Süddeutsche Zeitung - 02.10.2019

(avery) #1
von werner bartens

M

anchmal sind Gesundheit
und Überleben eine Frage
des Preises. Zu diesem zy-
nischen Schluss kann kom-
men, wer sich das Gefeil-
sche um die Kosten des Tests auf Schwan-
gerschaftsdiabetes genauer anschaut. Die
Diskussion über mögliche Kostenerspar-
nisse bekommt eine bittere Note, weil ver-
gangene Woche eine 28-jährige Frau und
ihr ungeborenes Kind in Köln gestorben
sind, nachdem die werdende Mutter eine
in der Apotheke angefertigte Glukose-
lösung getrunken hatte. Abhängig davon,
wie stark der Blutzucker nach einer sol-
chen Glukosebelastung ansteigt, wird das
Risiko für Schwangerschaftsdiabetes er-
mittelt. Im März 2012 ist der Screening-
Test zwischen der 24. und 28. Schwanger-
schaftswoche in die Mutterschaftsrichtli-
nien aufgenommen worden.
Eine Klarstellung vorweg: Auch wenn
derzeit oft das Gegenteil behauptet wird,
gibt es durchaus ein Fertigpräparat, mit
dem auf Schwangerschaftsdiabetes getes-
tet werden kann. Die Zuckerlösung muss
nicht von Hand in Arztpraxen oder Apothe-
ken angerührt werden. Roche stellt als ein-
ziges Unternehmen eine gebrauchsfertige
Lösung her; das Produkt heißt Accu-Chek
Dextrose OG-T. Je nach Anbieter kostet
die braune Flasche mit 300 Millilitern
Saft zwischen 4,59 Euro und 5,53 Euro.
Angesichts sonst üblicher Preise für
Medikamente ist das wenig. Dennoch war
diese Summe offenbar zu viel für die Kran-
kenkassen; sie wollten sie nicht länger er-
statten. 2016 haben sie mit den Kassen-
ärztlichen Vereinigungen (KV) vereinbart,

dass künftig nur noch die selbst angerühr-
te Zuckerlösung bezahlt wird. Apotheker
bekommen dafür 1,21 Euro. Das soll für
die Produktkosten sowie die Arbeitszeit
aufkommen. Rentabel ist das nicht.
Es ist müßig zu spekulieren, ob der Tod
von Mutter und Kind in Köln hätte verhin-
dert werden können. Fest steht, dass die
Zubereitung anfälliger für Fehler ist als
die Gabe gebrauchsfertiger Lösungen.
„Natürlich kann immer etwas passieren“,
sagt Internistin Heinke Adamczewski
vom Vorstand der Arbeitsgemeinschaft Di-
abetes und Schwangerschaft innerhalb
der Deutschen Diabetes-Gesellschaft
(DDG). „Aber die Sicherheit von Präpara-
ten, die vom Werk bis zum Verbraucher ge-
schlossen bleiben, ist vermutlich größer
als bei selbst angerührten Produkten.“
In Adamczewskis Diabetes-Praxis in
Köln mit Schwerpunkt auf der Betreuung
Schwangerer werden jährlich 900 Frauen
auf Schwangerschaftsdiabetes getestet.
„Die Fertiglösung hat für Frauen wie Ärzte
Vorteile“, sagt sie. „Frauen erbrechen selte-
ner, sie ist besser verträglich. Und wir müs-
sen das Zeug nicht selbst anrühren – zu-
dem ist es ja schwer, die erforderliche Ge-
nauigkeit zu erreichen.“ Oft bleibt Boden-
satz im Behälter, denn die Glukose löst
sich schlecht auf; dann sind die Testergeb-
nisse ungenau, die Diagnosen unsicher.
Trotz der vielen Vorteile der Fertiglö-
sung stehen für etliche Praxen, die
Schwangere betreuen, noch Regressan-
drohungen im Raum, wenn sie das Fertig-
präparat verordnet haben. Das würde be-
deuten, dass sie die Kosten für die Fertiglö-
sung rückwirkend bis 2017 zurückzahlen
müssten. „Das ist noch in der Schwebe“,
sagt Adamczewski.

