Der Stern - 26.09.2019

(Romina) #1

SAUDIARABIEN


JEMEN


Golf von Aden

ROTES MEER

Aden


Sana’a


Hudaida


Taiz

seit 2014 unter Kontrolle der Huthi

Sitz der von Saudi-Arabien
unterstützten Exil-Regierung

OMAN


Huthi-Rebellen
(unterstützt vom Iran)
Hadi-Regierung (unterstützt
von Saudi-Arabien)
Region, in der sich
al-Qaida festgesetzt hat
Hungergebiete
bis zur Wiedervereinigung im Mai
1990 stark gesicherte Grenze
zwischen Nord- und Südjemen
Pipelines und Ölfelder

100 km

EUROPA

AFRIKA

IRAN

JEMEN

SAUDI-
ARABIEN

E


s war früher Morgen, als Lorenzo
Tugnoli in die Militärklinik fuhr.
Reporter-Routine: Er wollte mit den
Verwundeten sprechen; hören, was
sie über die Kämpfe zu erzählen
hatten. Die Front, die den Jemen
teilte, war ganz in der Nähe.
Ein Moped fuhr vor, erzählt Tugnoli, da-
rauf ein Mann und, in eine Decke gewi-
ckelt, sein Sohn: Junis, drei Jahre alt. Am
Tag zuvor sei das Fieber des Jungen stark
gestiegen, berichtete der Vater, doch er
habe es nicht gewagt, sich nachts auf den
Weg ins Krankenhaus zu machen. Er habe
gewartet, bis die Sonne aufging.
In der Klinik begann ein kurzer Kampf.
Junis atmete nicht mehr. Die Ärzte reani-
mierten ihn, seine glasigen Augen traten
noch einmal hervor. Ein Arzt sagte: „Der
müsste auf eine Intensivstation, aber wir
haben keine.“ Schnell ließ Junis’ Atmung
wieder nach, er hatte kaum noch Puls.
Irgendwann schob der Vater seine Hand
unter das T-Shirt des Kindes, er tastete,
suchte den Herzschlag. Dann schrie er auf.
Sein Junge war gestorben.
Während der Vater den Sohn auf den
Arm nahm und ihn hinaustrug, während
man drinnen seine Schreie hören konnte,
schaute Tugnoli in die Gesichter der Ärzte
und Krankenschwestern. Sie zeigten kei-
ne Regung. Sie hatten zu viele Kinder
sterben sehen.
„Ich stellte mir vor“, sagt Tugnoli, „wie
Menschen in Deutschland reagieren wür-
den, wenn in einem Krankenhaus ein Kind
an einer Lungenentzündung stirbt.“ Aber
der Jemen, sagt er noch, liege eben sehr
weit weg. Seine Fotos sind ein Versuch, das
Land ein bisschen näher zu holen.
Seit 2015 tobt der Krieg zwischen einer
von Saudi-Arabien angeführten Militär-
koalition und den jemenitischen Huthi-
Rebellen, die sich nach dem Rücktritt des
langjährigen Präsidenten Ali Abdullah
Salih angeschickt hatten, die Macht zu
übernehmen. Es ist ein nicht endender
Konflikt, der es im Westen nur noch in die

Schlagzeilen schafft, wenn er überregiona-
le Auswirkungen haben könnte. So wie
jüngst, als es hieß, die Huthi hätten Saudi-
Arabiens zentrale Ölraffinerie angegriffen.
Und damit den Ölpreis. Doch auch wenn
niemand in den Nachrichten über den Je-
men spricht, geht dort alles weiter wie in
den Jahren zuvor. Das Sterben. Der Hunger.
Die Hilflosigkeit.
Von Beginn an gehörte es zur Strategie der
Saudis, keine Journalisten in den Jemen
zu lassen. Niemand sollte dokumentieren,
was dieser Krieg anrichtet. Der italienische
Fotograf Lorenzo Tugnoli ist einer der
wenigen, denen es trotzdem gelungen ist,
durch das Land zu reisen – zweimal, zum
ersten Mal im Mai 2018. Er war viel unter-
wegs in den vergangenen Jahren, in Syrien,
Libyen, Afghanistan. Aber wenn er über den
Jemen spricht, sagt er: „So etwas habe ich
noch nie gesehen.“

