Süddeutsche Zeitung - 02.10.2019

(avery) #1
Dass den alten Ägyptern gesunde Zähne auch im Jenseits
wichtig waren, zeigen Funde in Gräbern aus der Zeit um 3000
vor Christus. Archäologen entdeckten bündelweise Miswak
als Grabbeigabe. Das sind Zweige des Salvadora persica,
genannt Zahnbürstenbaum, die so lange gekaut werden, bis
am Ende eine Art Bürste entsteht. In manchen Regionen sind
Zahnstöckchen auch heute in Gebrauch, man benötigt kein

Wasser und keine Zahnpasta, der Fluoridanteil ist hoch. Dass
Menschen mit Karies schon viel früher Linderung suchten,
beweisen noch ältere Funde. Im Backenzahn des Skeletts
eines Mannes, der vor 14 000 Jahren in den Dolomiten lebte,
fanden Forscher ein riesiges Loch. An den Seiten waren feine
Rillen, offenbar hatte jemand – eine Art Steinzeit-Zahnarzt –
mit einem Schaber aus Feuerstein Gewebe herausgekratzt.

Fest oder herausnehmbar, Brackets aus Keramik oder Me-
tall – Zahnspangen gibt es heutzutage in allen Formen und
Preislagen. Sie sollen helfen gegen Rückbiss, Vorbiss, fehlen-
de Zähne, schiefe Zähne. Nur fünf Prozent der Deutschen
besitzen ein Gebiss, das dem Ideal der Kieferorthopäden
entspricht. Bis zu vier Jahre Behandlung beim Spezialisten
zahlen die Krankenkassen – und so bemängeln Kritiker,

dass Zahnschönheit zum Geschäftsmodell geworden ist.
Laut Bundesrechnungshof haben Kieferorthopäden im
vergangenen Jahr 1,1 Milliarden Euro aus dem Topf der
gesetzlichen Krankenkassen bekommen, die Zuzahlungen
von Eltern sind nicht eingerechnet. Mehr als die Hälfte
der Kinder und Jugendlichen in Deutschland bekommen
eine Zahnspange. Ihr strahlendes Lächeln ist Gold wert.

Was haben Zahnärzte nicht alles versucht, um ihren Patien-
ten die Angst vor der Behandlung zu nehmen. Hier hat ein
Doktor im feinsten Zwirn extra eine Helferin ans Grammofon
gestellt: Musik sollte die schmerzgeplagte Patientin davon
ablenken, dass ihr gleich ein Zahn gezogen wird. Die Aufnah-
me entstand im Jahr 1922, welches Musikstück ausgewählt
wurde, ist nicht bekannt. Auch später versuchten Techniker

immer wieder, dem Gang zum Zahnarzt mittels Musik und
Klangeffekten den Schrecken zu nehmen. 1961 zum Beispiel
kam die Kunde von „Audiac“ aus Amerika: „Mit den neuesten
Tricks der Hifi-Technik“ sollte der Patient per Knopfdruck
Musik, donnernde Meeresbrandung, Wasserfallrauschen oder
wildes Hundegebell einschalten – alles nur, um das Geräusch
des Bohrers zu übertönen.

Die Etrusker, die um 800 vor Christus im nördlichen Mittelita-
lien lebten, im Raum der heutigen Regionen Toskana und
Umbrien, waren als die besten Zahnärzte der Antike bekannt.
Sie trieben die Zahnprothetik zur frühen Meisterschaft. War
ein Zahn kariös oder verfault, wurde er gezogen und durch
einen künstlichen Zahn ersetzt. Mal bestand dieser aus Elfen-
bein oder Knochen, mal zogen die Mediziner Toten die Zähne

aus dem Kiefer und arbeiteten sie in Gebisse für reiche Etrus-
ker ein. Oft wurden mehrere Zähne mit Draht oder breiten
Goldstreifen verbunden und als Brücke im Gebiss verankert.
Nach der Eroberung durch die Römer (300 vor Christus) ging
vieles vom zahnmedizinischen Wissen der Etrusker verloren.
Fachleute behaupten gar, erst im 19. Jahrhundert hätten die
Ärzte wieder einen vergleichbaren Standard erreicht.

etwa 800 v. Chr.


Am Dentiscalpium der Römer orientiert sich diese Form
eines Zahnkiels,der Mitte des 14. Jahrhunderts entstanden
sein muss. Er wurde im spanischen Tàrrega ausgegraben.
Nach römischen Gelagen griff die Tischgesellschaft gerne
zum steifen und spitzen Federkiel, um sich nach dem Essen
die Zähne zu reinigen. Betuchtere Zeitgenossen ließen sich
große Zahnstocher aus Messing oder Silber anfertigen.

