Süddeutsche Zeitung - 02.10.2019

(avery) #1
Die Paraderäume von August dem
Starkenim Dresdner Residenzschloss
wurden wieder eingerichtet  Seite

von reinhard j. brembeck
und andrian kreye

E

s gehört zur Natur einer Diva, al-
lein durch ihre Präsenz Bewun-
derung und Ehrfurcht einzufor-
dern. Die Sopranistin Jessye
Norman verströmte diese abso-
lute Autorität über den Moment mit einer
Eleganz, die eigentlich in höfische Zeiten
gehörte. Was an einem fernen Winternach-
mittag auch daran lag, dass die Begeg-
nung mit ihr in einer sehr schnörkelvollen
New Yorker Hotelsuite stattfand und die
1,85 Meter große Diva ein Kleid trug, das
auch die kleine Bühne des Nachmittags
mit einem Glanz erfüllte, den sie mit Lä-
cheln und sanfter Sprechstimme abfeder-
te, weil sie um ihre Wirkung wusste. Sie
hatte ja etwas mitzuteilen, da hätte Ein-
schüchterung nur gestört.
Um Liebe und den Schmerz des Ab-
schieds und Verlustes ging es ihr an die-
sem Nachmittag, um die größten aller Ge-
fühle, die einem Album voller Lieder den
Titel gegeben hatten, auf dem sie von Mo-
zart über Schubert und Wagner bis Rogers
and Hart und Leonard Bernstein ihr ge-
samtes Spektrum auslotete. Und über die-
se Musik beschrieb sie auch die eigentli-
che Kraft der Diva: „Liebe und Verlust sind
universale Gefühle, die weder von der Zeit
noch vom Geschlecht abhängig sind“, sag-
te sie. „Texte aus der griechischen Antike
haben eine ganz ähnliche emotionale Tie-
fe wie Texte, die heute geschrieben wer-
den. Es sind nur die Ausdrucksformen, die
sich mit der Zeit ändern. Nehmen Sie Schu-
manns ,Frauenliebe und -leben‘. Man wür-
de sich wahrscheinlich schwertun, einen
Komponisten des 20. oder 21. Jahrhun-
derts zu finden, der bereit wäre, Frauen in
einer solch unterwürfigen Haltung zur Lie-
be zu beschreiben. Da fällt mir höchstens
die Countrysängerin Tammy Wynette und
ihr Song ,Stand By Your Man‘ ein.“
Es war ihre Herkunft, die ihr dieses
enorme Spektrum eröffnete. Es war im-
mer noch ein mühsamer Weg für eine afro-
amerikanische Sängerin in die Sphären
der Hochkultur gewesen, auch wenn sie
immer wieder betonte, dass der für sie per-
sönlich gar nicht so weit gewesen sei. Sie
verwies auf die Pionierleistungen, mit de-
nen ihre Vorgängerinnen und Vorgänger
ihr den Weg geebnet hatten, dem Mäd-
chen aus dem noch rassengetrennten Sü-

den der USA, wo sie in Augusta, Georgia
1945 als Tochter eines Versicherungsagen-
ten und einer Lehrerin geboren wurde. Bei-
de waren Amateurmusiker, die ihre Kin-
der früh in die Musikerziehung schickten,
Klavierunterricht war Pflicht. Und bald
schon zog es Jessye zur Oper. Jeden Sams-
tag hörte sie sich die Übertragungen aus
der New Yorker Metropolitan Opera im
Radio an, wurde mit dem Repertoire ver-
traut, das dort in den Originalsprachen
gesungen wurde. Sprachen, die sie später
lernen sollte, denn ihr Leben lang sang sie
nur in Sprachen, die sie auch verstand. Ne-
ben Englisch waren das Deutsch, Italie-
nisch, Französisch.

Der bürgerliche Start war damals keine
Selbstverständlichkeit, die Weltkarriere in
der Oper ein unerreichbarer Traum: Jes-
sye Norman war zehn Jahre alt, als erst-
mals eine schwarze Sängerin, Marian An-
derson, an der Metropolitan Opera auftre-
ten durfte. Jene Altistin, deren Schallplat-
ten sie durch ihre Jugend begleiteten, und
die 1961 bei John F. Kennedys Amtseinfüh-
rung die Nationalhymne singen durfte.
Norman war 16, als die erste afroameri-
kanische Primadonna, Leontyne Price, ihr
Debüt an der Met gab. Und dann war da
noch Sissieretta Jones, die Sopranistin, die
1893 die erste afroamerikanische Sänge-
rin war, die ein Konzert in der Carnegie
Hall geben durfte, keine dreißig Jahre
nachdem die Sklaverei abgeschafft war,
und der Jessye Norman eigentlich noch
ein großes Projekt widmen wollte. „Sie ha-
ben es mir möglich gemacht, dass ich sa-
gen durfte, ich singe französische Oper
oder ich singe deutsche Oper, anstatt dass
mir jemand vorschreibt, dass ich ,Porgy

