Der Stern - 26.09.2019

(Romina) #1
ILLUSTRATION: KATRIN FUNCKE/ART

ACT/STERN

Diese Woche:
Professor Dr. Uwe Kehler,
59, Chefarzt der Neurochirurgie,
Asklepios Klinik Altona
in Hamburg

AUFGEZEICHNET VON LISA HEUCHEMER;

drückt ein Blutgefäß im Kopf auf besagten
Nerv. Es kommt dadurch zu unkontrollier-
ten Reiz-Entladungen, die wiederum das
Gleichgewichtsorgan irritieren, sodass
Schwindelattacken entstehen.
Die Krankheit ist selten und wird noch
seltener gleich erkannt. Bei einer Kern-
spintomografie muss gezielt danach ge-
sucht werden. Betroffene haben häufig
während des Schwindels Hörstörungen
auf der betroffenen Seite. Die Symptome
des Patienten passten also zu der Ver-
mutung. Und tatsächlich sah man auf den

A


ls sich der Patient in unserer Am-
bulanz vorstellte, litt er bereits
seit zwei Jahren an dramatischen
Schwindelattacken. Er erzählte
seine Geschichte: Bis zu 80 Mal
am Tag begann sich plötzlich

alles um ihn herum zu drehen – es dauer-


te Sekunden bis Minuten. Häufig waren die


Beschwerden so heftig, dass der Mann sich


nicht mehr auf den Beinen halten konnte


und zu Boden stürzte. Dazu kam ein


quälendes Geräusch auf dem rechten Ohr.


Seinen Alltag konnte der Anfang 30-Jäh-

rige kaum noch bewältigen.


Zumal er als Koch arbeitete


und die Gefahr bestand, dass er


auf den heißen Herd fallen


könnte. Nach monatelanger


Krankschreibung verlor er


seine Stelle. Für ihn und seine


Lebensgefährtin waren die At-


tacken eine riesige Belastung.


Bevor er zu uns kam, war der

Patient bereits bei vielen ande-


ren Medizinern gewesen –


unter anderem HNO-Ärzten


und Neurologen. Schwindel ist


kein eigenes Krankheitsbild,


sondern Symptom für viele


verschiedene Erkrankungen:


etwa ein Problem mit dem


Gleichgewichtsorgan im In-


nenohr, neurologische Leiden


wie ein Schlaganfall, für einen


Tumor, Multiple Sklerose oder


auch psychische Krankheiten.


Bei diesem Patienten tippten

die Ärzte zunächst auf einen


„Lagerungsschwindel“. Dieser


Typus entsteht, wenn sich so-


genannte Ohrensteine, kleine,


im Innenohr befindliche Kris-


talle, ablösen und in den Bogen-


gängen verhaken. Sie irritie-


ren das Gleichgewichtsorgan.


Diese Art Schwindel lässt sich


meist gut durch spezielle Be-


wegungen behandeln: Lage-


rungsübungen, die der Arzt


mit dem Patienten durchführt. Doch bei


dem Mann nützten diese Manöver nichts.


Ein Neurologe hatte schließlich den Ver-

dacht, dass es sich um eine „Vestibularis-


Paroxysmie“ handeln könnte. Paroxysmie


steht für Attacke oder Anfall, der Nervus


vestibularis ist der Gleichgewichtsnerv. Es


ist ein komplexes Krankheitsbild. Dabei


Bildern, dass ein Gefäß im Kopf auf den
Nerv drückte – das Problem war endlich ge-
funden.
Damit aber war es noch nicht gelöst. Der
Patient erhielt zunächst die Therapie der
Wahl: Carbamazepin, ein Medikament, das
auch bei Epilepsie eingesetzt wird. Doch er
litt stark unter den Nebenwirkungen der
Arznei – zu ihnen gehört fatalerweise auch
Schwindel. Seine Attacken wurden nicht
weniger oder schwächer, und er hatte kaum
noch Hoffnung, dass es ihm irgendwann
einmal wieder besser gehen würde. Zwar
gab es einen Namen für sein
Leiden – aber bislang keine
Linderung.
Schließlich kam er zu uns in
die Klinik. Wir führten eine
zweite, stark verfeinerte Kern-
spin-Untersuchung durch und
konnten auf den Bildern sehr
gut erkennen, wie und wo ge-
nau sich Gefäß und Nerv im
Kopf ins Gehege kamen.
Nachdem wir uns dieses kla-
re Bild machen konnten, emp-
fahlen wir dem Patienten eine
OP. Er stimmte sofort zu. Für
uns Neurochirurgen ist dieser
Eingriff vergleichsweise klein:
Wir machten hinter dem Ohr
einen kurzen Schnitt und öff-
neten an einer kleinen Stelle
den Schädel. Dann trennten
wir das Gefäß vom Gleich-
gewichtsnerv, schufen etwas
Abstand und polsterten die
Arterie ab. Das schuf etwas
mehr Raum.
Es war, als wäre bei dem
Patienten ein Schalter um-
gelegt worden. Als er aus der
Narkose aufwachte, war der
Schwindel weg – und blieb
verschwunden. Der Mann war
glücklich. Und er ist es noch
immer; vor Kurzem – Monate
nach der OP – habe ich mit
ihm telefoniert. Ich freue mich
mit ihm. Nach zwei Jahren Leidenszeit
konnte er endlich geheilt werden. 2

Ein Mann hat seit zwei Jahren bis zu 80 Mal am


Tag starke Schwindelattacken. Keiner kann helfen.


Bis ein Arzt die Ursache behebt: zu große Nähe


Karussell im Kopf


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DIE DIAGNOSE


GESUNDHEIT


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