Neue Zürcher Zeitung - 09.10.2019

(Brent) #1

Mittwoch, 9. Oktober 2019 FINANZEN 29


TAGESGESPRÄCH


Jäher Absturz


von Autoneum


Die Ära Hirzel schliesst im Minus


gvm.· So haben es sich die beiden
Schweizer UnternehmerPeter Spuhler
und Michael Pieper nicht vorgestellt, als
sie vorJahrenAutoneum-Anteile ge-
kauft haben. Der Hersteller von Unter-
böden, Hitzeschilder und Akustikkom-
ponenten fristete währendJahren ein
Sch attendasein innerhalb desWinter-
thurerTextilmaschinenkonzerns Rieter.
Die beiden Unternehmer waren die trei-
bende Kraft hinter der Abtrennung von
Rieter und der Entlassung dieser Sparte
in die Eigenständigkeit.Als es imFrüh-
jahr 2011 endlich so weit war, verpflich-
teten sie sich,alsAnkeraktionäre Schüt-
zenhilfe zu leisten. Pieper hält eine Be-
teiligung von 21%, Spuhler17%.
In derFolge verbesserte sich das
Unternehmenkontinuierlich, der grös-
serestrategischeFreiraum beflügeltees.
Entsprechend steil bergauf ging es mit
dem Aktienkurs. Am ersten Handels-
tag (13. Mai 2011) brachten dieAuto-
neum-AktienFr.110.50 auf dieWaage.
Bis Januar 2018 hatte sich der Unter-
nehmenswert fast verdreifacht. Ein noch
grösseresAusmass hat indes derAbsturz
seither:Allein am Dienstag verloren die
Valoren vorübergehend nochmals14%,
nachdem sie zuvor schon unter den Ein-
standspreis gefallen waren. DiesePer-
formance muss vor allem imVergleich
mit dem Gesamtmarkt gesehen werden:
Der Wert desSwiss-Performance-Index
(SPI) hat sich im gleichen Zeitraum fast
verdoppelt.
Das Gesicht hinterAutoneum war
Martin Hirzel. Dem damals 41-jährigen
Manager wurde 2011 die Leitung des
separierten Unternehmens übertragen.
Er und seinTeam setzten sich ambitiöse
Ziele, an denen es sich offen und selbst-
kritisch messen liess. Unter den Inves-
toren schaffte dieseTransp arenzVer-
trauen. Und dieerzieltenRentabilitäts-
fortschritte wurden an der Börse mit sat-
ten Kursavancen belohnt.
Am Dienstag nun musste das Unter-
nehmen ein weiteres Mal die Progno-
sen nach unten anpassen.Aus der vom
Management für die zweite Jahres-
hälfte versprochenenVerbesserung wird
nichts. Neue Prognosen werden nicht ge-
nannt. Die Analytikerrechneten bisher
mit einem stagnierenden Umsatz sowie
einem Nullergebnis, nachdem das Netto-
ergebnis schon in der erstenJahreshälfte
knapp in denroten Bereich ge fallen war.
Die heftige Marktreaktion am Diens-
tag deutet darauf, dass es mit demWech-
sel an derFührungsspitze allein – der
frühere Europa-Chef MatthiasHolz-
ammer übernimmt von Martin Hirzel –
nicht getan ist. Zuerst muss das Nord-
amerikageschäft, das fast di e Hälfte
des Umsatzes beisteuert, genesen. Die
Hoffnung desVerwaltungsrats ist, dass
dies dem neuen Chef, der schon die Ge-
schäftseinheit Europarestrukturiert hat,
ein zweites Mal gelingen wird.

Die Notenbanken am Gängelband


der Wall-Street-Häuser


Bei steigenden Wertpapierpreisen können Banken ihre Produkt e besser verkaufen als in einer Rezession


