Der Stern - 26.09.2019

(Romina) #1

E


ndlich fasst sich die Dame aus
dem Burgenland ein Herz.
Aufgeregt hat sie am Weges-
rand auf Sebastian Kurz ge-
wartet, der mit über tausend
seiner Anhänger auf den Csaterberg in Ös-
terreichs östlichstem Bundesland gewan-
dert ist. „Soll ich es ihm sagen, soll ich ihn
ansprechen?“, hat sie Umstehende zurate
gezogen, nun ruft sie laut seinen Vorna-
men. Sogleich dreht er sich lächelnd um
und lässt nach seiner Hand greifen. Man
ist gespannt, mit welchem Anliegen sich
die Frau an den jungen Altbundeskanzler
wenden wird. Dann offenbart sie sich: „In
meiner Familie heißen alle Erstgeborenen
nach dem Heiligen Sebastian – so wie Sie!“
Viel wird in den sozialen Medien über
die angebliche Heiligenverehrung des
Sebastian Kurz gespottet, hier ist sie
sprichwörtlich real und frei von Ironie. Der
jugendliche Held der österreichischen
Konservativen als Sehenswürdigkeit und
messianische Erscheinung in engen Jeans.
Die Menschen suchen seine Nähe, manche
auch Körperkontakt – und wollen immer
wieder Selfies, Selfies, Selfies. „Das ist im
Wahlkampf wirklich viel, aber es macht
mir auch Freude“, sagt Kurz. „Die Nähe zu
den Menschen ist mir nämlich wichtig.“
Der Begriff vom „Politiker zum Anfassen“
erlangt ungeahnte Dimensionen.
Politische Inhalte werden auf den som-
merlichen Wahlveranstaltungen der „Neu-
en Volkspartei“ nur in kleinen Dosen ver-
abreicht. Es geht um die Mobilisierung der
Anhänger – mit den Mitteln einer volks-
tümlichen Unterhaltungsshow. In einem
Burghof hat sich die Menge von einem ehe-
maligen Radiomoderator anfeuern lassen

und bereitwillig dem Interview einer
merkwürdigen Familie gelauscht, die ihre
Wohnung in der Parteifarbe Türkis gestylt
hat. Eine kleine Gruppe an Kurz-Kritikern
durfte sich am Burgtor positionieren und
hat Schilder mit Sprüchen wie „Menschen-
recht statt rechte Menschen“ in die Höhe
gehalten. Den kleinen Wasserschwall, den
Kurz bei seiner Ankunft von einem Gegner
abbekommen hat, wischt er verlegen ab.
Er lässt sich nicht nass machen. Das ver-
lorene Misstrauensvotum im Parlament,
das zu seiner Abwahl führte, die diversen
Anschuldigungen und Pannen im Wahl-
kampf scheinen an ihm abzuperlen. In
Umfragen führt die Volkspartei mit Wer-
ten zwischen 33 und 35 Prozent und liegt
damit vor ihrem eigenen Spitzenergebnis
von 2017. 44 Prozent der Österreicher wün-
schen sich ihn zurück an die Spitze der Re-
gierung. Dass Sebastian Kurz bald wieder
ins Kanzleramt auf dem Wiener Ballhaus-
platz einziehen darf, gilt als ausgemacht.
Doch bei den vielen Debatten und Du-
ellen der Spitzenkandidaten, die von den
Sendern inflationär veranstaltet werden,
offenbart sich das bevorstehende Dilem-
ma. ÖVP-Chef Kurz und die sozialdemo-
kratische Parteivorsitzende Pamela Ren-
di-Wagner sind einander augenscheinlich
in persönlicher Abneigung verbunden. Die
gegenseitige Antipathie ist förmlich kör-
perlich zu spüren. Schwer vorstellbar, dass
diese beiden Menschen in absehbarer Zeit
ihre Unterschriften unter einen gemein-
samen Koalitionsvertrag setzen könnten.
Das Aufeinandertreffen mit Norbert
Hofer, dem frisch gewählten Parteichef des
früheren Koalitionspartners FPÖ, trieft
hingegen vor Harmonie. Man duzt sich im

Fernsehen und scheint sich schwer damit
zu tun, das Gegenüber härter anzupacken.

„Wir wollen den Kurs fortsetzen“


Wir erinnern uns: Hofer ist Chef jener Par-
tei, deren Spitzenvertreter Strache und
Gudenus in einer besoffenen Nacht tiefe
Einblicke in ihre schmutzigen Macht-
fantasien offenbarten und damit für einen
der größten politischen Skandale der
zweiten Republik sorgten. Wer glaubte, da-
mit sei jene rechtskonservative Koalition,
die 17 Monate unter internationaler Kri-
tik gestanden hat, für immer Geschichte,
könnte sich getäuscht haben. Man muss
bloß genau hinhören, wie Kurz die Zusam-
menarbeit rühmt. Bereits im Gespräch auf
dem Csaterberg sagt er: „Tatsache ist, dass
diese Koalition sehr erfolgreich gear -
beitet hat.“ Man habe kleine und mittlere
Einkommen entlastet, die Schuldenpoli-
tik beendet und die illegale Migration
bekämpft. „Wir wollen diesen Kurs fort-
setzen und haben hundert Projekte defi-
niert, die zeigen werden, mit wem das
möglich ist.“ Viele Österreicher hoffen,
dass Kurz in einer Dreierkombination mit
den Grünen und der liberalen Partei Neos
diese Gemeinsamkeiten findet.
Mehrfach lässt Kurz in der Fernsehkon-
frontation mit Rendi-Wagner den Namen
des burgenländischen Landeshauptmanns
Hans Peter Doskozil fallen. Der gilt in
seiner Partei, der SPÖ, als Rechtsaußen,
koaliert auf Landesebene mit den Freiheit-
lichen und ist der vermutlich einzige
Spitzenvertreter der Sozialdemokraten,
der Lust hätte, sich mit Kurz an einen
Kabinettstisch zu setzen und dessen
restriktive Migrationspolitik weiterzu-

Wie eine messianische


in engen Jeans


Ein Touch von
Intimität:
Bei Wahlkampf-
terminen ist
Tuchfühlung
erlaubt

Erscheinung


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