Süddeutsche Zeitung - 02.10.2019

(avery) #1

Wer glaubt, die Bayern seien ihrem inner-
sten Wesen nach ein archaisches Berg-
volk, für den ist die Ochsenbraterei auf
dem Oktoberfest ein gefundenes Fres-
sen. Denkt man beim Anblick des Rind-
viehgerippes am Drehspieß nicht sofort
an das kleine gallische Dorf, an Asterix
und Obelix und die Gelage mit gebrate-
nen Wildschweinen? Doch, tut man! Und
dann schreiben diese Bayern auch noch
den Namen und das Gewicht des jeweils
zum Verzehr anstehenden Tieres mit
Kreide auf eine Tafel.
Quirin war jedenfalls bereits der 79.
Ochse, der am elften Tag des großen Gela-
ges auf die Teller kam. Behauptet jeden-
falls die Tafel. In Wirklichkeit werden die
meisten Ochsen nicht am Drehspieß im
600 Grad heißen Gasgrill gebraten, son-
dern hinter dieser offenen Bühne bereits
zerlegt in eigenen Öfen. Sonst käme man
niemals auf bis zu 120 Tiere während ei-
nes Oktoberfests. Schließlich braucht so
ein Tier am Spieß bis zu acht Stunden.
Und auch die Namen sind nicht echt. Die
meisten dürfen sich die 25 Fleischmetz-
ger im Zelt selbst ausdenken.
Vegetarier mögen nun die Nase rümp-
fen und von barbarischer Fleischfresse-
rei-Verherrlichung reden. Tatsächlich
kommen die Tiere vom Münchner städti-
schen Gut Karlshof, das für seine beson-
ders artgerechte Haltung bekannt ist. Die
Tiere leben hier beinahe unter den Bedin-
gungen eines Biohofs, dort strebt man
die Biozertifizierung für die Ochsen an
und erweitert Ställe und baut Futter sel-
ber an. Die meisten der anderen Speisen
im Zelt haben sowieso Bioqualität, auch
der von Münchnern viel gelobte Kartoffel-
salat zum Ochsen: Die Kartoffeln baut ein
Biobauer bei Ingolstadt extra für die Och-
senbraterei an. Klingt eher nachhaltig als
barbarisch. franz kotteder


Am Donnerstag vor einer Woche hat ein
Erdbebender Stärke 5,7 Istanbul erschüt-
tert, es gab etwa drei Dutzend Verletzte,
keine Toten, die Gebäudeschäden hielten
sich in Grenzen. Ein Minarett knickte ab,
vier Schulen blieben aus Sicherheitsgrün-
den gesperrt. Das war das stärkste Beben,
das in Istanbul seit 20 Jahren zu spüren
war, es hat die 15 Millionen Menschen in
der Megastadt unsanft daran erinnert,
dass eine der gefährlichsten Bruchzonen
der Erde direkt vor ihrer Haustür liegt, un-
ter dem Marmarameer. Seismologen sa-
gen schon lange, eine schwere Erschütte-
rung sei quasi unausweichlich. Nur kann
niemand angeben, wann sie passiert.
Das gilt zwar immer noch, aber was der
Direktor der Istanbuler Erdbebenwarte
Kandilli, Professor Haluk Özener, nach
dem jüngsten Beben – und einem schwä-
cheren der Stärke 4,7 zwei Tage zuvor – zu
sagen hatte, klang nicht gerade beruhi-
gend: „Wir wissen nicht, wann es passiert,
aber leider kann ich sagen, wir nähern uns
dem Endpunkt rasch.“ Özener sagte auch:
„Jeder sollte seinen Teil tun. Wir müssen
die Möglichkeit eines Erdbebens immer
in einer Ecke unseres Kopfes haben.“

