Neue Zürcher Zeitung - 09.10.2019

(Brent) #1

Mittwoch, 9. Oktober 2019 MEINUNG &DEBATTE


Grobe Unsportlichkeiten


Der Gang zum Strafrichter muss die Ausnahme bleiben

Der Spieler nimmt Anlauf und springt seinem Geg-
ner mit gestrecktem Bein und den Stollen voraus
direkt ins Knie. Die brutale Attacke von Gabet
Chapuisat gegen LucienFavrein einem Meister-
schaftsspiel von1985 ist bis heute das wohl be-
rühmtesteFoul der SchweizerFussballgeschichte.
Nach einem zweiJahre dauerndenVerfahren wurde
Chapuisat voneinemGenfer Gericht schliesslich zu
einer Busse von 5 000 Franken verurteilt. Es war das
erste Mal, dass ein ziviles Gerichtin derSchweiz
eine Strafe wegen einesFouls auf dem Sportplatz
aussprach. Sollen Spitzensportler damitrechnen
müssen,bei hartemKörpereinsatz nach dem Ab-
pfiff vor den Strafrichter gezerrt zu werden?
Für den tschechischen Spitzen-Handballer
Milan Skvaril vom HSC SuhrAarau soll die Angst
vor dem Richter sogar dazu beigetragen haben,
dass er seine Karriere in der Schweiz vorzeitig be-
endet und in seine Heimat zurückkehrt. Skvaril
hatte Nationalspieler NicolasRaemy vonWacker
Thun in einem Play-off-Viertelfinal so hart zu


Boden gerissen, dass er nicht nur einen Platzver-
weis und eine Spielsperre kassierte, sondern vom
gefoulten Gegenspieler zusätzlich wegen versuch-
ter schwererKörperverletzung angezeigt wurde.
Skvaril will sich demVerfahren zwar stellen, doch
sein Abgang vor dem Hintergrund des drohenden
Strafverfahrens löst in den SportszenehoheWel-
len aus.Alles drehtsich um dieFrage, wie vielJus-
tiz für den Sport gut ist.
Denn tatsächlich sind Sportplätzekeinerechts-
freienRäume.Trotzroten Karten, Elfmeter und
Sperren gilt das zivileRecht auch hier.Wer aufs
Gröbste gegen dieRegeln verstösst und dabei selbst
schwersteVerletzungen des Gegenspielers in Kauf
nimmt, soll sich auch vor dem Strafrichter verant-
worten müssen.Auch das härteste Derby darfkeine
Entschuldigung für Attacken sein, die überunver-
hältnismässige Unsportlichkeiten hinausgehen. Es
versteht sich aber von selbst, dass auf demFuss-
ballplatz andere Massstäbe gelten als auf offener
Strasse:Wer Mannschaftssportarten betreibt, die
mit einem hohenKörpereinsatzverbunden sind,
weiss um dasVerletzungsrisiko – zumal die Emo-
tionen oft hochkochen. DieJustiz muss solche Be-
sonderheiten des Sportgeschehens berücksichtigen.
Skvaril beging ein hartesFoul, für das sich eine
Sperre von nur gerade einem Spiel in derTat mild
ausnimmt. Doch ob derRegelverstoss derart krass

war,dassdasStrafgerichteingreifenmuss,erscheint
aufgrund derVideobilder dennoch fraglich. Bisher
sind die schweizerischen Gerichte in diesemBereich
eher zurückhaltend. Es gibt nur wenige Urteile zu
Fouls im Spitzensport. Der imVergleich zu Skva-
rilsFoul anRaemy mindestens so brutaleAngriff
des FC-Aarau-Spielers SandroWieser gegen Gilles
Yapi vom FC Zürich imJahre 20 14 blieb strafrecht-
lich gar ungeahndet,nachdemYapisVerein die An-
zeigeimvergangenen Herbst zurückgezogen hatte.
Denn es gibt gute Gründe, auf dieVerbands-
gerichte zu vertrauen. Diese sind näheramGesche-
hen und mit den Eigenheiten des Sports besser ver-
traut.Sieentscheiden flexibel und schnell, weshalb
dieReaktion inFormvon Bussen oder Sperren
direkt auf die Unsportlichkeit folgt. Sofern dieVer-
bandsgerichte dieRegeln tatsächlich durchsetzen,
geht von ihren Sanktionen eher eine Signalwirkung
aus. Ordentliche Gerichtsverfahren nehmen da-
gegen – wie in denFällenWieser und Chapuisat –
oftJahre in Anspruch,mit völlig offenemAusgang.
Auf mögliche Strafurteile folgen unter Umständen
gar weitereVerfahren wegen Schadenersatzzahlun-
gen, welche die Belastung für Sportler undVereine
zusätzlich erhöhen. Solche Prozesse sind berech-
tigt, wennSportler im Spieleine rücksichtslose Bru-
talität an denTaglegen. Doch sie sollten dieAus-
nahme bleiben.

