Der Stern - 26.09.2019

(Romina) #1

trinken Kaffee und lesen die Zeitung.


Al lison und die anderen Kellner wuseln


umher, alles scheint einer verborgenen


Choreografie zu folgen. Durch die Durch-


reiche sehe ich in die Küche und darin


einen Mount Everest an Bacon, der sich auf


dem Herd stapelt, und wenn ich auf die Vi-


trine neben mich blicke, kann ich zusehen,


wie ein Bagel-Mont-Blanc verschwindet.


Ich studiere die schier endlose Speise-


karte. Von French Toasts über Waffeln mit


Bacon, Cheeseburger, Souvlaki, Steaks,


Garnelen und Käsekuchen wird alles ge-


boten und das in Portionen, die eine gan-


ze Familie ernähren könnten. Diner-Essen


ist herzhaft, salzig und am besten zu ge-


nießen, wenn man betrunken ist, die Ge-


richte umfassen amerikanisches Fast Food,


jüdische Klassiker und griechische Speisen



  • weil die meisten Diner-Besitzer Grie-


chen sind, auch die Kanellos-Brüder.


Ich staune über Milkshakes „extra dick“,

für einen Dollar zusätzlich mit zwei Löf-


feln Erdnussbutter aufgepeppt. Ich denke


an den Regisseur David Lynch, der einmal


sagte: „Ein Dichter könnte Bände über


Diner schreiben, weil sie so schön sind. Sie


sind hell erleuchtet, mit Chrom und Sitz-


bänken und Kunstleder und großartigen


Kellnerinnen. Gesundheitlich gesehen


sind sie natürlich nicht so großartig, aber


ich meine, man sollte mit Diner-Essen re-


gelmäßig experimentieren.“ Ich bestelle


also Eggs Benedict mit Kartoffelrösti.


10.30 Uhr


Ein glatzköpfiger Mann tritt durch die Tür,


und Andrew, ein grau melierter Kellner,


ruft: „Dein Bruder ist der netteste Mensch


der Welt, warum nur kommst ausgerech-


net du schon wieder hierher?“ Der Mann


erwidert: „Oh, nein! Du hast heute Dienst?


Dann kann man den Service vergessen!“


Dann wuchtet er sich auf den Barhocker am


Tresen, den er seinen Stammplatz nennt,


und begrüßt Andrew per Handschlag. Sein


Name ist Mike Domesco, er zeigt auf sei-


nen dicken Bauch und sagt: „Den hat die-


ses Diner geformt.“ Seine Mutter, erzählt


er, hatte eine Bar schräg gegenüber. Jeden


Mittag rief sie im Court Square Diner an
und sagte: „Ich schicke jetzt die Blagen rü-
ber.“ So aßen er und seine Geschwister hier,
und sie mochten nicht nur die Fritten,
sondern dass sie sich hier so fühlten, als
gehörten sie zur Erwachsenenwelt dazu.
Mike ist nun 44 Jahre alt und noch im-
mer fast jeden Mittag hier. „New York än-
dert sich so schnell, ich komme nicht mehr
mit. Dieses Diner ist der einzige Ort, den
ich kenne, der noch immer fast so ist, wie
es einmal war. Es ist der beste Ort in New
York.“ Er erzählt, wie sie sich hier durch den
Kakao ziehen und doch immer füreinan-
der da sind, Stammgäste und Kellner. Wie
er, zum Beispiel, Andrews Mutter zum Arzt
fährt. Dass man hier noch die echten New
Yorker treffe und Leute, die ohne große
Show auskommen. Dann beklagt Mike sich
über die Mietpreise und die Gentrifi-
zierung, die nun auch hier so viele alte Be-
wohner aus dem Viertel drängt. „Ich blei-
be auch nicht mehr lange hier. Die Stadt
frisst alles auf, auch mich. Ich ziehe raus.“
Da beugt sich Andrew über den Tresen
und sagt: „Wenn er endlich wegzieht,
schmeißen wir eine große Party!“

12 Uhr


Hochbetrieb im Diner, Bankangestellte
steigen aus den gläsernen Hochhäusern hi-
nab, Anwälte quetschen sich auf die Bänke,
das greise Pärchen gibt einander Halt, als
sie zu ihrem Stammplatz am Eckfenster
schlurfen. Auch ein Mann im Trenchcoat
nimmt Platz, er schiebt seine Plastiktüte
unter den Tisch. Darin sind seine Habselig-
keiten, erzählt Kellnerin Allison, der Mann
sei obdachlos. „Er war Stammgast, dann
wurde er verrückt. Wir lassen ihn aber hier
essen, aus alter Verbundenheit.“

12.30 Uhr


Marko Remec hat auf seinem Tisch die
„New York Times“ ausgebreitet. Allison
bringt ihm eine gigantische Schale Salat.
Er holt sein Handy hervor und zeigt darauf
Fotos von seinen Skulpturen, die er in
einem Fabrikloft erschafft und überall auf
der Welt ausstellt. Er komme jeden Mittag

hierher, weil er hier seine Zeitung auf dem
Tisch ausbreiten und so lange sitzen kön-
ne, wie er wolle, sagt er. „Außerdem sind
Diner ein wichtiger Teil der amerikani-
schen Psyche. Wenn ich in einer fremden
Stadt bin, suche ich immer ein Diner und
weiß dann, was die Leute beschäftigt.“

Einmal, in einem Diner in New Hamp-
shire, stellte sich ein Mann an Markos
Tisch. Ein Präsidentschaftskandidat. Wer
Wahlen gewinnen will, schüttelt noch im-
mer Hände im Diner.

16 Uhr


Steve Kanellos, einer der beiden Eigentü-
mer, setzt sich zu mir, während ich gerade
denke: „Wer zum Teufel soll das alles es-
sen?“ Vor mir auf dem Teller liegt noch
immer die Hälfte des „Tuna Melt“-Sand-
wiches, bei dem es sich im Grunde um ein
mit Käse überbackenes Thunfischtoast
handelt, aus mir unerfindlichen Gründen
eines der beliebtesten Gerichte hier.
Um zehn Uhr hatte Steve seine Arbeit
heute begonnen, aber jetzt erst findet er
ein paar Minuten, um über sein Lebens-
werk zu sprechen. Eigentlich hat er einen
Abschluss in Informatik. Um das Studium
zu finanzieren, arbeitete er in Restaurants
und Cafés. Und dann ging ihm auf, dass er
ein Leben hinter dem Tresen spannender
fand als ein Leben hinterm Bildschirm.
1991 kauften er und sein Bruder das Diner.
Bei der Übergabe fiel dem vorigen Besitzer
auf, dass er keinen Schlüssel für die Ein-
gangstür hatte, er brauchte ja nie einen.
Auch Steve schließt nie. Manchmal aber
buchen das Diner Filmfirmen, und Holly-
woodstars wie Brad Pitt, Angelina Jolie und
Jennifer Lopez drehen hier. „Ich mache das
aber nicht mehr so häufig, die Stammgäs-
te drehen durch, wenn sie mal für ein paar
Stunden nicht reinkönnen.“

21 Uhr


Nach all den Stunden kommen mir die
Kellner vor wie alte Bekannte. Allison,
die Kümmererin. Brenda, die so herzlich
lächelt. Alice an der Kasse am Eingang, 4

Stammkunde Mike Domesco
hat bereits als Kind hier gegessen

Nick (l.) und Steve Kanellos (r.) gehört
das Diner. Mitte: Steves Sohn Pedra

An der Theke bedient Kellner
Timmy die Laufkundschaft

26.9. 20 19 113
Free download pdf