Seitdem ist die Zahl der abgeschlossen
Erdbebenversicherungen in Istanbul um
100 Prozent in die Höhe geschossen. Und
viele Istanbuler studieren die geologi-
schen Karten, die es im Internet gibt, weil
das Risiko innerhalb der Riesenstadt un-
gleich verteilt ist. Richtung Schwarzes
Meer im Norden gilt als sicherer als das Ge-
biet bei Silivri im Westen, wo nicht nur das

größte Gefängnis der Türkei steht, son-
dern auch die Bruchzone am nächsten am
Ufer liegt. Wo ist Fels im Untergrund? Das
ist gut. Wo Schwemmland? Das ist
schlecht. Das Umfrageinstitut Areda Sur-
vey hat 1603 Leute in Istanbul befragt, ob
sie ihre Wohnung noch für sicher halten.
Sieben von zehn tun das nicht.
Türken lieben Umfragen. Sie verrieten
auch, an wen oder was sie zuerst bei dem
Beben dachten: Bei 55 Prozent waren es
die Kinder, nur knapp vier Prozent sorg-
ten sich zuallererst ums eigene Haus. Je-
der Zweite war sauer auf die Handynetzan-

bieter, weil deren Dienste nach dem Erd-
stoß für Stunden ausfielen, als alle telefo-
nieren wollten. Inzwischen hat Präsident
Recep Tayyip Erdoğan die GSM-Anbieter
aufgerufen, ihre Netze zu verstärken.
Über 300 Nachbeben gab es bisher, das
stärkste mit 4,1, und das politische Nach-
beben ist auf der Richterskala gar nicht
messbar. „Zehntausend“ Notsammelplät-
ze gebe es in der Stadt, sagte Erdoğan. Da
waren wohl die Schulhöfe mitgerechnet.
Die Stadtverwaltung, nun von dem Oppo-
sitionspolitiker Ekrem Imamoğlu ange-
führt, hält dagegen: Es sind viel weniger.

Denn echte Sammelstellen müssten mit
dem Nötigsten zur Erstversorgung ausge-
rüstet sein. 1999 waren das in Istanbul
noch 470, heute nur 77, auch weil so viele
Einkaufszentren gebaut wurden, sagt die
Stadt. Abhilfe sei sofort nötig. Der staatli-
che Katastrophenschutz führt auch 2864
Parks oder ähnliche Freiflächen auf. Der
Oppositionsabgeordnete Gürsel Tekin
wiederum fragt, was mit dem Geld aus der
vor 20 Jahren eingeführten Erdbebensteu-
er geschehen sei? Sie wird mit den Handy-
rechnungen bezahlt. Tekin glaubt, die Ein-
nahmen wurden für den Autobahnbau
und neue Expressbahnen verwendet.
Emin Şirin war Abgeordneter von
Erdoğans AKP, ist aber ausgetreten, er
sagt: „Einige öffentliche Gebäude wurden
verstärkt, Brücken, Schulen und Kranken-
häuser. Aber was ist mit dem Rest der
Stadt? Mit den historischen Gebäuden,
der Hagia Sophia?“ Wer könnte sie wieder
aufbauen? Şirin hatte schon 2002 um Hil-
fe der Unesco zum Gebäudeschutz gebe-
ten. Da war er noch im Parlament und die
Erinnerung an das verheerende Beben
von 1999 in der Nähe Istanbuls frisch. Das
hatte eine Stärke von 7,6. Es gab mehr als
17 000 Tote. Der 70-Jährige schimpft auf
den „nahöstlichen Fatalismus“.
„Die Energie sammelt sich an und will
heraus“, sagt der Chef der Erdbebenwar-
te, und „es ist ein wissenschaftliches Fak-
tum, dass ein Erdbeben im Marmarameer
eine Stärke von sieben oder mehr haben
wird“. Nicht einig sind sich die Experten,
ob mehrere schwächere Beben die Span-
nung abbauen, oder eben nicht. Wenn es
passiert, gibt es gerade mal ein paar Se-
kunden Vorwarnungszeit. Das reicht, um
das Gas abzuschalten. Brände, sagen die
Experten, könnten gefährlicher sein als
das Beben. christiane schlötzer