Das Selbstbildnis der Französin Élisabeth Vigée-Lebrun von
1790 sorgte damals für einen kleinen Skandal. Sie hatte es
gewagt, ihre Zähne zu zeigen! Ein geschlossener Mund galt
damals als Gebot, er sollte Ernst sowie Respekt vor dem
Ancien Régime ausdrücken. Natürlich gab es auch einen ganz
profanen Grund: Lächeln im 18. Jahrhundert war mitunter
wenig ansehnlich, in den Zahnreihen klafften Lücken.


Diese Zahnbürste von Napoleon Bonaparte aus dem Jahr
1795 ist ein vielbestauntes Exponat in der medizinhistori-
schen Sammlung des British Museum in London. Ein Biograf
berichtet, der Kaiser der Franzosen habe sich regelmäßig
morgens und abends die Zähne geputzt. Wer tut das nicht
gerne mit einem goldenen Modell, auf dem das eigene Initial
prangt, versehen mit einem dekorativen Krönchen?

Als „Waterloo-Zähne“ waren im 19. Jahrhundert Prothesen
in Mode, die mit den Zähnen der Gefallenen von den
Schlachtfeldern von Waterloo (1815) bestückt waren. Den
Toten wurden gesunde Zähne herausgebrochen; es kursier-
ten aber auch Horrorgeschichten von skrupellosen Räubern,
die Verwundeten die Zähne herausrissen. Viele Prothesenträ-
ger wussten gar nicht, woher ihr Zahnersatz stammte.

Die Bagobo, ein Volk von der Südküste Mindanaos, der
zweitgrößten Insel der Philippinen, hatten ein sehr eigenwil-
liges Schönheitsideal. Sie feilten die Vorderzähne so spitz
zu, dass schon das Anschauen wehtut. Wohl noch schmerz-
hafter: die rituellen Zahnentfernungen, die bei einigen
Stämmen der australischen Aborigines üblich waren. Wer
erwachsen wurde, dem wurde ein Frontzahn ausgeschlagen.

Die angeblich größte Zahnklinik der Welt stand im Jahr 1930
in Philadelphia, USA. Die vielen Bohrgeräusche im riesigen
Behandlungsraum, der wie eine Fabrikhalle wirkt, mag man
sich lieber nicht vorstellen. Schmerzensschreie jedoch dürf-
ten weniger durch die Klinik gehallt sein. Seitdem Mitte des


  1. Jahrhunderts Äther und Chloroform entwickelt wurden,
    benutzten Zahnärzte diese oft als Schmerzmittel.


Chemiker der US-Firma Du Pont entwickelten in den 1930er-
Jahren Nylon-Zahnbürsten. Das war das Ende der Vorgänger
aus Naturhaar und Tierborsten, die stets Nährboden für
Bakterien waren. Die ersten Nylon-Zahnbürsten waren
allerdings so hart, dass sie das Zahnfleisch schwer in Mitlei-
denschaft zogen. Erst in den 1950er-Jahren gab es weicheres
Nylon, die Bürsten trugen den Namen „Park Avenue“.

Die BBC übertrug 1954 den Versuch, einer Studentin
unter Hypnose schmerzlos zu Leibe zu rücken. In dem
Jahr war Hypnose schwer in Mode: Bei einem Kongress
in Blackpool verfolgten 300 Dentisten die Extraktion des
Weisheitszahnes einer Krankenschwester. Die erschien
danach auf einer Pressekonferenz, trank Sherry, rauchte
eine Zigarette und sagte: „Ich spürte überhaupt nichts.“

Seit es Hip-Hop gibt, haben Rapper Symbole der Unterdrü-
ckung zu Symbolen des Aufstiegs umgedeutet. Die hängen-
den Hosen waren Solidaritätsgeste mit eingesperrten Kolle-
gen, denen die Gürtel abgenommen wurden. Und die einfa-
chen Zahnreparaturen der Ärmsten wurden zum Ausdruck
von Bling. Grillz, gerne aus Gold, Silber, besetzt mit Edelstei-
nen, oder auch knallbunt, wie bei Rapper 6ix9ine.

Heilsamer Zahnbürstenbaum


Wasist schön?


1922


Der Ton macht die Musik


etwa 3000 v. Chr.


Brücke in die Vergangenheit Zahnstocher


etwa 1350


Zähne zeigen


1790


Die Krönung


1795


Schlachtfeld


1815


Zickzack


etwa 1910


Zahnziehen im Akkord


1930


Kratzbürste


1938


Unter Hypnose


1954


Bling-Beißer


Gegenwart


Bitte lächeln Für gesunde Zähne haben die Menschen über die Jahrtausende sehr viel in Kauf


genommen. Skurrile Gebisse, Behandlungen unter Hypnose, Grillz und Brackets –


ein Streifzug durch die Zahnarztpraxen von der Steinzeit bis zur Neuzeit von ulrike heidenreich


18 ZEICHEN DER ZEIT Mittwoch/Donnerstag, 2./3. Oktober 2019, Nr. 228 DEFGH


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