and Bess‘ zu singen habe“, sagte sie. Auch
wenn sie später George Gershwin sang,
Spirituals, Musical-Songs und Jazz.
Und natürlich war es zu allererst ihre
Stimme, die sie zur Diva machte, schon
bald nach ihrem Durchbruch Ende der
Sechzigerjahre. Im Sommer 1968 war das
gewesen, ein Jahr nach dem Abschluss
ihres Musikstudiums an der Harvard Uni-
versity. Da gewann sie den ARD-Musik-
wettbewerb in München. Es war ihre erste
Reise nach Europa, in die Heimat der Mu-
sik, die sie so liebte. Und wo man schon
ahnte, dass hier eine Große am Anfang
stand. „Jessye Norman aus den USA, die
mit wunderbarer Selbstverständlichkeit
ihren ersten Preis verdient, ist eine Sänge-
rin, die man bald in einem Atem mit den
ganz Großen ihres Fachs nennen wird“,
schrieb der Kritiker Florian Fricke damals
in derSüddeutschen Zeitung.
Im Jahr darauf debütierte sie an der
Deutschen Oper in Westberlin als Elisa-
beth in Richard Wagners „Tannhäuser“,
ein Werk, zu dem sie immer wieder zurück-
kehrte. Es ist beispielhaft, mit welchem Le-
benshunger Norman Elisabeths Auftritts-
arien „Dich, teure Halle, grüß ich wieder“
singt. Da ist eine junge selbstbewusste
Frau zu hören, der alle außergewöhnli-
chen Möglichkeiten des Lebens und der
Liebe offenzustehen scheinen.
Nur einen Akt später aber ist es damit
vorbei. Im Gebet der Elisabeth sind Jessye
Normans nach wie vor sicher und brillant
gesungenen Hochtöne nur mehr Fassade.
Schnell versinkt Norman in abgedunkel-
tem Grübeln, das hörbare Atmen verrät
die Not einer zutiefst verletzten, enttäusch-
ten Frau. Ihr heller und lichter Sopran
wird dunkler und düsterer, er wird zum
Medium des Schmerzes und Leids. In kei-
nem Moment aber gibt Norman die Stren-
ge des Metrums und der Form auf. Immer
bleibt sie kontrolliert, gestattet sich und ih-
ren Zuhörern keine Momente der Senti-
mentalität. Diese extreme Beherrschtheit
des Singens war typisch für sie und später
Grundlage ihres Erfolgs und Weltruhms.
Zwei Jahre später folgte die erste von
mehr als 100 Schallplatten, eine Samm-
lung von Liedern, über die Ivan Nagel in
der SZ schrieb: „Jessye Norman besitzt ei-
ne der berückendsten und größten Stim-
men, die man heute hören kann.“ Bald
schon war sie eine der gefragtesten Sopra-
nistinnen, wurde für die großen Rollen in

aller Welt verpflichtet. So sang sie an der
Mailänder Scala 1972 die nubische Königs-
tochter Aida in der gleichnamigen Oper
von Giuseppe Verdi. Da verdichtete sie in
ihrer zwischen Härte, Wut, Verzweiflung
und Liebe changierenden Stimme das
Schicksal einer fern der Heimat aller Hoff-
nung beraubten Kriegsgefangenen. Auch
die Cassandre in Hector Berlioz’ „Les Troy-
ens“ reizte sie. Denn Jessye Norman gab
immer wieder jenen Heldinnen ihre Stim-
me, die von der Gesellschaft zerstört wer-
den und am Leben scheitern. Die Opernli-
teratur ist voll solcher Verzweiflungsfrau-
en, deren Schicksale im Gegensatz zu de-
nen der Operntenorhelden immer noch

wie aus dem Leben gegriffen wirken. Doch
in dieser Konsequenz tat das vor ihr höchs-
tens Maria Callas.
So wurde Jessye Norman in ihrer Kunst
eine Kämpferin für die Frauen- und Men-
schenrechte, während ihr Ruhm als Sänge-
rin ins schier Maßlose wuchs. Obwohl sie
erst 1983 selbst an der Met singen durfte.
Norman-Auftritte wurden zu Kultereignis-
sen, auch wenn sie sich immer mehr auf
den Liedgesang verlegte. So gelang es dem
damaligen Chef der Münchner Philharmo-
niker, Sergiu Celibidache, 1992, Norman
für die „Vier letzten Lieder“ von Richard
Strauss zu verpflichten. Der Stadtrat muss-
te den für dieses Konzert erhöhten Ein-
trittsgeldern extra zustimmen. Die Zusam-
menarbeit der beiden war nicht einfach,
doch der Triumph dann riesig.
1989 sang sie zum 200. Jahrestag der
Französischen Revolution die Marseillaise
in Paris. Sie sang zur Eröffnung der Olym-
pischen Spiele in Atlanta, zu den Amtsein-
führungen der Präsidenten Ronald Rea-