Die Verbandsjustiz


ist näher am Geschehen


und mit den Eigenheiten


des Sports besser vertraut.


Von ihren Sanktionen geht


eher eine Signalwirkung aus.


Physik-Nobelpr eis fürSchweizer Astronomen


Eine Entdeckung mit philosophischer Dimension

Dieser Nobelpreis war überfällig. Gewiss, diese
Aussage ist ein Allgemeinplatz, der alleJahre wie-
der insFeld geführt werden kann. Denn die Müh-
len in Stockholm mahlen bekanntlich langsam
und gründlich. Die Schweizer Astronomen Michel
Mayor und Didier Quelozvon der Universität Genf
sind also nicht die Ersten,die langeauf die höchste
Auszeichnung warten mussten, die in denWissen-
schaften vergeben wird. Aber in diesemFall fragt
man sich schon, warum es so lange gedauert hat.
Es kann nämlichkeinen Zweifel daran geben:Was
die beiden Astronomen vor fast 25Jahren entdeckt
haben, hat überdieWissenschafthinaus hoheWel-
lengeworfen. Zwar kann man nicht sagen, dass die
Entdeckungdes ersten Planetenausserhalb unseres
Sonnensystems einen unmittelbaren Nutzen für die
Menschheit hatte, wie es Alfred Nobel in seinemTes-
tament verfügt hatte.Aber die Erkenntnis, dassesin
unserer Milchstrasse (und sehr wahrscheinlich auch
in anderen Galaxien) unzählige Planetensysteme gibt,


hat eine weltanschauliche Dimension wie nur wenige
Entdeckungen der letztenJahrzehnte. Sie zwingt uns
dazu, unsereStellungim Universum zu überdenken
und der Möglichkeit insGesicht zu schauen,dass es
mit der Einzigartigkeit der Erde nicht so weit her ist.
Wasdamals mit Mayor und Queloz seinen An-
fang nahm, hat sichrasch zu einem florierenden
Forschungsfeld entwickelt. Es vergeht kaum eine
Woche, in der extrasolare Planeten nicht für Schlag-
zeilen sorgen. Zuletzt gab die Nachricht zureden,
dassForscherWasserdampf in der Atmosphäre eines
Planeten nachgewiesen haben, auf dem dieTempe-
raturen einigermassen erträglich seinkönnten.
Solche Meldungen sind mitVorsicht zu genies-
sen. Denn sie suggerieren oft, dass wir kurzvorden
Entdeckung einer zweiten Erde stehen.Das ist defi-
nitiv nicht derFall. Dennoch gibt es gegenwärtig
wohl kaum einForschungsgebiet,das derart leben-
dig und interdisziplinär ist.Neben Astronomen wis-
sen es auch Geologen, Chemiker und Biologen zu
schätzen, dass der Blick auf andereWelten einiges
darüber verrät, wie unser Sonnensystem entstanden
ist und wieso sich ausgerechnet auf derErde lebens-
freundliche Bedingungen entwickelnkonnten.
Die beiden Nobelpreisträger haben viel bewegt,
auch in der Schweiz. Zwar geniesst dieWeltraum-
forschung seit den Apollo-Zeiten einen hohen Stel-

lenwert in diesemLand. Aber erst Mayor und Que-
loz haben dafürgesorgt, dass der Blick derWelt-
raumforscher über den (Teller-)Rand unseres Son-
nensystems hinausging. Die Saat fielauf fruchtbaren
Boden. Mit demForschungsschwerpunkt Planet-S
sorgt der Schweizerische Nationalfonds seit 20 14
dafür, dass dieses zukunftsträchtigeForschungsfeld
eine ausreichende finanzielle Unterstützung erhält.
Auch international stehen die Schweizer Planeten-
forscher gut da. An den Grossteleskopen der Euro-
päischen Südsternwarte in Chile sind heute Spek-
trografen in Betrieb,diein der Schweiz entwickelt
wurden und die Erfolgsgeschichte von Mayor und
Queloz fortschreiben. Mit diesen ungemein empfind-
lichen Instrumenten wurden viele der 40 00 extrasola-
ren Planeten entdeckt, die inzwischen bekannt sind,
darunter auch Planeten, die der Erde viel ähnlicher
sind als der Planet 51Pegasib, mit dem alles begann.
Noch in diesemJahr steht der nächste Schrittbe-
vor. Dann wird die ESA den Cheops-Satelliten ins
All bringen, der massgeblich von der Schweiz ent-
wickelt und finanziert wurde. Er dient dazu, vielver-
sprechende Exoplaneten aufzuspüren und sie zu cha-
rakterisieren.Dass der frischgebackene Nobelpreis-
träger Queloz zumWissenschaftsteam von Cheops
gehört, dürfte der Mission dieAufmerksamkeit ver-
leihen, die sie verdient.

