Süddeutsche Zeitung - 02.10.2019

(avery) #1

FEIERTAGSAUSGABE


WWW.SÜDDEUTSCHE.DE HMG MÜNCHEN, MITTWOCH/DONNERSTAG, 2./3. OKTOBER 2019 75. JAHRGANG /40. WOCHE / NR. 228 / 3,30 EURO


STRAHLENDE


TÖNE


Die Opernwelt
trauert um
die Ausnahme-
Sopranistin
Jessye Norman

Feuilleton
Seite 13

Tropische Wirbelstürme sind anspruchs-
volleGäste. Zur stärksten Kategorie 5 lau-
fen sie über den Atlantik fast nur in der
Karibik oder über dem Golf von Mexiko
auf. Das entscheidende Kriterium bei der
Ortswahl sind für Hurrikane allerdings
nicht Palmen und weiße Sandstrände,
sondern Wassertemperaturen: Erst wenn
das Wasser mehr als 26 Grad Celsius
warm ist, ist die Verdunstung stark ge-
nug, um überhaupt einen Hurrikan ent-
stehen zu lassen. Wenn das Wasser noch
wärmer ist, steigt das Potenzial für einen
besonders starken Sturm.
Das ist es, was HurrikanLorenzonun
so speziell macht: Statt in der Nähe von
Puerto Rico oder Kuba bildete er sich weit
draußen über dem Atlantik, wo das Was-
ser derzeit rund ein Grad wärmer ist als
sonst üblich. Als er sich in der Nacht auf
Sonntag zu einem Kategorie-5-Hurrikan
mit dauerhaften Windgeschwindigkeiten
von mehr als 260 Kilometern pro Stunde
entwickelte, befand er sich mitten über
dem Nirgendwo zwischen Mittelamerika

und Westafrika. Das ist rund tausend Kilo-
meter weiter östlich, als je zuvor ein Hurri-
kan dieser Stärke aufgetaucht ist, und
obendrein recht weit nördlich.
Das ist beruhigend für die Bewohner
etwa der Bahamas, wo ein weiterer extre-
mer Hurrikan nach dem zerstörerischen
DorianAnfang September ein Albtraum
wäre. Über dem offenen Meer richtetLo-
renzowenig Schaden an. Allerdings steu-
erte der Sturm am Dienstag auf die portu-
giesischen Azoren zu, die er wohl am Mitt-
woch erreichen wird. Inzwischen ist es
zwar nur noch ein Kategorie-2-Hurrikan,
aber er bleibt für seinen Aufenthaltsort

sehr ungewöhnlich. Zuletzt wurden die
Azoren 1926 von einem vergleichbaren
Wirbelsturm getroffen.
Bedrohlich sind laut dem Deutschen
Wetterdienst vor allem die Wellen: Wegen
seiner enormen Größe mit Winden in Hur-
rikanstärke, die sich über 800 Kilometer
erstrecken, kannLorenzobis zu 15 Meter
hohe Wellen aufpeitschen. Einzelne Böen
können noch immer bis zu 180 Kilometer
pro Stunde erreichen. Wenn er die Azoren
hinter sich lässt, sollte aber das Schlimms-
te vorbei sein. Voraussichtlich ziehtLoren-
zoweiter Richtung Irland, dann aber nur
noch als Sturmtief.

Die meisten Hurrikane verlieren über
dem kalten Atlantik an Kraft und kom-
men in Europa nur noch als Tiefdruckge-
biet an. Trotzdem passiert es immer wie-
der, dass Tropenzyklone Europa errei-
chen, etwaDebbie1961 Irland oderVince
2005 Portugal. Und durch den Klimawan-
del kann sich das Entstehungsgebiet von
Hurrikanen nach Nordosten ausdehnen,
wieLorenzonun eindrucksvoll belegt.
Forscher um Reindert Haarsma vom
Königlichen Meteorologischen Institut
der Niederlande sagten 2013 voraus, dass
Hurrikane in Westeuropa häufiger wer-
den könnten. Zumal sich auch das Wasser
auf der Strecke erwärmt: „Wenn der Atlan-
tik weniger kalt ist, halten die Stürme auf
dem Weg nach Osten länger durch. Dar-
um steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie
Europa erreichen“, sagt auch Anders Le-
vermann vom Potsdam-Institut für Kli-
mafolgenforschung. „Daher ist es nicht
unmöglich, dass wir in Europa in Zukunft
auch eine Art ‚Hurrikan-Saison‘ bekom-
men werden.“ marlene weiss