Kampf um die Vormacht in der Region


Es gibt ein paar Formulierungen, die im-
mer zu hören oder zu lesen sind, wenn es
um den Jemen geht: „der vergessene Krieg“
zum Beispiel oder auch: „die größte hu-
manitäre Katastrophe der Welt“. Hilflose
Floskeln, die schon lange niemanden mehr
aufrütteln.
Denn „die größte Katastrophe“ findet in
einem Land statt, in dem kaum ein Euro-
päer je gewesen ist. Millionen Menschen
sind auf der Flucht – aber raus aus dem
Jemen schafft es fast keiner. Und nach
Europa schon gar nicht.
Was die Männer, Frauen und Kinder aus
ihrer Heimat vertreibt, ist kein typischer
Krieg. Die meisten Opfer werden nicht in
Gefechten getötet. Die schlimmste Waffe
ist der Hunger. Bis Ende 2019, schätzt die
UN, werden 102 000 Menschen in Kampf-
handlungen umgekommen sein. Und wei-
tere 131 000 durch Hunger oder die Folgen
des Mangels – wie Seuchen und Infektio-
nen. Es sind geschätzte Zahlen, weil die
meisten Menschen in Gegenden umkom-
men, in denen niemand die Toten zählt.

Die Lage im Jemen ist komplex – auch so
ein Satz zu diesem Krieg. Wer gegen wen?
Und warum? Es begann mit der Huthi-
Bewegung, die sich zu Beginn der 2000er
Jahre zunehmend politisch radikalisierte.
Die Huthi gehören einer spirituellen schi-
itischen Schule an. Immer wieder gerieten
sie in Konflikt mit dem sunnitischen Auto-
kraten Ali Salih, der von Saudi-Arabien
und den USA unterstützt wurde.
Mit dem Arabischen Frühling verlor Sa-
lih die Macht. Es geschah das Gleiche wie
in vielen Ländern der Region: Es stürzte ein
Regime, das jahrzehntelang mit Gewalt ge-
herrscht hatte, das Konflikte unterdrück-
te, statt sie zu lösen. Salih war ratlos, als das
Volk Forderungen stellte. War unfähig zum
Dialog, weil seine Herrschaft darauf beruh-
te, dass die Menschen stillhielten.
Auch Salihs Nachfolger Abdrabbuh
Mansur Hadi konnte sich nicht lange hal-
ten, er floh aus der Hauptstadt Sana’a an
die Küste, nach Aden. Und die Huthi nutz-
ten das Machtvakuum und eroberten gro-
ße Gebiete, darunter Sana’a und den wich-
tigen Hafen von Hudaida. Östlich davon
fiel ein großer Landesteil an al-Qaida.
Die Huthi inszenierten sich als Wider-
standskämpfer. Nicht nur gegen das unter-
gegangene Regime und Saudi-Arabien.
„Tod den USA!“, skandierten sie. Und:
„Tod Israel! Verdammt seien die Juden!
Sieg dem Islam!“ Die Huthi bewundern die
libanesische Hisbollah-Miliz und hoffen
auf die Macht im Land, so wie es die His-
bollah im Libanon geschafft hat.
Die Saudis begannen den Krieg damit,
die Huthi zu bombardieren. Die mit ihnen
verbündeten Vereinigten Arabischen Emi-
rate schickten Truppen nach Aden; der
Westen ist bis heute an ihrer Seite. Vor
allem Großbritannien und die USA unter-
stützten die Koalition logistisch und mit
Waffen.
Je länger der Konflikt dauerte, desto
mehr wurde er zu einem, man muss es so
sagen: Spielfeld. Denn anfangs waren die
Huthi nicht die iranischen Stellvertre-

26.9. 20 19 95

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