Der Stern - 26.09.2019

(Romina) #1

werben. Deshalb startet Ludwig Hammel


am Donnerstag, dem 26. September, eine


eigene Petition auf der Kampagnenplatt-


form Change.org. Dort kann sich jeder, de,


der Zustand der Krankenhäuser am Her-


zen liegt, für sie starkmachen und die Poli-


tiker auffordern, Lösungen zu entwickeln.


Damit der Mensch wieder im Mittelpunkt


ärztlichen Handelns steht (change.org/


MenschVorProfit).


Günther Jonitz, Präsident der Berliner


Ärztekammer, kritisiert die gesundheits-


politische Entwicklung in Deutschland


schon lange. Auf ihn geht ein Kernsatz des


Ärzte-Appells zurück: „Es ist fahrlässig,


Krankenhäuser und damit das Schicksal


von Patientinnen und Patienten den Ge-


setzen des freien Marktes zu überlassen.


Niemand würde fordern, dass die Polizei


oder Feuerwehr schwarze Nullen oder Pro-


fite erwirtschaften müssen. Warum also


Krankenhäuser?“ Über Facebook erreich-


te diese Botschaft 1,7 Millionen Menschen.


Das Streben nach Gewinnmaximierung

begann im Jahr 2003 mit der Einführung


des Systems der „Fallpauschalen“. Es be-


lohnt jede Form von Aktionismus – unnö-


tige ärztliche Eingriffe und Operationen


eingeschlossen. So ist es heute profitabler,


einem Diabetiker mit Durchblutungsstö-


rungen den Fuß abzuschneiden, als ihn


aufwendig durch eine lange Behandlung zu


bewahren. Nachweislich wird daher zu oft


amputiert. Krankenhäuser überreden


Schwangere zu Kaiserschnitten, die ihre


künftige Gebärfähigkeit gefährden. Der


halbstündige Eingriff bringt 1000 Euro


mehr als eine natürliche Geburt, für die


Hebammen, Pflegekräfte und Ärzte rund


um die Uhr parat stehen müssen. Und viel


zu viele Menschen mit Rücken- oder


Kniebeschwerden landen auf dem OP-Tisch



  • dabei birgt jede Operation Risiken: In-


fektionen, Nervendefekte, bei älteren Men-


schen gar Gehirnschäden durch die Narko-


se. Mediziner wie Politiker wissen um all


das, die Krankenkassen auch.