„Hätten die Krankenkassen dem Fertig-
produkt zugestimmt, wäre es wahrschein-
lich nicht zu den Todesfällen gekommen“,
sagt ein Diabetes-Arzt aus dem Rhein-
land, der nicht namentlich zitiert werden
will. „Dabei ging es um den Unterschied
von vier Euro.“ Seit die Fertiglösung nicht
mehr erstattet wird, bestellen Ärzte das
Glukosepulver für den Sprechstunden-
bedarf, und dann wird es in die Praxis
geliefert, erklärt Holger Neye, gelernter
Apotheker, der für die Kassenärztliche
Vereinigung Nordrhein arbeitet, das übli-
che Vorgehen. Warum die in Köln gestor-
bene Schwangere eine in der Apotheke an-
gerührte Lösung zu sich nahm, ist bisher
noch unklar.

Obwohl es sich nur um Zucker in Was-
ser handelt, dauert es 15 Minuten, bis sich
die Glukose aufgelöst hat. „Man muss hin
und wieder mit dem Glasstab umrühren
oder Rührgeräte anschaffen“, sagt Neye.
„Das bedeutet einen gewissen Aufwand
für die Praxen.“ Kein Wunder, dass sich
Widerstand regte, als die Verhandlungen
2016 ergaben, dass fortan nur noch die
selbst angefertigte Lösung erstattet wird.
Ausgenommen sind „medizinisch begrün-
dete Einzelfälle“. Was darunter zu verste-
hen ist, führt oft zu Diskussionen. „Es ist
ein immerwährender Streit mit den Kas-
sen, ob Schwangere dazugehören“, sagt
KV-Mann Neye.
Die Gebühren, die Ärzte für den Test
auf Schwangerschaftsdiabetes abrechnen

dürfen, sind die gleichen, egal ob das Fer-
tigprodukt oder die von Hand hergestellte
Lösung verwendet wird. Für den Vortest,
der Unregelmäßigkeiten im Zuckerstoff-
wechsel aufdecken soll und bei dem nach
Einnahme von 50 Gramm Glukose nach ei-
ner Stunde Blut entnommen wird, gibt es
11,47 Euro. Der eigentliche Orale Glukose-
toleranz-Test mit 75 Gramm Glukose, bei
dem die Schwangeren nach einer und
nach zwei Stunden zu Ader gelassen wer-
den, wird mit 13,96 Euro vergütet.
Die Deutsche Diabetes-Gesellschaft
(DDG) hatte die Entscheidung der Kran-
kenkassen gegen die Fertiglösung bereits
2016 „entschieden zurückgewiesen“ und
„Probleme bezüglich der Zubereitung der
Glukose-Lösung und mögliche Fehler“ be-
tont. Damals ging es vor allem um potenzi-
elle Schäden für Mutter und Kind auf-
grund einer falschen Diagnose. Die DDG
listete zahlreiche Fehlerquellen auf, etwa
wenn kein zugfreier Arbeitsplatz vorhan-
den ist, „damit kein Glukosepulver ver-
weht“. Zudem sei es ist nicht einfach, die
Tütchen mit der abgewogenen Menge Glu-
kose-Monohydrat vollständig zu leeren.
„Erhebliche Hygieneprobleme“ kämen
hinzu, da „geeignete Räumlichkeiten in
kleineren Praxen und Kliniken de facto
nicht zur Verfügung stehen“.
Angesichts der Todesfälle in Köln sind
Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein
und Krankenkassen von der ursprüngli-
chen Vereinbarung abgewichen. Schwan-
gere wie Ärzte sind verunsichert. Bis zum
31.12. werden nun die Kosten für das Fer-
tigpräparat erstattet. „Wir haben sofort be-
stellt und noch etwas bekommen“, sagt In-
ternistin Adamczewski. „Aber jetzt gibt es
einen Lieferengpass bis Mitte Oktober.“

Im Südatlantik, zwischen Argentinien
und Südafrika, liegt eine kleine Insel na-
mens Inaccessible Island. Vom Meer aus
sieht sie aus wie eine Festung mit vierhun-
dert Meter hohen Mauern. Unzugänglich,
unbewohnt und daher ideales Gebiet für
Forscher, die wissen wollen, wie viel Müll
im Meer treibt. Während einer zweimona-
tigen Expedition im vergangenen Jahr
sammelten der südafrikanische Vogel-
kundler Peter Ryan und Kollegen dort
entlang eines etwa einen Kilometer lan-
gen Küstenstreifens über fünf Tonnen
Plastikmüll. Darunter waren auffällig
viele Wasserflaschen aus chinesischer
Produktion.

