Der Stern - 26.09.2019

(Romina) #1
Lorenzo Tugnoli (l.) war für
seine Reportage zweimal im
Jemen, zuerst im Süden, beim
zweiten Mal auch im Gebiet
der Huthi. Raphael Geiger bekommt bis heute
kein Visum für das Land. Ihm bleibt nur, mit
den Menschen zu telefonieren

Trotz Gefahren und logistischer Schwierig-
keiten retten Helfer im Jemen jeden Tag
Menschenleben. Wir leiten Ihre Hilfe weiter.
Bitte spenden Sie an: IBAN DE20 2007
0000 0469 9500 00 – BIC DEUTDEHH –
Stichwort „Jemen“; http://www.stiftungstern.de

ter, für die Saudi-Arabien sie hielt. Sie
gerieten erst langsam in diese Rolle. Das
iranische Regime begriff seine Chance:
Mit den Huthi bot sich ein Verbündeter
an, direkt an der saudischen Grenze. So
wurde der Jemen zum Schauplatz eines
Stellvertreterkriegs um die Vormacht im
Nahen Osten.

Ohnmächtige Weltgemeinschaft


Lorenzo Tugnoli kennt beide Seiten der
Front im Land, er ist zu den Kämpfern der
Huthi gefahren und zu denen ihrer Geg-
ner. Er besuchte Flüchtlingslager, Märkte,
Schulen. Er wollte zeigen, wie es im Jemen
aussieht. Wie die Menschen leben. Die
Momente einfangen, in denen aus dem
Krieg ein einzelnes Schicksal wird: wenn
ein Junge über den Schutt balanciert, der
einmal ein Haus war. Wenn Menschen an
einem Gemüsestand vorbeigehen und
wissen, dass sie sich nicht mal eine Toma-
te leisten können.
Wenn eine junge Frau, Dschamila, in
einem verlassenen Haus in Aden auf die
Geburt ihres Kindes wartet. Eine von Mil-
lionen, die der Krieg vertrieben hat und
die nun mit ihrer Familie in einem Haus
ohne Dach ausharrt. Als Tugnoli sie traf,
hatte es gerade geregnet. In der Ecke ein
Feuer, eine improvisierte Küche. Dscha-
mila saß auf dem Boden und dachte sich
ein Abendessen aus.
Man kann, um die Lage im Jemen in
Ansätzen zu begreifen, an Frauen wie
Dschamila denken. An Kinder wie Junis.

Oder man sieht sich das Video jener Pres-
sekonferenz an, die der Sprecher des UN-
Generalsekretärs, Stéphane Dujarric, am


  1. August dieses Jahres in New York ab-
    hielt: Der Jemen war an diesem Tag der
    vierte Punkt auf seiner Liste, zwischen
    Syrien und dem Sudan. „Ich habe ein hu-
    manitäres Update“, sagte er. Die Zusagen
    der Geberkonferenz im Februar seien
    immer noch nicht erfüllt, mehrere Hilfs-
    programme seien bereits in den Wochen
    zuvor eingestellt worden. Dann sprach Du-
    jarric ein Wort aus, das so gar nicht passte
    zu der sachlichen Stimmung im Raum:
    Staggering, erschütternd. Er sagte: „Er-
    schütternde 22 lebensrettende Programme
    werden in den nächsten zwei Monaten
    eingestellt, wenn kein Geld eintrifft.“
    Danach nannte er noch zwei Zahlen. Für
    zwölf Millionen Menschen, sagte er, müss-
    ten in diesem Fall die Essensrationen ge-
    kürzt werden. 2,5 Millionen unterernährte
    Kinder wären „abgeschnitten von Versor-
    gung, die sie bisher am Leben gehalten hat“.
    In Aslam, im Nordwesten des Landes, hat
    Lorenzo Tugnoli eine Klinik für solche
    Kinder besucht. Er verbrachte zehn Tage
    dort. Jeden Morgen kamen sie an: Familien
    mit kleinen Jungen und Mädchen, deren
    Rippen sich unter der Haut abzeichneten.
    Tugnoli fotografierte eine Mutter, Fatima,
    die ihre Tochter Nada in eine Plastikschüs-
    sel hob, welche mit einem Seil an einer
    Waage befestigt war. „Alle Eltern wollten
    mir ihre Kinder zeigen“, sagt er. „Sie woll-
    ten sie der Welt zeigen.“


Die Klinik war so überfüllt, dass sich zwei
Kinder ein Bett teilen mussten, während die
Mütter auf dem Boden schliefen. Die Frau-
en wussten: Im Krankenhaus hatten ihre
Kinder wenigstens eine Chance. Sie würden
nur vielleicht sterben, nicht ganz bestimmt.
Der Jemen ist ein Land, in dem relativ
wenig Geld viel erreichen könnte. Viel Leid
könnte verhindert werden, wenn es nur
genug internationalen Druck gäbe, einen
Deal, eine gemeinsame Anstrengung. Es ist
ein Land, über das schon oft in solchen
Sätzen gesprochen wurde: im Konjunktiv.
Und dann ging alles weiter wie bisher.
Über vier Jahre dauert der Krieg jetzt,
gewinnen kann ihn niemand mehr. Die
Emirate haben sich bereits weitgehend zu-
rückgezogen, zuletzt kämpften in Aden
verschiedene Milizen gegeneinander. Je
länger der Konflikt anhält, desto kompli-
zierter wird er, in desto mehr Teile zerfällt
das Land. Al-Qaidas Macht ist ungebro-
chen, trotz des jahrelangen Drohnenkriegs
der USA.
Nach dem Angriff auf ihre Ölversorgung
bombardieren die Saudis den Jemen ver-
stärkt weiter. Kronprinz Muhammad Bin
Salman hat den Krieg am dringendsten
gewollt, er sollte Saudi-Arabien zur Füh-
rungsmacht des Nahen Ostens machen.
Jetzt findet er keinen Weg mehr heraus,
ohne als Verlierer dazustehen.
Haben die Huthi ihr Ziel erreicht? Sie
regieren einen inoffiziellen Rumpfstaat, in
dem viele Kinder verhungern. Andere, die
überleben, werden groß mit dem Hass auf
die Saudis und den Westen. Auf der an-
deren Seite wartet al-Qaida auf jene, die
gegen die Schiiten kämpfen wollen. Oder
ebenfalls gegen den Westen. Das Land ist
ein riesiges Rekrutierungslager für die
Terroristen von morgen.
Die UN hat nachgerechnet, wie oft im
Jemen ein Kind stirbt, die Antwort ist: alle
elf Minuten und 54 Sekunden. 2

ES GIBT KEINE RUHE


VOR DIESEM KRIEG


Eine junge Frau
auf der Flucht.
Wie die meisten
Zivilisten wird
sie das Land
nicht verlassen
können

96 26.9. 20 19
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