Ein mit einem Schwert bewaffneter An-
greifer hat am Dienstag in einer Berufs-
schule im finnischen Kuopio eine Frau ge-
tötet und zehn weitere Menschen ver-
letzt, zwei davon schwer. Ein Sprecher
der Universitätsklinik von Kuopio be-
zeichnete den Zustand der beiden Schwer-
verletzten als ernst, aber stabil. Die Poli-
zei nahm einen Verdächtigen fest, der zu-
sätzlich zum Schwert noch eine Schuss-
waffe mit sich führte. Der mutmaßliche
Täter sei ein 1994 geborener finnischer
Staatsbürger ohne Vorstrafe, gab die Poli-
zei bei einer Pressekonferenz am Diens-
tag bekannt. Über das Motiv wisse man
noch nichts, der Computer des Festge-
nommenen werde erst noch untersucht.
Bei der Festnahme hatte die Polizei auf
den Verdächtigen geschossen, er wurde
daraufhin schwer verletzt auf die Inten-
sivstation eingeliefert.
Finnische Medien zitieren einen Au-
genzeugen, der berichtete, wie ein Mann
mit einer langen Tasche ins Klassenzim-
mer gestürmt sei. „Er hat ein Schwert aus
der Tasche gezogen und damit auf einen
Lehrer eingestochen.“ Die Berufsschule
hat ihren Sitz im „Herman“-Einkaufszen-
trum in der Stadt Kuopio. 300 Schüler
und 40 Lehrer befanden sich zum Zeit-
punkt des Angriffs in der Schule. Zur glei-
chen Zeit brach im zweiten Stock der
Schule ein Feuer aus, das aber schnell ge-
löscht wurde. Marko Kilpi, ein ehemali-
ger Sprecher der Polizei von Kuopio, der
heute als Abgeordneter im finnischen
Parlament sitzt, sagte der ZeitungHelsin-
ki Sanomat, die Polizei habe in der Vergan-
genheit regelmäßig die Schulen der Stadt
besucht, unter anderem, um sie auf mög-
liche Akte der Gewalt vorzubereiten,
„aber heute sind leider nicht mehr genug
Ressourcen dafür vorhanden“. ttt

Collien Ulmen-Fernandes, 38, Schau-
spielerin und Kolumnistin, gibt Alters-
vorsorge-Tipps. „Während sich einige,
meist männliche Kollegen ihr drittes
Auto gekauft haben, habe ich größere
Summen, etwa aus Werbedeals, immer
sofort in Immobilien gesteckt, damit ich
theoretisch von den Mieteinnahmen
leben könnte“, sagte sie der Zeitschrift
Emotion. „Es war mir wichtig, nie von
einem Mann abhängig zu sein.“ Sie habe
als indische Schwäbin die Sparsamkeit
in die Wiege gelegt bekommen und
schon früh an ihre Rente gedacht.


Ringo Starr, 79, Ex-Beatle, bekommt
nächtlichen Besuch. Immer wieder er-
scheine ihm John Lennon in seinen Träu-
men, sagte er derZeit. Süße Träume?
Nö. „John schreit mich da immer an.“


Tom Cruise, 57, US-Schauspieler, hat
das übliche Kompliment bekommen:
„Sie sind gut aussehend!“ Die Schmei-
chelei kam aber nicht wie üblich von
einem Groupie, sondern vom ukraini-
schen Präsidenten Wolodimir Selenskij,
41, bei einem Treffen in Kiew.


Lucy Sparrow, 33, britische Künstlerin,
hat einen Lebensmittelladen ohne Le-
bensmittel eröffnet. Alle Artikel, von
Äpfeln und Zitronen über Spargel bis hin
zu Miesmuscheln, Schweizer Käse und
Konservendosen, die es in dem Shop im
Rockefeller Center in New York zu kau-
fen gibt, sind aus Filz hergestellt. Billig
ist der Einkauf nicht: Die Preise bewe-
gen sich laut dem MagazinTime Outum
die 40 Dollar (knapp 37 Euro) pro Stück.