Während einer früheren Expedition
im Jahr 2009 hatten Forscher 3515 weg-
geworfene Gegenstände aus Plastik ge-
funden, kleine Partikel nicht mitgezählt,
darunter über Bord gespülte Kisten von
Fischtrawlern, Netze, Eimer, Helme,
Schiffsteile und eben Plastikflaschen –
damals zur Hälfte asiatischen und süd-
amerikanischen Ursprungs. 2018 stießen
Ryan und sein Team auf 8084 Müllteile.
Der zahlenmäßig mit 75 Prozent weitaus
größte Teil davon: Plastikflaschen aus
China.
Ihre Ergebnisse legen die Umweltfor-
scher in der aktuellen Ausgabe des Fach-
journalsPNASdar. Bisher sei man davon
ausgegangen, der größte Teil des Plastiks
in den Meeren gelange über Flüsse vom
Festland aus hinein. Doch die Beobach-
tungen deuten nun darauf hin, dass wahr-
scheinlich Schiffe, die illegal ihren Müll
über Bord entsorgen, zum Müllproblem
im Südatlantik beitragen.
Die Forscher konnten auf Müllanaly-
sen aus den 1980er-Jahren zurückgrei-
fen, die darauf schließen lassen, dass der
Müll damals tatsächlich vom südamerika-
nischen Festland über Jahre hinweg Tau-
sende von Seemeilen weit bis zur Inacces-
sible Island reiste. Die im vergangenen
Jahr gefunden Flaschen waren laut Prä-
gung jedoch größtenteils vor weniger als
drei Jahren hergestellt worden. In dieser
Zeitspanne könnten die Flaschen nie-
mals von China in den Südatlantik getrie-
ben sein, argumentieren Ryan und sein
Team. Demnach müssten Schiffe den
Müll in die Region gebracht und damit ge-
gen das Internationale Übereinkommen
zur Verhütung der Meeresverschmut-
zung durch Schiffe (MARPOL) verstoßen
haben.

Die Studie gibt damit Hinweise auf
eine bislang womöglich unterschätzte
Quelle und zeigt deutlich, dass die trei-
bende Müllmenge wohl insgesamt dras-
tisch zugenommen hat. Wer genau dafür
verantwortlich ist, wird sich jedoch kaum
nachvollziehen lassen. „Anders als bei
Ölverschmutzungen, die eine spezifische
chemische Signatur aufweisen, lässt sich
Müll in den Ozeanen nur in den allerwe-
nigsten Fällen auf einen konkreten Verur-
sacher zurückführen“, sagt Lars Gutow,
Ökologe vom Alfred-Wegener-Institut in
Bremerhaven. „Dies wäre wahrschein-
lich nur durch Beobachter an Bord der
Schiffe möglich.“ Satellitenbilder können
nicht helfen, da Schiffe keine quadrat-
kilometergroßen Müllteppiche hinter
sich herziehen.
Dass Schifffahrt und Fischfang einen
großen Teil zur Meeresverschmutzung
beitragen, wird bereits länger vermutet.
In den Ozeanen bilden sich in vielen Ge-
bieten riesige Müllstrudel, in denen zer-
fetzte Netze genauso treiben wie Eimer,
Folien, Kisten, Tüten und Flaschen. Auch
die Offshore-Ölförderung trägt einen
wesentlichen Anteil zum Treibgut an den
Stränden bei. „Ein verstärktes Aufkom-
men von PET-Flaschen aus Asien im Süd-
atlantik mit nachweisbarer Produktion
der Flaschen in den letzten zwei bis drei
Jahren deutet tatsächlich darauf hin,
dass hier das MARPOL-Abkommen, das
eine Entsorgung von jedwedem Plastik-
müll auf offener See verbietet, nicht
eingehalten wird“, sagt der Ozeanograf
Jörg-Olaf Wolff von der Universität Ol-
denburg.
Nun mit dem Finger auf die chinesi-
sche Fischerei- und Handelsflotte zu
zeigen, wäre jedoch voreilig. Denn auch
europäische, amerikanische und Schiffe
anderer Nationen kaufen beim Andocken
in China lokales Wasser. Dementspre-
chend wird es schwierig sein, die Schuldi-
gen zu finden. Die über 150 MARPOL-Ver-
tragsstaaten sind jedoch rechtlich verant-
wortlich dafür, dass Schiffe unter ihrer
Flagge Plastikabfälle nicht illegal ins
Meer kippen. hanno charisius