Die Erkenntnis,


dass es unzählige


Planetensysteme gibt,


zwingt uns dazu, unsere


Stellung im Universum


zu überdenken.


Gemeindeversammlung oder Ortsparlament?


Die Minder heit darf nicht über die Mehrheit best immen

FürTouristen müsste der Besuch einer Gemeinde-
versammlung auf dem Dorfe eigentlich zu den
Pflichtterminen gehören. So unmittelbar erlebt
man die Schweiz selten. Man kann beobachten, wie
sichGemeindepolitiker umKopf und Kragenre-
den.Mehr- und Minderheiten machen sich im Saal
akustisch bemerkbar, es wird geklatscht, geraunt,
getuschelt. Kuriose Gestalten erheben sich zum
Monolog.Von den Behörden gefürchtet sindRück-
weisungsanträge, die Einzelne aus einerLaune her-
aus stellen und die monatelange Planungsarbeit
innert Minuten zunichtemachenkönnen.
Weil jede Millionenausgabe die anwesenden
Steuerzahler direkt betrifft, muss die neueTurn-
halle oder der Gemeindehausumbau gut begrün-
det sein, um das Plazet zu erhalten. Natürlich geht
es längst nicht an jeder Gemeindeversammlung
derartlebendigzuund her. Dennoch ist es nicht
falsch, von gelebter direkterDemokratie zu spre-
chen. DasssichWiderstandregt, wennder Ge-


meindeversammlung die Abschaffung droht, wie
nun in Horgen, ist logisch.
Die Probleme mit derVersammlungsdemokra-
tie beginnen, wenn das Gemeinwesen wächst.Da-
mit ein Entscheid legitim ist, müssen möglichst
viele derer, die davon betroffen sind, anwesend
sein. Bei 30 00 Stimmberechtigten mag es akzepta-
bel sein, wenn 200 Leute entscheiden – bei 20 000
Einwohnern ist das nicht mehr derFall.
In fast allen wachsenden Schweizer Gemein-
wesenist zu beobachten, dass die Zahl der poli-
tisch Aktiven nicht im gleichen Masse zunimmtwie
die Bevölkerungszahl.Daraus ergibt sich ein Legi-
timitätsproblem. Zwar hat das Argument der Ge-
meindeversammlungsbefürworter,die Abwesen-
den seien selbst schuld, etwas für sich. Aber es ist
dennoch fragwürdig, wenn de facto nur wenige Pro-
zent der Stimmberechtigten über die Geschicke
eines Orts entscheiden. Zudem ist wissenschaftlich
nachgewiesen, dass in denVersammlungen ältere
Leute und Alteingesessene dominieren.
Politikwissenschafter empfehlen ab einer Grösse
von 10 000 Einwohnern einenParlamentsbetrieb.
Dieser hat deutlich weniger Unterhaltungswert als
eine Gemeindeversammlung, ist aber die vernünfti-
gere Organisationsform. EinParlament ist transpa-
renter, weil nicht mehr nur der Gemeindepräsident

und derVerwaltungschef fundiert informiert sind.
Er ist demokratischer, weil sich verschiedene Be-
völkerungsgruppen, die in einem Ort leben, abbil-
den lassen. Die Ortspolitik sollte weitsichtiger wer-
den, weilkeine Interessengruppen die Gemeinde-
versammlung entern undAd-hoc-Entscheide er-
wirkenkönnen –Fussballvereine etwa, die für das
neue Klubhaus sämtliche stimmberechtigten Aktiv-
undPassivmitglieder mobilisieren.
Zwar sind dieKosten einesParlamentsbetriebs
höher, aber das solltekein Argumentsein. Einer-
seits wirkt ein gut funktionierendesParlament be-
züglichAusgaben alsKorrektiv. Andererseits soll-
ten einem angemessene demokratische Strukturen
etwas wert sein.
Auch wenn dieVernunft den Übergang zum
Parlament nahelegt, ist es gut,dass die Gemeinden
im Kanton Zürich völligeFreiheit in derFrage der
Organisationsform geniessen – anders als dies bei-
spielsweise im Kanton Genf derFall ist. Ein Urnen-
gang ist der richtige Gradmesser, um zu ergründen,
wie gross die Mehrheit ist, die an der Gemeindever-
sammlung zwangsläufig schweigt, weil sie nicht zu-
gegen ist. Ein Minimum an Interesse und Engage-
ment muss vorhanden sein, man kann sie nicht er-
zwingen. Es gilt der Aphorismus:Wer nicht ent-
scheidet, für den wird entschieden.

Bei 3000 Stimmberechtigten


mag es akzeptabel sein,


wenn 200 Leute entscheiden –


bei 20 000 Einwohnern


ist das nicht mehr der Fall.


MICHAEL
VONLEDEBUR
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