STILKRITIK


von verena mayer

E

inmal noch haben sie ihren gro-
ßen Auftritt. Die zehn Rocker
winken von der Anklagebank in
den Zuschauerraum, recken die
Daumen hoch, lachen laut auf,
jede Geste ein Zeichen dafür, was sie von
der deutschen Justiz halten: nicht sehr
viel. Dann aber ergehen die Urteile: Neun
von ihnen werden wegen Mordes oder An-
stiftung zum Mord verurteilt, einer wegen
illegalen Waffenbesitzes. Einen Großteil
ihres restlichen Lebens werden sie nicht
im Rockerklub, sondern in einer Justizvoll-
zugsanstalt verbringen.
Damit ist am Dienstag einer der aufwen-
digsten Prozesse zu Ende gegangen, den
die Berliner Justiz in jüngerer Zeit gegen
die organisierte Kriminalität geführt hat.
Fünf Jahre lang wurde im großen Schwur-
gerichtssaal verhandelt, um eine Tat vom
Januar 2014 zu sühnen. Damals marschier-
ten 13 Vermummte im Wettcafé „Expekt“
in Berlin-Reinickendorf auf. Der erste zog
eine Waffe und schoss acht Mal auf einen
Mann, der in einem Hinterzimmer saß
und Karten spielte. Eine Überwachungska-
mera filmte die Tat. Sie dauerte 25 Sekun-
den, Ermittler sprachen von einer „Hin-
richtung“. Schnell war klar, wer dahinter
steckte: Hells Angels, die sich an einem
Mann rächen wollten, der den verfeinde-
ten Bandidos nahestand.

Im Prozess lief alles auf zwei Männer
zu. Da ist erst einmal Kadir P., 35. Seinen
Beruf gibt er mit „Gastronom“ an, tatsäch-
lich ist er eine der schillerndsten Figuren
der Rockerszene. Schon sein Einstieg war
ungewöhnlich: P. fing bei den Bandidos
an, wo er sich nicht, wie das bei Rockern üb-
lich ist, erst einmal als „Hang around“ an-
diente, sondern gleich seinen eigenen Orts-
verein gründete. Mit diesem kämpfte er
erst gegen die Hells Angels um die Vorherr-
schaft in der Stadt – und lief schließlich
mit 40 weiteren Bandidos zu den Hells An-
gels über. Dort wurde er bald das „unange-
fochtene Alphatier“, wie es der Staatsan-
walt nennt, „der nach immer mehr Macht
strebende Präsident“.
P. fiel mit Äußerungen wie „Berlin ge-
hört mir“ auf und umgab sich mit Leuten
wie dem Rapper Bushido, in dessen Video
„Mitten in der Nacht“ er einen finster aus-
sehenden Boxer spielte. Sonst war Kadir P.
in der Szene bekannt als jemand, der die
Dinge schnell eskalieren ließ. Mit den Ban-
didos lieferte er sich einen regelrechten
Krieg, ein Türsteher wurde erschossen,
Klubhäuser wurden angezündet, Gliedma-
ßen mit Macheten abgetrennt.
Eine nach Rocker-Maßstäben relativ
harmlose Auseinandersetzung war dann
auch der Grund, warum Tahir Ö. im Wett-
café Opfer eines „mörderischen Überfall-
kommandos“ wurde, wie das der Vorsit-
zende Richter nennt. Ö. war vor einer Dis-
kothek mit Mitgliedern der Hells Angels in
Streit geraten und hatte einem von ihnen
mit dem Messer in die Hand gestochen.
Dessen Bruder wandte sich an Kadir P. –
und der befahl Ö.s Tod. Um die Ehre des
Klubs zu wahren, sagt der Richter. Und
weil er geglaubt habe, damit ungeschoren
davonzukommen, was seinen Ruf in der
Szene noch weiter gestärkt hätte.
Und da ist der zweite Mann, Kassra Z.,
iranisch-deutscher Staatsbürger, genannt
„der Perser“. Er war Teil der Wettcafé-Ko-
lonne, vor Gericht sitzt er in einer Glaszel-
le, die von den anderen Angeklagten abge-
trennt ist. Aus gutem Grund: Kassra Z. hat
etwas getan, was sehr selten ist in einem
Milieu, in dem es um die Ehre geht und
man nicht einmal mit den Behörden redet,
wenn man selbst Opfer wurde: Er hat sein

