleinsten Feinheiten komponier­
tes Werk ist, das etliche Stile vermengt und
mal sehr eigenwillig und dann wieder sehr
losgelassen klingt. Rap, Pop, House – es
flirrt zwischen den Sounds hin und her
und vereint sich dann wieder in radiotaug­
lichen Hits wie „1999“ oder dem großar­
tigen „White Mercedes“.
Charli selbst sagt, dass ihre Musik nicht
so sehr auf Hits und Radiotauglichkeit ach­
te, sondern mehr auf Partys gehört
werde, „es ist Musik für Menschen, die aus­
gehen“. Verglichen mit dem üblichen Lie­
dersound einer Taylor Swift oder Ariana
Grande ist „Charli“ hier und da sperriger,
aber auch mutiger, vielfältiger – und auf
alle Fälle interessanter.
Und dann erzählt sie noch etwas, und
wenn man einen Moment darüber nach­
denkt, was sie sagt, erklärt es die Dominanz
von Frauen in der heutigen Popmusik.
Denn „Charli“, sagt sie, sei
ein sehr persönliches Album,
wer den Texten genau zuhöre,
erfahre viel über die Frau Charlotte Aitchi­
son, was gar nicht anders geht, wenn man
seine Gefühle zu Musik macht. Und ihr
weibliches Publikum würde da auch genau
zuhören und sich wiedererkennen, sagt sie,
es sei wie ein Dialog zwischen Frauen, die
wissen, was sie meinen, und wissen, was
sie erleben. Und das stimmt, weibliche
Popmusik, auch die von Taylor Swift oder
Lady Gaga, ist oft eine Spiegelung weibli­
cher Kommunikation, die viel offener Un­
sicherheiten, Rollenverständnis, Liebesge­
schichten oder Liebesscheitern austauscht,
als Popmänner das tun. Man könnte auch
sagen, Frauen hören solche Musik, wie sie
auch Serien wie „Sex and the City“ oder
„Fleabag“ angesehen haben: mitdenkend.
Männern würde wohl auch eine Bier­
werbung reichen: „Frau weg? Jo. Na dann
Prost.“
Dennoch, sagt Charli, würden es Frauen
immer noch schwerer in der Musik haben.
Wieso das? Die ausverkauften Hallen las­
sen anderes vermuten. „Ja, aber es gibt
immer noch Männer, die mich fragen,
ob ich meine Musik wirklich selbst kom­
poniere und schreibe. Die können sich das
nicht vorstellen.“ 2
hat, wird sich vielleicht an deren Schul­
partys erinnern, bei denen die Mädchen
irgendwann zu einem Lied laut „I don’t
wanna go to school, I just wanna break the
rules“ mitsangen, ein wunderbar rotziges
Stück Musik, das sehr nach Straßen­
Britney­Spears klang. Dieses Stück war
von Charli XCX, die damals auch so aus ­
sah wie Britney, nur dreckiger. Vielleicht
sehen die jungen Frauen in London auch
ein fach so aus. Aber es war eben nur
das eine Lied, an das Album kann sich in
Deutschland kaum einer erinnern, in Eng­
land und den USA schon, denn da wurde
Charli gleich sehr ernst genommen.
Und ernst ist das richtige Wort, denn
wenn man Charli heute gegenübersitzt,
hat sie nichts Girlie­ oder Pippilang­
strumpfhaftes mehr. Sie trägt ihre Haare
im modischen Pagenschnitt, das Kleid ist
natürlich vom Designer und ihr Wohnort
nicht mehr London, sondern Los Angeles.
Charli XCX nimmt alles, was sie macht,
sehr, sehr ernst und sehr genau, und in die­
sem Fleiß ist das neue Album
„Charli“ entstanden, auf dem
sie nicht nur singt, sondern
das sie auch geschrieben und komponiert
und in dem sie als Regisseurin die Videos
gedreht hat. Schaut oder hört man noch ge­
nauer hin, hat Charli auch noch Lieder und
Musik für andere Künstler wie Selena Go­
mez, Rita Ora und sogar eines für Britney
Spears geschrieben, die mal wirklich ihr
großes Idol war, wie sie sagt.
Charli XCX ist also eine Frau, die in der
heutigen Musik an vielen Reglern dreht,
die Songs schreibt, Videos dreht und das
alles mit einer Besessenheit, die keine Zeit
für anderes lässt. Es gibt kaum private
Nachrichten über sie, sie wird nicht mit
wechselnden Boyfriends gesehen, sie sagt,
sie sei kein Thema für den Boulevard. Mit
der Musik hat sie mit 14 angefangen und
anders als etwa Britney Spears nicht mit
dem Popstar­Traum, einmal auf einer
großen Bühne zu stehen, sondern in ihrem
Kinderzimmer mit einem Achtspur­Auf­
nahmegerät, einem Keyboard und Musik,
die sie im Internet entdeckte. Spezielle
Musik, Spears und natürlich die Spice Girls
waren dabei, aber auch viel Underground,
Rave, House und all diese Sachen, die am
Computer entstehen und eben „cool“ wa­
ren. Daraus bastelte sie erste Stücke, die
sie im Netz veröffentlichte und die gehört
wurden, und so wurde Charli zu kleinen
Festivals und Partys eingeladen, zu denen
ihre Eltern sie hinfuhren. „Daran, be­
rühmt zu werden, habe ich damals nicht
gedacht“, sagt sie, „ich wollte nur meine
Musik machen.“
Von Jochen Siemens
26.9. 20 19 103

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