Drei bis vier Mal pro Woche kommen sie
im Schnitt auf europäische und amerika-
nische Teller: Rindersteaks, Schweine-
schnitzel, Wildgulasch und alle mögli-
chen Wurstwaren. Wenn es nach dem Wil-
len einer internationalen Forschergrup-
pe geht, kann dies auch getrost so blei-
ben: Die meisten Menschen müssten ihre
Fleischmahlzeiten nicht einschränken,
schreiben Wissenschaftler um den kana-
dischen Epidemiologen Bradley Johns-
ton, die sich im Nutritional Recommenda-
tions Consortium (Nutrirecs) zusammen-
geschlossen haben. Die im Fachmagazin
Annals of Internal Medicinepublizierte
Empfehlung gilt sowohl für verarbeitetes
als auch unverarbeitetes rotes Fleisch, zu
dem alles außer Geflügel zählt. Hühn-
chen und Pute gelten ohnehin als gesund-
heitlich unbedenklich.
Das Diktum wirkt zunächst überra-
schend, denn es wird ja allenthalben vor
dem Fleischkonsum gewarnt. Besonders
viel Aufsehen erregte die Krebsagentur
der Weltgesundheitsorganisation, als sie
vor drei Jahren verarbeitetes Fleisch als
krebserregend und rotes Fleisch als wahr-
scheinlich krebserregend einstufte. Nun
also Entwarnung?
Die Forscher um Johnston untermau-
ern ihre Einschätzung mit gleich vier neu-
en Übersichtsartikeln, in denen die bishe-
rigen Erkenntnisse zu den gesundheitli-
chen Auswirkungen des Fleischkonsums
ausgewertet werden. Darunter auch ein
Artikel, der die klinischen Studien zum
Thema untersuchte. Die Teilnehmer die-
ser Studien wurden per Zufallsprinzip an-
gewiesen, entweder großzügig oder zu-
rückhaltend zu Fleisch und Wurst zu grei-
fen. Die Gesamtschau auf diese Experi-
mente ergab ein ernüchterndes Bild: Un-
terschiede zwischen den Gruppen ließen
sich nicht feststellen.
Ein ähnliches Ergebnis erbrachte die
Auswertung verschiedener Kohortenstu-
dien, in denen Essgewohnheiten und Er-
krankungen von Millionen Menschen
über viele Jahre hinweg beobachtet wur-
den. Aus diesen Arbeiten ließ sich allen-
falls ein kleiner Vorteil des Fleischver-
zichts herauslesen. Wenn beispielsweise
1000 Menschen pro Woche je drei Fleisch-
portionen ausfallen lassen, könnten sie-
ben Krebstodesfälle vermieden werden.
Gleichzeitig würde statistisch betrachtet
bis zu sechs Menschen eine Diabetes-Er-
krankung erspart bleiben, berichten die
Forscher. Sie weisen zugleich auf die enor-
men Unsicherheiten in den ausgewerte-
ten Arbeiten hin.