Schweigen gebrochen und als Kronzeuge
ausgesagt. Er hat deswegen keine lebens-
lange Haftstrafe bekommen wie die ande-
ren Rocker, sondern nur zwölf Jahre.
Ihm verdankt die Justiz wertvolle Einbli-
cke in die Welt der Rocker. Dass sie einer-
seits „wie Männerbünde“ funktionieren
und militärisch durchorganisiert sind, wie
es der Vorsitzende Richter formuliert, an-
dererseits aber darauf ausgelegt sind,
Geld zu verdienen, unter anderem mit
Prostitution, Anabolika und dadurch, dass
sie die Türen von Clubs kontrollieren –
und damit die Drogen, die dort verkauft
werden. Durch Kassra Z. wurde auch klar,
wie gefährlich es ist, Rocker als Feinde zu
haben. Kassra Z. ist im Zeugenschutzpro-
gramm und selbst in Haft nicht sicher.
Nicht einmal sein Anwalt weiß, in wel-
chem Gefängnis er sitzt.
300 Verhandlungstage dauerte das Ver-
fahren gegen die Rocker. Es hat gezeigt,
wie schwer es für die Justiz ist, das organi-
sierte Verbrechen zu bekämpfen. Die Be-
lastungszeugen sind nicht gerade redse-
lig, so wie der Familienvater, der das Pech
hatte, im Wettcafé neben dem Opfer zu sit-
zen. Seither wird er seines Lebens nicht
mehr froh, seine Familie musste umzie-

hen. Seine Frau ist so eingeschüchtert,
dass sie vor Gericht sagte, sie wisse nicht,
warum sie aus Berlin weg musste, sie habe
ihren Mann auch nicht danach gefragt.
Und die Ermittler selbst rückten in den
Fokus. Die Frage steht im Raum, ob sie den
Mord hätten verhindern können. Denn
dass der Rockerboss Kadir P. und sein frü-
herer Kumpel Tahir Ö. verfeindet waren,
war stadtbekannt. Immer wieder waren
die beiden „dissozialen Alphatiere“, wie es
der Richter nennt, aneinander geraten.

Erst, weil Ö. bei den Bandidos blieb, dann,
weil er plante, sich mit Hilfe der Mongols,
einer anderen Rockergruppe, im Drogen-
geschäft niederzulassen. Ö., ein Intensivtä-
ter, ging nur mehr mit schusssicherer Wes-
te und geladener Waffe auf die Straße, das
„Expekt“ suchte er auf, weil dort früher ei-
ne Bankfiliale war und die Scheiben nicht
durchschlagen werden konnten. Kurz vor
der Tat hörten Polizisten Telefonate von
Kadir P. ab, in denen ihm der Vorfall vor

der Diskothek geschildert wurde und er Ra-
che schwor. Die Ermittler hätten dann zu-
mindest eine sogenannte Gefährderan-
sprache führen, also Kadir P. klarmachen
müssen, dass er auf dem Radar der Polizei
ist. Warum das nicht geschah, wird in ei-
nem eigenen Verfahren ermittelt.
Dennoch wird der Rocker-Prozess als
Erfolg gewertet. Die Führungsriege der
Berliner Hells Angels erhielt hohe Frei-
heitsstrafen, Ermittlern zufolge ist es in
Berlin deutlich ruhiger geworden, seit Ka-
dir P. in Haft ist – zumindest was die sicht-
baren Straftaten angeht. Berlins Innense-
nator Andreas Geisel (SPD) sagt, das Urteil
habe hoffentlich „Signalwirkung“ und zei-
ge, dass Berlin „das falsche Pflaster für
Bandenkriege oder andere Formen der
brutalen Gewalt“ sei. Wie groß der Schlag
gegen die organisierte Kriminalität der
Hauptstadt tatsächlich ist, muss sich aber
erst zeigen. Nach wie vor wird um die
Macht auf den Straßen Berlins gekämpft.
So ist einer Antwort der Bundesregierung
auf eine parlamentarische Anfrage aus
dem vergangenen Jahr zu entnehmen,
dass Rocker und rockerähnliche Gruppen
noch immer stark in der Türsteher-Szene
vertreten sind und zunehmend in Sicher-