gan, Bill Clinton und zur Einweihung des
Lichtdenkmals für die Opfer der Terroran-
schläge vom 11. September in New York.
Doch weder der Welterfolg noch ihr Sta-
tus als Diva konnten ihre musikalische
Neugier bremsen. Sie nahm Spirituals auf
und Lieder aus dem „Great American Song-
book“. Sie hätte gerne mit Miles Davis gear-
beitet, arbeitete aber zumindest mit des-
sen Bassisten Ron Carter, der ihr mit dem
Pianisten Michel Legrand und dem Schlag-
zeuger Grady Tate als Rhythmusgruppe
für ein Jazzalbum diente.
Sie hatte lange gewartet, bis sie sich an
diese Musik ihrer Kindheit wagte. Auch da
schürfte sie nach den universalen Gefüh-
len. „Sicherlich würde ich einen Song von
Harold Arlen nicht wie Schubert oder
Brahms aufführen“, sagte sie. „Aber der
Wechsel findet in meinem Kopf statt. Ich
manipuliere da nicht meine Stimmbän-
der, ich tue da nichts Physisches. In den
Frühzeiten des Rock ’n’ Roll war ,Good Gol-
ly, Miss Molly‘ letztlich auch nur ein Weg,
um zu sagen, dass man eine andere Person
sehr gerne hat. Das waren nur Form und
Ausdruck, die überraschend waren. Das
war ähnlich wie in den Tagen der zweiten
Wiener Schule. Komponisten wie Webern,
Berg und Schönberg haben es auch nicht
leicht gehabt.“
Es war diese Neugier, die 2001 zu einem
ihrer bewegendsten Auftritte führte. Ro-
bert Wilson, der Meister der Bühnenent-
schleunigung, inszenierte mit ihr Franz
Schuberts „Winterreise“ als großes Ereig-
nis im Pariser Châtelet. Yves Saint-Lau-
rent lieferte dazu wallende Gewänder in
Blau. Wilson ließ schier endlose Pausen
zwischen den Stücken, Norman schritt ge-
mach über die Bühne, thronte auf einem
Sessel, skandierte leise, schärfte einzelne
Silben heftig an. Mit ihrem Status eines
Stars war diese Lesart, die radikal mit der
Tradition brach, nicht mehr zu vereinen.
Vor allem Regisseur Wilson wurde heftig
ausgebuht. Aber Norman machte klar, wie
sehr ihre Winterreisende vom Weg abge-
kommen war, wie einsam und verloren sie
war. Leid so schonungslos in Klänge und
Töne zu übersetzen war die Essenz ihrer
Kunst, mit der sie die Welt erobert hatte.
Am Montag ist sie in einem Kranken-
haus im New Yorker Stadtteil Harlem an
septischem Schock und Organversagen
gestorben, Spätfolgen einer Rückenverlet-
zung. Sie wurde 74 Jahre alt.

von felix stephan

D


ie Stadt Aachen hat soeben ihren
Kunstpreis an den libanesisch-
amerikanischen Künstler Walid
Raad zurückgezogen, weil dieser nicht
nur ein international renommierter
Künstler ist, sondern außerdem die Orga-
nisation „Boycott, Divest and Sanctions“
(BDS) unterstützt. Wer die Nachrichten
aus dem deutschen Preisgeschehen nur
mit einem Auge verfolgt, könnte diese
Geschichte leicht mit jener verwechseln,
die sich ein paar Tage zuvor in Dortmund
zugetragen hat. Dort hatte die Jury der
britisch-pakistanischen Schriftstellerin
Kamila Shamsie den Nelly-Sachs-Preis
aberkannt, nachdem auch sie sich als
BDS-Unterstützerin erwiesen hatte.
Der Fall schlug im englischsprachigen
Raum größere Wellen als in Deutschland.
DieLondon Review of Booksveröffentlich-
te einen offenen Brief, der die Entschei-
dung der Dortmunder Jury kritisierte
und von zahlreichen namhaften Autoren
unterschrieben wurde, darunter Alexan-
der Kluge, Rachel Kushner, Michael On-
daatje, Colm Tóibín und dem südafrikani-
schen Nobelpreisträger J. M. Coetzee.
Seitdem kreist die hitzige Debatte im
Kern um die Frage, ob es sich beim BDS
um eine legitime Form zivilgesellschaftli-
chen Engagements oder eine antisemiti-
sche Organisation handelt. Diese Debatte
wird dadurch erschwert, dass die Motive
auf beiden Seiten mitunter nicht durchge-
hend integer sind. Dabei ist es im Grunde
gar nicht so kompliziert. Natürlich kann
man die israelische Regierung kritisie-
ren, ohne deshalb gleich ein Antisemit zu
sein. Jedes andere Land müsste sich eben-
falls Kritik gefallen lassen, wenn es etwa
wie Israel eine Siedlungspolitik betrei-
ben würde, die das Völkerrecht bricht.
Ebenso offenkundig aber ist, dass
Kritik an der israelischen Regierung von
Antisemiten regelmäßig benutzt wird,
um Ressentiments unter die Leute zu
bringen. Und dass es dem BDS nicht
gelingt, konsequent gegen Antisemiten
vorzugehen, die in seinen eigenen Reihen
Unterschlupf suchen. Diese strikte Tren-
nung aber wäre die Grundbedingung für
glaubwürdigen Aktivismus.