MICHAEL RASCH, FRANKFURT


Anlegerkönnen weiterhin auf die Euro-
päische Zentralbank (EZB) vertrauen.
Die Geldpolitik der EZB für den Euro-
Raum ist zu expansiv. Diese Meinung
vertreten nicht nur zahlreiche Ökono-
men, sondern inzwischen auch fast die
Hälfte der Mitglieder des EZB-Rates,
des geldpolitischenFührungsgremiums
der Notenbank.Rund 10 der 25 Ratsmit-
glieder sollen bei der vergangenen Sit-
zung Mitte September zwar einewei-
tere Senkung des Einlagensatzes um
10 Basispunkte auf –0,5% mitgetra-
gen haben, doch sie sprachen sich mehr
oder weniger stark gegen dieWiederauf-
nahme von Staatsanleihekäufen aus. Der
Euro-Raum erlebe eine Konjunktur-
verlangsamung, von einerWirtschafts-
krisekönne aber nochkeine Rede sein,
lau tete derTenor. Mit derTendenz zu
einer (zu) lockeren Geldpolitik, welche
die Preise vonVermögenswerten ten-
denziell in die Höhe treibt, war und ist
die EZB nicht alleine.Das Phänomen
ist seit gut 25Jahren auch aus denVer-
einigten Staaten von Amerika bekannt.


AsymmetrischeEZB-Reaktion


Geldpolitik ist allerdings im Gegensatz
zur Physikkeine exakteWissenschaft,
weshalb man stets über ihreAngemes-
senheit streiten kann. Ein Indiz dafür,
ob das monetäreUmfeldzu locker oder
zu restriktiv ist, bietet die sogenannte
Taylor-Regel. Sie geht auf den amerika-
nischen ÖkonomenJohn B. Taylor zu-
rück.DieRegel gibt meist guteAnhalts-
punkte dafür,wo der Leitzins hätte lie-
gen sollen,wenn die weitgehenderfolg-
reiche Geldpolitik zwischen Mitte der
1980er und der1990er Jahrefortgesetzt
worden wäre. Für die USAkommt man
gemessen an derTaylor Rule zum Er-
gebnis, dass die Geldpolitik1993/94 und
1998/99 leicht zu expansiv und dann vor
allem von 2001 bis 2006 viel zu expan-
siv war, nämlich phasenweiseum satte
drei Prozentpunkte. Dies führte jeweils
zu einer Hausse am Aktien- und Immo-
bilienmarkt.
Taylor selbst schreibt in einer Stu-
die aus demJahr 2009, dass die lockere
Geldpolitik in den USA den Boom am
Immobilienmarkt verursacht und für
die kreditfinanzierten Kaufexzessen der
Bürger mitverantwortlich war.Andere
Forscher kamen zu ähnlichen Ergebnis-
sen.Als die Immobilienblase, zu der die
US-NotenbankFed also ihrenTeil bei-
getragen hatte, platzte,hatte dies schwer-
wiegendeFolgen für dieWeltwirtschaft.


Bereits nach dem Platzen der New-Eco-
nomy-Blase amAktienmarkt hatten Be-
obachter derFed eine Mitschul d an dem
vorausgegangenen enormen Boom der
Technologiewerte gegeben.
Auch für die letzten mindestens fünf
Jahre zeigt dieTaylor-Regel einen zu
niedrigen Leitzins in den USAan. Das
gleichegilt für die Euro-Zone, wo die
Geldpolitik gemessen an derRegel min-
destens seit 2015 (teilweise) erheblich zu
expansiv ist.Die Regel ist aufgrun d ihrer
Einfachheit beliebt, allerdings umfasst
sie zahlreicheVariablen.Das machtsie
zwar flexibel,doch es besteht das Risiko,
dass dieVariablen nach eigenem Gusto
gewählt werden und man so dieResul-
tate bekommt, die man sich wünscht.
Zudemkönnen Abweichungen sinnvoll
sein –etwa, wenn Informationen vorlie-
gen, die nicht in dieRegel einfliessen.
Doch es gibt noch andere plausible
Gründe, warum die Geldpolitik oft ten-
denziell zu locker ist, gerade in Zeiten
einer mässigen Inflation. In Krisen sen-
ken die Zentralbanken schnellund in
grossen Schritten die Leitzinsen,um den