Wie alles begann


„Ärzte als Renditebringer“ lautete das The-


ma einer Podiumsdiskussion auf dem Ärz-


tetag Ende Mai 2019 in Münster. Zahlreiche


junge Ärztinnen und Ärzte ließen dort ihrer


lange aufgestauten Wut freien Lauf. Auf


dem heißen Stuhl saß der Geschäftsführer


eines Großklinikums, der sich der Angriffe


kaum noch erwehren konnte. Mantraartig


wiederholte er: Krankenhäuser müssten


halt Gewinne machen, um wichtige Inves-


titionen tätigen zu können. Erschreckender


Ethikrat verurteilen solche Kontrakte. Und
doch bildet „korrumpieren“ nicht die
ganze Realität ab. Verbreitet ist eben auch
Erpressung, wenn Verwaltungen mit Stel-
lenabbau drohen, weil eine Abteilung nicht
die gewünschten Zahlen liefert. Das offi-
zielle Eingeständnis der Ärzteschaft, dass
beides passiert, war für manche der Unter-
stützerorganisationen längst überfällig.
Andere nahmen diese Hürde erst nach
Wochen – oder nie. Als ich kurz vor dem Er-
scheinungstermin eine zweite Fassung des
Ärzte-Appells mit den gesammelten Ände-
rungswünschen verschickte, fanden einige
Mediziner das undemokratisch. Sie kriti-
sierten, manche Formulierungen hätten an
Schärfe verloren. Der Verband der Demo-
kratischen Ärztinnen und Ärzte, der schon
früh dabei war, wollte abspringen. „Der Ap-
pell ist ein Kompromiss“, antwortete ich.
„Viele haben Zugeständnisse gemacht.“
Auf unsere Veröffentlichung folgten be-
schwichtigende Stellungnahmen weniger
Verbände wie dem der Krankenhausdirek-
toren: So schlimm sei alles nicht. Die Deut-
sche Krankenhausgesellschaft verneinte
ökonomisch gesteuerte Therapieentschei-
dungen komplett. Das ist nicht klug, denn
Studien belegen das Phänomen gut. Die
Zahl individueller Unterzeichner aber
stieg sprunghaft an. Das Postfach aerzte-
[email protected] quillt immer noch über.
Viele mutige junge Ärztinnen und Ärzte
sind dabei. Ein wichtiges Signal – denn sie
sind es, denen wir uns auch in der ferneren
Zukunft noch anvertrauen müssen. Die
Zahl der unterzeichnenden Organisatio-
nen wuchs von 19 auf 36: Rechnet man nur
die Mitgliederzahlen der Fachgesellschaf-
ten und Berufsverbände zusammen – In-
ternisten, Chirurgen, junge Urologen, Kin-
derärzte, plastische Chirurgen, Dermato-
logen, Anästhesisten, Psychiater und Kin-
derchirurgen –, vertreten allein diese elf
Organisationen mehr als 124 000 Medizi-
ner. Klar: Nicht jedes Mitglied wurde be-
fragt, entschieden haben ihre gewählten
Repräsentanten. Doch es sind weitere 25
Organisationen dabei, die noch nicht in
diese vorsichtige Rechnung einfließen.
Gemeinsam mit engagierten Patienten
wie Ludwig Hammel von der Morbus-Bech-
terew-Gesellschaft wollen wir alle dafür
sorgen, dass unsere Politiker sich nicht
länger davor drücken können, die offen-
sichtlichen Probleme der „Gesundheitsin-
dustrie“ – dieser Begriff tritt gerade den
Siegeszug gegen das alte Wort „Gesund-
heitswesen“ an – anzupacken. Die nächsten
Wochen werden spannend. 2

noch als das, was die jungen Ärzte öffentlich
sagten, ist, was manche mir anvertrauten:
„Wo es ökonomische Zwänge gibt, die mei-
ne Entscheidungen beeinflussen, fragen Sie?
Überall und immer, bei jeder Visite“, so ein
Chirurg. „Patienten werden mit fragwürdi-
gen Indikationen in die OP-Säle geschickt,
damit diese rund um die Uhr laufen und
Profit abwerfen“, sagte eine Anästhesistin.
Später sprach ich mit Chefärzten und Prä-
sidenten von Berufsverbänden, die die Lage
kaum anders beschreiben. Machtlos sehen
sie sich dem Willen der Geschäftsführun-
gen ausgesetzt. Nach drei Tagen fuhr ich
heim, in der Tasche Visitenkarten einiger,
die eine Schlüsselrolle dafür spielen sollten,
dass der Ärzte-Appell viral wurde.
Eine Blaupause gab es da schon, entstan-
den im Austausch mit einigen ärztlichen
Meinungsführern. Nach dem Ärztetag
schickte ich eine Rundmail an meinen
neuen Verteiler und an Mediziner, die ich
von Recherchen kannte. Es sollte eine Al-
lianz der Anständigen werden. Die Ant-
wort der Präsidentin des Deutschen Ärz-
tinnenbunds etwa kam schnell. Die 1800
Mitglieder ihres Verbandes würden sich
geschlossen hinter den Appell stellen. Da
wurde mir klar: Der Zuspruch würde wach-
sen. Bald folgte die Deutsche Gesellschaft
für Innere Medizin, 27 000 Mitglieder, die
eine Vorreiterrolle einnimmt, sie hat einen
„Ärzte-Codex“ verfasst, hinter dem 30 Or-
ganisationen stehen. Andere haderten
jedoch mit Formulierungen, über die wir
kontrovers diskutierten. So etwa: „Aber
auch manche Ärztinnen und Ärzte selbst
ordnen sich zu bereitwillig ökonomischen
und hierarchischen Zwängen unter. Wir ru-
fen diese auf, sich nicht länger erpressen
oder korrumpieren zu lassen.“
Ursprünglich stand hier nur „korrum-
pieren“, weil sich viele Ärzte mit Bonusver-
trägen ködern lassen, um die Zahl der lu-
krativen „Fälle“ ihrer Klinik zu steigern. Die
Bundesärztekammer und der Deutsche

Verfolgen Sie die
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stern.de/aerzte-appell
Die Patienten-Petition:
change.org/MenschVorProfit

26.9. 20 19 53
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