Ernährungsstudien sind notorisch un-
sicher. So haben auch in diesem Fall bei-
de ausgewerteten Studientypen Schwä-
chen. Klinische Studien gelten zwar ge-
meinhin als Goldstandard der For-
schung. Zum Fleischkonsum sind solche
Studien jedoch spärlich vorhanden, die
wenigen erstrecken sich meist über eher
kurze Zeiträume. Kohortenstudien gel-
ten per se als weniger zuverlässig, da sie
auf den subjektiven Auskünften von Pro-
banden beruhen und nicht sicher zeigen
können, ob nun wirklich die tägliche
Wurstplatte oder ein anderer, unbekann-
ter Faktor zur Herzerkrankung der Teil-
nehmer geführt hat.
Doch bei all den Unsicherheiten ist
klar, dass die Erkenntnisse nicht wirklich
neu sind. Auch die Empfehlungen befin-
den sich teilweise im Rahmen des bereits
Geltenden. Der World Cancer Research
Fund hält ebenfalls bis zu drei Portionen
rotes Fleisch pro Woche für zuträglich.
Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung
zieht die Obergrenze für Fleisch aller Art
bei 300 bis 600 Gramm pro Woche, was
ebenfalls etwa drei bis vier wöchentli-
chen Mahlzeiten entspricht.
Dennoch stören sich etliche unbeteilig-
te Forscher an der Rigorosität und Pau-
schalität, mit der die Autoren um Johns-
ton verkünden, dass es kaum Sinn habe,
den Einzelnen zum Zügeln seines Fleisch-
hungers zu bewegen. Er habe schlicht ei-
ne zu geringe Aussicht, von dieser Verhal-
tensänderung zu profitieren. Ihr Ansatz –
das schreiben die Autoren um Johnston
selbst – stellt die Sicht des Individuums
in den Vordergrund. Die gesellschaftliche
Perspektive spiele in ihrer Einschätzung
dagegen eine untergeordnete Rolle.
Susan Jebb, Ernährungsexpertin der
Universität Oxford, hält diese Sicht für zu
verengt. Kleine Auswirkungen für den
Einzelnen könnten, auf die Gesellschaft
hochgerechnet, durchaus große Effekte
ergeben, argumentiert sie. Und Ernäh-
rungsempfehlungen gelten nun mal für
die ganze Bevölkerung. Das Prinzip der
Vorsicht gebiete es, auch kleine und unsi-
chere Risiken ernst zu nehmen, betonen
weitere Forscher.
Andere kritisieren ein weiteres Manko
der Empfehlung. Aspekte des Tier-, Um-
welt- und Klimaschutzes hat das Konsor-
tium überhaupt nicht berücksichtigt.
Marco Springmann, Nachhaltigkeitsfor-
scher der Universität Oxford nennt den
Ansatz daher „kurzsichtig“. Er wirft dem
Team vor, sich auf die Weltsicht von
„fleischliebenden Individuen der reichen
Länder“ zu stützen, und dabei alle Bewei-
se dafür zu ignorieren, dass weniger
Fleisch auf hiesigen Tellern weitreichen-
de Vorteile für die gesamte Welt hat: Der
Verzicht kann helfen, Klimawandel, Res-
sourcenausbeutung und Umweltzerstö-
rung zu begrenzen. berit uhlmann


Das Leben der Gallwespe Bassettia pallida
könnte so leicht sein. Das nordamerikani-
sche Insekt fliegt Eichen an und sticht in
Blatt oder Rinde, sodass diese aufbläht
und ein schützendes unterirdisches Kin-
derzimmer für den Nachwuchs entsteht.
In dieser Höhle sollen die Larven gedei-
hen, bis sie dem Raum entschlüpfen und
davonfliegen – wäre da nicht ihr Gegen-
spieler, die schillernd gefärbte Erzwespe
Euderus set. Dieser Parasit macht der Gall-
wespe das Leben schwer.

Kommt die Erzwespe hinzu, nistet sie
ihren Nachwuchs nicht nur in der frem-
den Kinderstube ein, sondern auch gleich
im Körper der Nachwuchs-Gallwespen.
Von ihnen ernährt sich der Parasit fortan


  • und als wäre das nicht genug, benutzt er
    seinen Wirt noch als eine Art Korken:
    Wenn die angegriffene Nachwuchs-Wes-
    pe anfängt, durch die Pflanze ein Loch
    nach draußen zu graben, stoppt Euderus
    set das just in dem Moment, wenn das
    Loch zu eng wird. Die Gallwespe bleibt ste-
    cken, wird selber zum schützenden Raum
    für die Erzwespe, die sich nun durch ihren
    Wirt frisst und in Freiheit entschwebt.
    Da die Gallwespe selbst ein Parasit ist,
    zugleich aber Opfer der parasitären Erz-


wespe wird, sprechen Biologen von mehr-
stufigem Parasitismus – ein seltenes Phä-
nomen. Und offenbar flexibler als ge-
dacht, wie Biologen der University of Iowa
und der Rice University nun im Fachblatt
Biology Letterszeigen. Demnach vergeht
sich die Erzwespe an mindestens sechs
weiteren Wespenarten – eine Beobach-
tung, die die Spezialisierung zwischen
Parasiten und ihren Wirten infrage stellt.