Abschwung zu mildern und dieKon-
junktur anzukurbeln.In diesen Phasen
ist die Geldpolitik gemessen an derTay-
lor-Regel oft sogar nicht locker genug,
da die Notenbanken zumindest in frü-
heren Zeiten davor zurückgeschreckt
waren, die Zinsen in den negativen Be-
reich zu drücken. In Phasen derKon-
junkturerholung und desAufschwungs
erhöhen die Notenbanken dann den
Leitzins häufig zu langsam, weil sie s tets
fürchten,die Erholung mit zu hohen
Zinsen abzuwürgen. Hinzu kommt
der Druck derPolitiker, die lieber das
Risiko eines Heisslaufens derKonjunk-
tur eingehen, als zu früh eine Stabilisie-
rung oder gar einen Abschwung herbei-
zuführen. Ein Boom derWirtschaft sug-
geriert denWählern schliesslich ein er-
folgreichesWirken derRegierung.
Ein weiterer wichtiger Einfluss-
faktor ist das Zusammenspiel von Zen-
tralbanken und derWall Street sowie
grossen institutionellen Anlegern. Die
führenden Investmentbanken lieben
eine expansive Geldpolitik. DieForde-
rungen werden von der einschlägigen
angelsächsischenFinanzpresse im Sinn
der eigenen Leser meist beredt unter-
stützt. Niedrige und zu niedrige Zinsen
stimulieren dieKonjunktur und Sor-
gen in derTendenz dafür, dass dieWirt-
schaft gut läuft. EinAufschwung oder
gar ein Boom führen zu steigenden
Wertpapierpreisen,das gilt vor allem für
den Aktien- und denImmobil ienma rkt,
aber auch für zahlreiche alternativeAn-
lagen. Bei steigenden Preisen vonWert-
papierenkönnen dieBanken wiederum
ihreFinanzprodukte viel besser ver-
kaufen als in einerRezession oder so-
gar in einer Krise. Und steigende Pro-
duktverkäufe sind natürlich gut für die
Geschäfte derBanken insgesamt sowie
für die Boni der einzelnen Mitarbeiter


  • hie rschliesst sich der Kreis.Der glei-
    che Mechanismus gilt im Prinzip für alle
    grösserenBanken.
    Davon profitieren natürlich auchAn-
    leger allgemein, sowohl institutionelle
    Investorenals auch Privatanleger.Eine
    expansive Zentralbank ist oft ihr bester
    Freund.An denFinanzmärkten heisst


es nicht umsonst «don’t fight theFed» –
Anleger sollen sich also am herrschen-
den geldpolitischenTrend orientieren
und diesem entweder mitKäufen (sin-
kende Zinsen) oder Kaufzurückhaltung
(steigende Zinsen) folgen.
Der Einfluss der Investmentbanken
ist stets vorhanden. Zentralbanker und
Wall-Street-Vertreter bzw. Bankökono-
men sind im ständigenAustausch. Sie
kennen sich persönlich, treffen sich auf
Konferenzen und lesen gegenseitig die
Berichte und Analysen. Insofern sind
Notenbanker dauernd dem Drängen der
Wall Street ausgesetzt, die Zinsen nied-
rig zu halten. Erst in denletztenJahren
hat sich diese Allianz in Europa gelöst.
Die Einführung von negativen Zinsen
kostet die oft ohnehin nicht sehr profita-
blen Banken im Euro-Raum jedesJahr
zusätzlich enorme Summen. Dies führte
dazu, dass es inzwischen teilweise gehar-
nischteÄusserungen vonBankökono-
men gegenüber der Geldpolitik der
EZB gibt.

Anlegerkönnen sich freuen


Wie über den Geschmack, so kann man
über die richtige Geldpolitik trefflich
streiten.Die meisten Notenbanker dürf-
ten den Vorwurf zurückweisen, dass sie
zu einer zu lockeren Geldpolitik neig-
ten. Doch gerade die EZB hat in den
letztenJahren gezeigt, dass sie nicht
symmetrisch handelt. Sie hat diePeri-
ode,in welcher der Euro-Raum als Gan-
zes deutlich überPotenzial gewachsen
ist, nicht genutzt, um eine Zinswende
einzuleiten.Mit Mühe haben es die Zen-
tralbanker geschafft, das frühereWert-
papierkaufprogramm zu beenden. Eine
Zinswende wurde nie in Angriff ge-
nommen.Dagegenreichten die ersten
Schwächezeichen derKonjunktur sowie
ein Einbruch in der Industrie nun dazu
aus, dass die EZB sofort ein neues gros-
ses Massnahmenpaket inklusive neuer
Anleihekäufe schnürt. Die Geldpolitik
dürfte auch in den nächsten Quartalen
zu locker bleiben–Anleger sollten sich
entsprechend darauf einstellen und sich
darüber freuen.

Unter Zentral- und Grossbankern kennt man sich, dieWege sind kurz–das kann die Einflussnahmebegünstigen. M. NAGLE / BLOOMBERG


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