Wirbelsturm auf Abwegen


Vom Atlantik aus fegt ein Hurrikan Richtung Europa.
Das ist aus mehreren Gründen ungewöhnlich
Im Süden und in der Mitte ziehen dichte
Wolken auf, die Schauer oder Gewitter
bringen. Zum Abend hin lässt der Regen
allmählich nach. Sonst ist es wechselnd
bewölkt mit gelegentlichen Schauern.
13 bis 20 Grad.  Seite 31 und Bayern

von peter münch

Wien– Für seinen womöglich letzten gro-
ßen Auftritt hat sich Heinz-Christian Stra-
che ein schickes Weinlokal ausgesucht,
gleich ums Eck von der FPÖ-Zentrale in
der Wiener Innenstadt. Ledersitze, volle
Flaschen an den Wänden, drangvolle En-
ge in einer Gaststube voller Kameras: In
diesem Ambiente verkündet der frühere
Vorsitzende der Freiheitlichen Partei Ös-
terreichs am Dienstagmorgen, dass er
„schweren Herzens“ seine Mitgliedschaft
in der Partei „ruhend stellen“ werde. „Mit
dem heutigen Tag werde ich auch jegliche
politische Aktivität einstellen und kein
Amt und keine Funktion mehr anstre-
ben“, erklärt er. Es ist das Ende einer Ära –
und womöglich der Beginn neuer Turbu-
lenzen und eines Richtungsstreits in der
FPÖ.
Mit seinem kurzfristig anberaumten
Auftritt im „Vino Wien“ hat Strache die
Reißleine gezogen, wenige Stunden bevor
in der österreichischen Hauptstadt der
Parteivorstand der FPÖ zusammenkam.
Parteichef Norbert Hofer hat dann am
Abend, der Form halber und um selbst ein
Zeichen zu setzen, Straches Mitglied-
schaft noch einmal offiziell suspendiert.
Seit der Nationalratswahl am Sonntag, die
den Freiheitlichen einen Absturz um zehn
Prozentpunkte auf nur noch 16,1 Prozent
bescherte, hatte sich das Rumoren gegen
den alten Chef gerichtet. Selbst auf seiner
Facebook-Seite hatte sich ein Shitstorm
über Strache entladen.
Es ist also ein Ausstieg in auswegloser
Lage. Nach dem Ibiza-Skandal, der Stra-
che alle Ämter kostete, gewährte ihm die
Partei noch viereinhalb Monate Deckung.
Doch der Dank dafür, dass er in 14 Jahren
an der Spitze die FPÖ wieder groß ge-
macht und bis in die Regierung geführt

hatte, war spätestens dann aufgebraucht,
als öffentlich bekannt wurde, dass er mut-
maßlich auf Parteispesen ein prunkvolles
Leben als freiheitlicher Großwesir geführt
hat. Daraus lässt sich keine Verschwö-
rungstheorie mehr stricken, das ist der Ba-
sis nicht mehr zu vermitteln, und so ist
Strache zur untragbaren Belastung für die
Partei geworden.
Befreit von dieser Last ist in der FPÖ
nun überall die Parole vom Neuanfang zu
hören. Doch der birgt noch zahlreiche Risi-
ken. Eines davon hat unmittelbar vor Stra-
ches Auftritt die Gemüter bewegt, als die
Registrierung einer Internetadresse na-
mens „liste-strache.at“ bekannt und dies
als Indiz für mögliche Comebackpläne ge-
deutet wurde. Wer dahintersteckt, blieb

jedoch unbekannt, und Strache scheint
seinen Nachfolgern zumindest fürs Erste
die Wiederbelebung eines alten Traumas
zu ersparen. „Eine Zerreißprobe und eine
Spaltung der FPÖ will ich um jeden Preis
verhindern“, sagt er und bekennt sich
gleich mehrfach zur „freiheitlichen Fami-
lie“. Im Klartext heißt das: Den Haider
macht er jetzt nicht. Sein Vorgänger Jörg
Haider nämlich hatte die FPÖ 2005 mit
der Gründung einer eigenen Partei na-
mens Bündnis Zukunft Österreich (BZÖ)
in zwei Teile zerlegt.
Für die FPÖ wiederholt sich dennoch
die Geschichte, dass genau jene Männer,
die sie in schwindelnde Höhen führen,
höchstselbst für den Absturz sorgen. FPÖ-
Strategen wie Andreas Mölzer fordern des-