heitsunternehmen drängen. Und es kom-
men neue Gruppierungen hinzu. Etwa die
„Guerilla Nation Vaynakh“, eine Vereini-
gung, die ebenfalls im Berliner Wach-
dienstgewerbe Fuß fassen will, um Schutz-
geld zu erpressen oder Drogengeschäften
nachzugehen. Die Polizei zählt sie zu den
„neuen Wilden“, weil sie von dem, was klas-
sische Rocker ausmacht, weit entfernt
sind. Viele von ihnen fahren nicht einmal
Motorrad. Ihre Mitglieder stammen unter
anderem aus Tschetschenien, und sie ha-
ben Berührungspunkte mit einem weite-
ren großen Player der Hauptstadt: den ara-
bischen Clans. Was passiert, wenn solche
Gruppen an Einfluss gewinnen, ist noch
nicht absehbar.
Die Hells Angels verbringen an diesem
Dienstag ihre letzten Stunden im Gerichts-
saal damit, sich lautstark miteinander zu
unterhalten oder „Bastard“ zu rufen,
wenn der Vorsitzende Richter in der Ur-
teilsbegründung über einen Zeugen
spricht. Ein letztes Wort vor der Urteilsver-
kündung wollte keiner von ihnen sagen.
Nur Kassra Z., der Kronzeuge in seiner
Glaszelle, wandte sich am Montag an die
Familie des Opfers. Es tue ihm leid, sagte
er. „Nichts davon hätte passieren dürfen.“

Wenn es auf der Straße sicherer ist als in den Gebäuden: In der vergangenen Wo-
che erschütterte Istanbul ein Beben der Stärke 5,7. FOTO: YASIN AKGUL / AFP

Das Zittern vor dem Beben


In Istanbulfragen sich die Bewohner, ob ihre Stadt gewappnet ist für das, was Seismologen kommen sehen


Angriff auf Schule in


Finnland: eine Tote


Das ist ja echt röhrend:Hilmar Freiherr
von Münchhausen, 54, Geschäftsführer
der Deutschen Wildtier Stiftung, hat
eine Petition gestartet, die denHirschen
in Baden-Württemberg mehr Lebens-
raum verschaffen soll. So weit, so nor-
mal für einen Wildtierlobbyisten. Aller-
dings soll diese Petition geröhrt vorgetra-
gen werden, jede abgegebene Unter-
schrift bedeutet eine Sekunde „Bööö-
öööö“ vor dem Stuttgarter Landtag. Für
Petitionen in Baden-Württemberg gel-
ten keine besonderen Formvorschriften.
Kleines Problem allerdings: Laut Regulari-
en muss das Anliegen schriftlich geschil-
dert werden.FOTO: DPA

Ochsenzähler


Der Kronzeuge sitzt in einem
Glaskasten, selbst im Gericht
trägt er eine kugelsichere Weste

12 PANORAMA HF3 Mittwoch/Donnerstag, 2./3. Oktober 2019, Nr. 228 DEFGH


Plötzlich boomt der Markt für
Erdbebenversicherungen in
der türkischen Metropole

FOTO: FRANZ KOTTEDER

ILLUSTRATION: SZ-GRAFIK

LEUTE


Bööööööö


Acht Schüsse im Hinterzimmer


Neun „Hells Angels“-Rocker werden in Berlin zu langen Haftstrafen verurteilt. Der Prozess ermöglichte seltene
Einblicke in eine fast schon militärisch durchorganisierte Szene – weil einer der Angeklagten als Kronzeuge auspackte

In Berlin ist es deutlich
ruhiger geworden, seit
Kadir P. im Knast sitzt
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