Der Stern - 26.09.2019

(Romina) #1
FOTOS: STOCK.ADOBE; GETTY IMAGES

D


ie Londoner haben ihre Pubs, die
Pariser haben ihre Cafés. Die New
Yorker aber, durchgefroren von der
Kälte der Großstadt, finden Wär-
me und Geborgenheit im Diner.
Sie sitzen dort zu jeder Tages- und
Nachtzeit, auf Drehstühlen an der Theke
oder auf dem Kunstleder der Bänke in den
Sitzecken. Sie bestellen Pancakes, Eier mit
Bacon oder Pastrami-Sandwiches mit ex-
tra Mayo, und ehe sie sich versehen, hat
eine aufmerksame Kellnerin schon vom
dünnen Kaffee nachgeschenkt.
Das Diner gehört zum Kulturgut New
Yorks, Edward Hopper hat es in seinem Bild
„Nighthawks“ verewigt und darin die Ein-
samkeit in der großen Stadt ikonisch auf
die Leinwand gebracht. Dabei ist das Diner
in New York nicht nur Ausdruck dieser Ein-

samkeit, sondern auch ihrer Linderung.
Hier gelten keine sozialen Regeln, hier ver-
meidet man nicht den Augenkontakt wie
in der U-Bahn, hier kommt es vor, dass sich
fremde Menschen nach der zweiten Tasse
Kaffee ihre Lebensgeschichte erzählen.
Ein Relikt dieser großartigen Tradition
befindet sich in Long Island City in Queens,
zehn U-Bahn-Minuten von Manhattans
Central Station entfernt. Das Court Square
Diner ist eines der immer selteneren Di-
ner, die niemals schließen. Es versorgt
Arbeiter und Angestellte am Morgen und
Betrunkene in der Nacht und all die ande-
ren dazwischen, in allen Grauzonen des
Tages und des Lebens, ununterbrochen,
selbst an Weihnachten, selbst bei Strom-
ausfall, jeden Tag, 24 Stunden lang. Steve
Kanellos führt das Court Square Diner mit

seinem Bruder Nick seit 28 Jahren, und na-
türlich helfen ihre Kinder mit aus. Steve
war einverstanden, als der Fotograf und ich
ihm von unserem Plan erzählten, hier 24
Stunden lang das Leben der New Yorker zu
studieren. Man konnte ihm allerdings an-
sehen, dass er uns für durchgeknallt hielt.

8 Uhr
Am Tresen ist noch ein Platz frei, neben U-
Bahn-Arbeitern und zwei Männern in An-
zügen. Nick Kanellos steht hinter dem Tre-
sen, eine Kellnerin schenkt Kaffee ein. Sie
sagt, sie heiße Allison, und von diesem
Augenblick an gehöre ich irgendwie dazu.
Zur Frühstückszeit herrscht Hochbetrieb
im Diner, Bauarbeiter holen sich Bagel mit
Frischkäse, Angestellte essen noch schnell
ein Omelett, Rentner und Lebenskünstler

Durch Tag und Nacht


Wenn New York die Stadt ist, die niemals schläft, dann gibt es einen Ort,


an dem man ihr beim Wachbleiben zusehen kann: das 24-Stunden-Diner


Von Nicolas Büchse; Fotos: Malcolm Lightner


USA


Links: die Skyline von Lower Manhattan. Rechts: das Court Square Diner in
Long Island City, das nie schließt. stern-Korrespondent Nicolas Büchse hat 24 Stunden
lang das Leben der New Yorker studiert, die hier einkehren

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REISE

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