Der Stern - 26.09.2019

(Romina) #1
FOTO: PETER RIGAUD

G


rün, Rot, Schwarz: Alle reden von
einem Zukunftsthema, mit dem
verglichen die Digitalisierung ge­
radezu niedlich erscheint: dem
drohenden Klimawandel und der
rasanten Zerstörung aller Lebens­
grundlagen auf unserem Planeten. Tja, und was machen
die FDP und ihre liberalen Freunde in den Massen­
medien? Sie sind völlig überrumpelt, irritiert, wie aus
der Zeit gefallen. Und wie allen Abgehängten und Über­
forderten fällt ihnen nichts ein als zu motzen: Panik­
mache! Bevormundung! Gängelung! Entmündigung!
Ulf Poschardt, der Chefredakteur der „Welt“, wittert
sogar einen „postmodernen Illiberalismus“.
Nun sieht Poschardt sich bei seinem Kampf für die
bürgerliche Freiheit als tief überzeugter Liberaler. Doch
welche Verbote hält ein Liberaler für richtig und wel­
che für falsch? Unbegrenzte Zuwanderung nach
Deutschland zu verbieten, zum Beispiel, findet Po­
schardt richtig; unbegrenzte Zerstörung der Natur zu
verbieten, dagegen nicht. Aber warum? Was ist das Prin­
zip? Überzeugte Liberale halten es gemeinhin mit John
Stuart Mill, „dass der einzige Grund, aus dem die
Menschheit, einzeln oder vereint, sich in die Handlungs­
freiheit eines ihrer Mitglieder einzumengen befugt ist,
der ist: sich selbst zu schützen. Dass der einzige Zweck,
um dessentwillen man Zwang gegen den Willen eines
Mitglieds einer zivilisierten Gemeinschaft rechtmäßig
ausüben darf, der ist: die Schädigung anderer zu verhü­
ten“. So wenig Staat wie möglich, aber so viel wie nötig.

Dass es beim Kampf gegen die Vernichtung der
Lebensgrundlagen darum geht, „sich selbst zu schüt­
zen“ und „die Schädigung anderer zu verhüten“ steht
außer Zweifel. Der Staat ist also dringend gefragt. Und
ebenso steht außer Zweifel, dass der Staat nicht ohne
Verbote auskommt. Verbote sind dann sinnvoll, wenn
das Fehlen eines Verbots zur Freiheitsberaubung führt.
Regeln und Verbote im Straßenverkehr sichern die
Freiheit der Verkehrsteilnehmer, unverletzt vorwärts­
zukommen.
Das Strafgesetzbuch ist voll von Verboten im Diens­
te jedes Einzelnen. Warum soll das beim Verbot von
nicht recycelbarem Plastik, schädlichem Dünger und
Pflanzenschutzmitteln, von Massentierhaltung, zu viel
CO₂­Emissionen, Kurzstrecken­ und Luftwaffenflügen
sowie Billig­Kreuzfahrten nicht auch der Fall sein?
Je näher man heranzoomt, umso klarer wird: Die ent­
rüsteten Liberalen, die über Gängelung und Bevormun­
dung jammern, argumentieren nicht entfernt liberal.
Ein wahrer Liberaler sichert den Planeten, so gut er
kann, gegen seine Vernichtung. Er schützt seine Frei­
heit, diejenige anderer und die künftiger Generationen.
Dafür plädiert er selbstverständlich für Verbote und
nicht etwa dagegen. Was Poschardt liberal nennt, ist
nicht Liberalismus, sondern Egoismus! Das SUV ist
wichtiger als die Hungertoten in den Dürreländern und
das freie Leben unserer Kinder.
Und das alles nur, weil die vermeintlich Liberalen
nicht mehr weiterwissen. Wie lassen sich liberaler
Kapitalismus und konsequenter Kampf gegen die
Klimakatastrophe miteinander vereinbaren? Extensi­
ves Wachstum und Wohlstand um jeden Preis sind
passé. Doch was ist zu tun, wenn heute falsch ist, was so
lange richtig war?
Gerät einem die Überzeugung derart durcheinander,
sprechen Sozialpsychologen von „kognitiver Disso­
nanz“. Auflösen lässt sie sich auf zwei Weisen: durch
tiefes Nachdenken oder dadurch, diejenigen zu entwer­
ten, die einem die Dissonanz beschert haben. Im
Augenblick wählt die FDP das zweite. Was der AfD die
Ausländer sind, sind der FDP alle zukunfts­ und frei­
heitssichernden Verbote.
Doch wer den Anschluss nicht verlieren will, der soll­
te lieber gründlich nachdenken. Man könnte nun wie­
derum bei John Stuart Mill fündig werden. Der nämlich
warnte in seiner „Politischen Ökonomie“ davor, die
Natur weiterhin rücksichtslos auszubeuten. Der „un­
begrenzten Vermehrung des Vermögens“ stellt er einen
„stationären Zustand“ entgegen, eine innere Grenze, von
der an Wohlstandswachstum um jeden Preis nicht mehr
das Ziel sein darf. Und zwar nicht nur aus ökologischen,
sondern auch aus psychologischen Gründen: „Ich sehe
nicht ein, weshalb es eine Veranlassung zur Beglück­
wünschung abgeben sollte, dass Personen, die bereits
reicher sind, als es für irgendjemand nötig ist, ihre
Mittel verdoppelt haben, um Dinge zu verbrauchen,
welche wenig oder gar keine Freude gewähren, es sei
denn als eine Schaustellung des Reichtums.“ Einen
solchen „stationären Zustand“ ökonomisch denkbar zu
machen – das wäre was! „Die Zukunft wird nur so gut,
wie du sie machst!“, lautet der Satz auf dem FDP­Partei­
plakat. An die Arbeit, Freunde! 2

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Der 54-jährige Philosoph ist
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62 26.9. 20 19

KOLUMNE


Richard David Precht


AUF DEM WEG NACH MORGEN


An dieser Stelle schreiben im wöchentlichen Wechsel unsere Kolumnisten
Luisa Neubauer, Richard David Precht, Harald Welzer und Aleida Assmann
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