Der Stern - 26.09.2019

(Romina) #1

D


ie Bürger werden gnadenlos für
eine Ideologie ausgepresst“, sagt
Alice Weidel, die AfD-Frau. „Pille-
palle“, sagt Robert Habeck, der
Grüne. „Mich entsetzt die Kalt-
herzigkeit, mit der die Bundes-
regierung eine klimapolitische Wende
verweigert.“ Auspressen oder Pillepalle:
Das sind die Pole, zwischen denen sich die
Große Koalition mit ihrem Klimapaket zu
bewegen hat. Politisch betrachtet, partei-
politisch, aber man könnte auch sagen:
Demokratiepolitisch hatte sie die Wahl zu
treffen, wem von beiden sie Nektar liefert
und wem sie den Saft abzudrehen ver-
sucht. Blau oder Grün. So, nur so gesehen
hat die GroKo die richtige Entscheidung
getroffen. Gegen die AfD, für die Grünen.
Das gilt es mit zu bedenken bei der Be-
urteilung der klimapolitischen Beschlüsse
von Union und SPD. Unbedingt. Die AfD
wollte ein Fass aufmachen, weil sie mit
einschneidenden Beschlüssen kalkuliert
hatte, einem tiefen Griff in die Geldbörsen
der Wähler. Und einem Aufschrei der Em-
pörung. Propagandistisch war die Kampa-
gne vorbereitet, schon bei der Thüringer
Landtagswahl Ende Oktober sollte sie zün-
den. Björn Höcke malte eine „Ökodiktatur“
an die Wand, Alexander Gauland beschwor
deutsche Gelbwestenproteste herauf.

Zehn Euro pro Tonne CO 2 ab 2021?
Klimaexperten verlangen zum Einstieg
mindestens 35. Drei Cent mehr für den
Liter Benzin? Fünf Cent mehr Pendler-
pauschale pro Kilometer wiegen das höchst
komfortabel auf. So wie billigere Bahn-
tickets einen außerordentlich sanften Auf-
preis auf Flugtickets. Und: Der Strompreis
sinkt, das Wohngeld steigt, und für neue
Heizungen spendiert der Staat 40 Prozent.
Klar, für großstädtische Aktivisten, für
Wissenschaftler ist das nichts, pure Pro-
vokation, „Politikversagen“, wie der Potsda-
mer Klimaforscher Anders Levermann ätzt.
Aber 70 Prozent der Deutschen leben nicht
in Metropolen, wo der Klimaschutz zur Re-
ligion wurde, sondern in kleineren Städten
und auf dem Land, wo man härter für die
Existenz kämpfen und längere Strecken
mit dem Auto zurücklegen muss. Politisch
betrachtet: dort, wo die AfD Wähler keilt.
Gesellschaft ist ein verdammt dicker
Dampfer, der sich nicht mal eben in einer
Spitzkehre wenden lässt. Ohne dass die
Passagiere kotzen. Vorn schreien die Grü-
nen: Teil dich, Meer! Hinten lässt die AfD
einen Strick in die Schiffsschraube laufen.
Will man den rausholen, darf sich die
Schraube nicht zu schnell drehen.
Anders formuliert: Wer morgen noch
Klimapolitik betreiben will, muss auch
morgen noch mehrheitsfähig sein. Und
darf das Ruder nicht fahrlässig der AfD
überlassen, die Klimaschutz für Hysterie
hält und nicht an menschengemachte Erd-
erwärmung glaubt. Es stimmt schon: Wer
ein solches Klimapaket beschließt, fürch-
tet nicht die Apokalypse. Jedenfalls nicht
in der Natur. Im Parlament schon eher.
Deshalb hat das Ding den Charme des
zweiten Blicks. Vor der Wahl 2021 passiert
nichts Einschneidendes, der AfD wegen.
Die Deutschen üben Umdenken. Im
Trockenkurs. 2022 soll sich der CO 2 -Preis
verdoppeln – und erst 2025, im Jahr der
übernächsten Wahl, erreicht er endlich den
schon für heute geforderten Mindestbe-
trag von 35 Euro. Danach, ab 2026, soll’s zur
Sache gehen. Bis zu 60 Euro. Und der Auf-
schlag auf die Pendlerpauschale läuft aus.
Zweimal hat die Politik Klimaziele ge-
rissen, die für 2005 und für 2020. Soll man
ihr diesmal glauben, für 2030? Nun soll
jährlich Bilanz gezogen werden – und
nachgezurrt, falls erforderlich. Hoffnung
ist angezeigt. Denn ab 2021 dürften die
Grünen mitregieren. Dann wird ohnehin
nachgezurrt. Deshalb gönnen Schwarz und
Rot den Grünen auch den Pillepalle-Pro-
test. Er nährt den Partner von morgen. 2

Doch die GroKo rollte kein Fass auf den
Marktplatz, sondern ein Fässchen – ein
sehr kleines noch dazu. Als Alice Weidel ihr
kalt vorbereitetes Statement absonderte,
die Fama vom gnadenlosen Auspressen der
Bürger, da wirkte das nur noch grotesk.
Denn Aktion und Kompensation sind
in dem Programm so fein austariert, dass
von Lenkungswirkung, von erzwungener
Verhaltensänderung zur Bändigung des
Klimas zunächst mal keine Rede sein kann.

IN GEFAHR UND GROSSER NOT


... bringt der Mittelweg den Tod? Nicht unbedingt.


Jedenfalls nicht in der Politik. Wie die GroKo mit ihrem


gescholtenen Klimapaket unter Beweis stellt


16 26.9. 20 19

KOLUMNE


JÖRGES


Hans-Ulrich Jörges
Der stern-Kolumnist schreibt
jede Woche an dieser Stelle

ZWISCHENRUF AUS BERLIN


ILLUSTRATION: JAN STÖWE/STERN
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