Der BDS sieht sich selbst als zivilgesell-
schaftliche Bewegung, die Israel so lange
sanktionieren möchte, bis sich die
Regierung des Landes an völker- und
menschenrechtliche Standards hält. Vom
Deutschen Bundestag aber wurde der
BDS im Mai 2019 als antisemitisch einge-
stuft, nicht zuletzt, weil es gerade in der
Bundesrepublik nun einmal die vordring-
liche Aufgabe ist, dem Antisemitismus
jede denkbare Plattform zu entziehen,
statt ausgerechnet der israelischen Regie-
rung Vorträge über Menschenrechte zu
halten. Wenn die Deutschen ihr morali-
sches Gewicht für die Menschenrechte in
die Waagschale werfen wollen, böte sich
in vielen anderen Ecken des Planeten
ausreichend Gelegenheit.
Wenn Autoren und Institutionen ande-
rer Länder ihre Prioritäten anders setzen
als der Deutsche Bundestag und in Kauf
nehmen, dass auch waschechte Antisemi-
ten im Kielwasser ihres zivilgesellschaftli-
chen Einsatzes mitschwimmen, steht
ihnen das natürlich frei. Wie meistens ist
auch hier die Sprecherposition entschei-
dend. Wenn etwa amerikanische Juden
Netanjahus Likud-Partei kritisieren, ist
das sehr viel erträglicher, als wenn sich
ausgerechnet Deutsche zu Kämpfern für
die palästinensische Sache aufschwin-
gen. Wenn es auf der internationalen
Bühne ein humanistisches Problem gibt,
bei dem die Deutschen anderen Nationen
gern einmal den Vortritt lassen dürfen,
dann wäre das die moralische Beurtei-
lung israelischer Regierungspolitik.
Wenn deutsche Städte aber BDS-Anhän-
ger auszeichnen, beziehen sie in dieser
Sache zwangsläufig Stellung. Wenn sie
die Preise wieder aberkennen, ebenso.
Um beides zu vermeiden, sollten sich
deutsche Jurys informieren, in welche
Debattenräume sie sich durch ihre Nomi-
nierungen unweigerlich begeben.


American Idol


Die Sopranistin Jessye Norman ist gestorben. Sie arbeitete sich aus einer Kindheit im rassistischen Süden der USA heraus,


schaffte ihren Durchbruch in München und wurde weltweit als eine der größten Stimmen ihrer Zeit gefeiert


FOTO: OLIVER KILLIG

Felix Stephans Zweifel
in derBDS-Frage
sind unerschütterlich.

Prachtpolitik


DEFGH Nr. 228, Mittwoch/Donnerstag, 2./3. Oktober 2019 HF2 13


FEUILLETON


Siegfried Lenz’ Roman „Deutschstunde“
in einerneuen Kino-Verfilmung
von Christian Schwochow  Seite 14 Der Historiker Philipp Ther fragt, warum
in Europanach dem Mauerfall die „illiberale Demokratie“
auf dem Vormarsch ist  Seite 16

Leid in Klänge zu
übersetzen, das war die
Essenz ihrer Kunst

Sie war zehn, als erstmals
eine schwarze Sängerin an der
Met auftreten durfte

AACHENER KUNSTPREIS

Schweigen


ist Gold


Entscheidend ist auch hier


die Sprecherposition


Die Künstlerin Kara Walker bespielt
die Turbinenhalleder
Londoner Tate Modern Seite 15

Brunnenvergiftung


Mehr als eine Parabel
FOTO: GEORGES PAULY

Gegenwartswirren nach 1989


Ihr Ruhm hat niemals ihre musikalische Neugier gebremst: Jessye Norman (1945–2019) FOTO:CAROL FRIEDMAN
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