Als die Forscher 2017 auf die tödliche
Beziehung zwischen Euderus set und
Bassettia pallida stießen, sah dies zumin-
dest nach einem exklusiven Verhältnis
aus. Um es weiter zu untersuchen, sam-
melten die Biologen aus Iowa insgesamt
23000 der sogenannten „Gallen“ und zo-
gen mehr als 15 000 Parasiten im Labor
auf. Das Ergebnis überraschte die Wissen-
schaftler: Die Superparasiten manipulier-

ten sieben Beutetiere aus fünf Gattungen


  • ein „unerwartetes Schema“, wie die
    Autoren schreiben.
    Schließlich seien viele Parasiten taxo-
    nomisch spezialisiert. Und gerade bei
    einem komplexen Phänomen wie der
    Manipulation von Verhalten erwarte man,
    dass sich die Bandbreite der Wirte eher
    schmälert. Das tat sie nicht, wobei die
    Angreifer teils naheliegende Wirte ver-
    schmähten, die eigentlich in ihren Speise-
    plan gepasst hätten. Die Spezialisierung
    liegt offenbar vielmehr in der Beschaffen-
    heit der Räumlichkeiten: Denn alle von
    der Erzwespe angegriffenen Kinderstu-
    ben waren sicher in der Pflanze einge-
    schlossen, ohne störende Dornen und von
    fast fertig entwickelten Larven ausgefüllt

  • insgesamt also leichte Beute für die
    Parasiten der Parasiten.
    Wie die ihre Opfer genau manipulie-
    ren, ist jedoch noch offen. Die Wissen-
    schaftler vermuten einen einfachen Me-
    chanismus, mit dem der Parasit seinen
    Wirt im rechten Moment stoppt oder
    lähmt. Ihrem englischen Namen „crypt
    keeper“, also Hüter der Gruft, wird Eude-
    rus set damit gerecht. Angelehnt ist der
    Name an den ägyptischen Gott Seth, der
    seinen Bruder in einer Gruft festsetzte,
    bevor er ihn tötete. Wobei die Wespe nach
    den neuen Erkenntnissen offenbar eher
    auf die Beschaffenheit des Schreins als
    den Verwandtschaftsgrad ihrer Opfer
    schielt. viktoria spinrad


Forscherin in einem Müllberg auf der In-
sel Inaccessible Island FOTO: PETER G. RYAN

Diese Art der Entsorgung
verstößt gegen
internationale Abkommen

Tier-, Umwelt- und


Klimaschutz spielten für die


Einschätzung keine Rolle


Seit dem Unglück in Köln wird
das Fertigmittel erstattet – aber
derzeit ist es nicht lieferbar

Die Studie stellt die gängige
Sicht auf Beziehungen zwischen
Wirt und Parasit infrage

Müll über Bord


Seeleute verschmutzen das Meer


Sorglos an der


Wurstplatte?


Neue Studien zweifeln an der
Gesundheitsgefahr von Fleisch

Gehirnwäsche in der Verwandtschaft


Eine parasitäre Wespenart frisst sich in andere Insekten hinein und manipuliert diese


Der Test auf Schwangerschaftsdiabetes ist 2012 in die Mutterschaftsrichtlinien aufgenommen worden. FOTO: IMAGO/WESTEND

DEFGH Nr. 228, Mittwoch/Donnerstag, 2./3. Oktober 2019 HF2 WISSEN 17


Vier Euro zu teuer


Für die Untersuchung auf Schwangerschaftsdiabetes gibt es eine Fertiglösung, doch die


Kassen wollten den Test nicht mehr bezahlen. Hat Sparsamkeit die Todesfälle in Köln begünstigt?


Euderus set lebt ein schillerndes Leben. FOTO: ANDREWFORBES / UNIVERSITY OF IOWA
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