halb nun grundlegende Veränderungen:
„Weniger Personenkult, weniger Populis-
mus, mehr sachliche Politik“, sagte Möl-
zer derSüddeutschen Zeitung.
Mölzer, 66, hat kein Amt mehr inne,
wird aber vom neuen Parteichef Hofer als
„Vordenker“ gelobt. Hofer selbst fordert
schlagwortartig „moderne Freiheitliche
4.0“. Auf dem Parteitag in Graz, bei dem er
jüngst mit 98,25 ins Amt gewählt wurde,
hat er erkennen lassen, dass er die FPÖ für
neue Wählerschichten öffnen will – kon-
kret fürs bürgerliche, urbane und studen-
tische Milieu. In die gleiche Richtung
strebt Manfred Haimbuchner, der seit
2011 stellvertretender FPÖ-Bundesvorsit-
zender ist und in Oberösterreich als Lan-
deshauptmann-Stellvertreter, also Vize-
regierungschef amtiert. Nach Straches
Rücktritt, so sagte er der SZ, sei „der Weg
frei für eine Entwicklung zu einer weniger
schrillen und seriösen Rechtspartei“.
Weniger schrill? Weniger Populismus?
Einem kernigen Freiheitlichen wie Her-
bert Kickl, der nun als Fraktionschef nomi-
niert wurde, dürfte das fast als Kapitulati-
on erscheinen. Im Wahlkampf hatte er
noch jedes Festzelt zum Johlen gebracht,
wenn er den politischen Gegnern einen
„rechten Haken“ oder einen „Schlag aufs
Hosentürl“ androhte. Flüchtlinge diffa-
miert er gern pauschal als „Asylbetrüger“,
und seinen Auftrag sieht er ganz grund-
sätzlich im Aufräumen. Wer Kickl hört,
der weiß, dass der Populismus gleichsam
zur DNA der FPÖ gehört.
Der Kurs der Partei dürfte also nach
Straches Ende noch heftige Debatten ver-
ursachen. Der mit 50 Jahren abgetretene
und zugleich abservierte Patriarch wird
das vom Seitenaus verfolgen. Zum Ab-
schluss wünscht er allerseits noch einen
schönen Tag. „Man wird sich vielleicht pri-
vat irgendwo wiedersehen.“  Seite 4

London– Der FC Bayern München hat
sein zweites Gruppenspiel in der Champi-
ons League bei Tottenham Hotspurs mit
7:2 gewonnen. Die Tore für Tottenham er-
zielten Son und Kane, für die Bayern tra-
fen Kimmich, zweimal Lewandowski und
viermal Gnabry. sz  Sport

Süddeutsche ZeitungGmbH,
Hultschiner Straße 8,81677 München; Telefon 089/2183-0,
Telefax -9777; [email protected]
Anzeigen:Telefon 089/2183-1010 (Immobilien- und
Mietmarkt), 089/2183-1020 (Motormarkt),
089/2183-1030 (Stellenmarkt, weitere Märkte).
Abo-Service:Telefon 089/21 83-80 80, http://www.sz.de/abo
A, B, F, GR, I, L, NL, P, SLO: € 3,90;
ES (Kanaren): € 4,00; dkr. 31; £ 3,50; kn 34; SFr. 5,

Xetra Schluss
12264 Punkte

N.Y. Schluss
26573 Punkte

22 Uhr
1,0930 US-$

TV-/Radioprogramm, Medien 32–
Forum & Leserbriefe 31
Kino · Theater im Lokalteil
Rätsel & Schach 40
Traueranzeigen 30


Die SZ gibt es als App für
Tablet undSmartphone:
sz.de/zeitungsapp

20 °/2°


Hongkong– Gleichzeitig mit den Feier-
lichkeiten zum 70. Gründungstag der
Volksrepublik China ist es in Hongkong
erneut zu schweren Ausschreitungen ge-
kommen. Im Anschluss an zunächst fried-
liche Proteste der Demokratiebewegung,
an denen mehr als 100 000 Menschen teil-
nahmen, lieferten sich am Dienstag an
mehreren Orten Demonstranten Ausein-
andersetzungen mit der Polizei. Erstmals
wurde ein Demonstrant mit scharfer Mu-
nition von einem Polizisten angeschos-
sen. dpa, kna  Seiten 4 und 10

Der Kultur- und Freizeit-Service
mit Tipps vom 3. bis 9. Oktober

Er strebe keine politischen Funktionen mehr an, sagte der frühere FPÖ-Chef
Heinz-Christian Strache am Dienstag in Wien. FOTO: HANS PUNZ / DPA

FC Bayern gewinnt


7:2 bei Tottenham


 Thema des Tages, Medien


Dax▼



  • 1,32%


Dow▼



  • 1,28%


Euro▲


+ 0,

DAS WETTER



TAGS

NACHTS

Eskalation


in Hongkong


Erstmals wird ein Demonstrant
von der Polizei angeschossen

ES WIRD ENG


Immer öfter
werden wichtige
Medikamente
knapp.
Versehen oder
Geschäftstrick?

Wirtschaft
Seite 19

SZEXTRA
Aus schwindelnder Höhe

Heinz-ChristianStrache hat die FPÖ wieder groß gemacht. Nach dem Ibiza-Skandal will


er sich nun komplett aus der Politik zurückziehen. Ist sein Ende der Neuanfang für die Partei?


FOTO: THOMAS MAYFRIED/VISUM; SHUTTERSTOCK; LAIF

In der

Ostkurve

Zum Tag der Deutschen Einheit


verfallen die einen in DDR-Nostalgie,


die anderen sehen sich als


Gewinner der Wiedervereinigung.


Wie die Balance gelingen kann


Liebe Leserinnen, liebe Leser,
am Donnerstag, 3.Oktober, erscheint dieSüd-
deutsche Zeitungaufgrund des Feiertages nicht.
In einigen Gebieten unseres Botenzustellnetzes
erscheinen Regionalzeitungen am Freitag nicht,
dort wird Ihnen die SZ per Post zugestellt.

(SZ) Im Grunde bewegt sich der Mensch
zwischen zwei Seinsformen, offline und
online. Natürlich bewegt sich der Mensch
auch, wenn er in den Supermarkt geht,
eine Kneipe betritt und dort unzufrieden
am Tresen sitzt oder glücklich vom Stuhl
fällt. Die Bewegung aber, die so ein
2019-Dasein am meisten umspannt, ist
der Wechsel zwischen null G und 5G. Man
kann sich das so vorstellen (oder „Aufwa-
chen“/„Handy“ googeln): Analog und
friedlich liegt man im Bett und schläft,
als der Online-Tag mit 23 Whatsapp-
Nachrichten und 15 Trump-Eilmeldun-
gen hereinbricht, was den Menschen aus
Gewohnheit dazu veranlasst, zwanghaft
die Wetterapp zu checken und die Mails
der Nacht zu löschen. Dieser heillos pro-
duktive Zustand des Klickens und Scrol-
lens wird immer wieder kurz unterbro-
chen, auf dem Fahrrad, beim Duschen,
vielleicht im Gespräch. Doch am Ende ist
das Online auch im Offline immer da, un-
tergründig, summend, brummend. Es sei
denn, man schläft. Oder zieht nach Kö-
nigs Wusterhausen.
Man kann natürlich auch nach Wurz-
bach in Thüringen oder Brilon im Sauer-
land gehen. Oasen der Ruhe und der digi-
talen Apathie, wie es nur noch wenige
gibt in dieser hochtechnologisierten
Welt. Brilon hat zwar 25 000 Einwohner
und eines der ältesten Rathäuser, doch
an vielen Orten kaum Netz, sieht man von
einigen Fensterbänken ab, wo das Emp-
fangen von SMS bereits gelungen sein
soll. Wieso nach Kalifornien fliegen und
Tausende Dollar in ein Digital-Detox-Re-
treat investieren, um sich von einem Gu-
ru das Handy wegnehmen zu lassen und
nachts ausgebrannten Silicon-Valley-Ab-
trünnigen dabei zuzuhören, wie sie „Won-
derwall“ singen, wenn es zu Hause mehr
Funk- als Schlaglöcher gibt? Jedoch könn-
te es mit dem Segen der Unerreichbarkeit
bald vorbei sein. Bundesverkehrsminis-
ter Andreas Scheuer (CSU) kündigte in
dieser Woche an, das größte Funkloch
Deutschlands schließen zu wollen,
780 000 Haushalte sollen einen besseren
Empfang bekommen. „Jeder muss im-
mer und überall telefonieren und surfen
können“, sagte Scheuer. In Markt Win-
dorf überreichte er symbolisch einen
Breitband-Förderbescheid.
Muss man denn immer und überall
funktionieren wie ein Server? Scheuer,
der den Innenstädten auch den E-Roller
beschert hat, scheint nicht die Weitsicht
jenes Pfarrers aus Neapel zu haben, der ei-
nen Störsender in seiner Kirche installier-
te, um in Ruhe die Messe abzuhalten.
Auch scheint er nicht von der weltweit er-
probten Methode der Telefonat- und Kon-
taktverweigerung gehört zu haben, die
immer funktioniert, in der New Yorker
U-Bahn und in Markt Windorf: „Wie bit-
te? Ich ... ich kann Sie nicht hören, sagte
ich. Die Netzabdeckung ist sehr ...
schlecht, genau. Jetzt, ja jetzt! Jetzt sind
Sie wieder weg. Ich bin im Funklo ...“ Oder
anders gesagt: Ich bin endlich offline.


4 190655 803302

33040
Free download pdf