Süddeutsche Zeitung - 02.10.2019

(avery) #1
von rainer stadler

D

er Lieferengpass von Jodthy-
rox, den der Pharmahersteller
Merck im März 2019 bekannt
gab, erreichte im Frühsom-
mer auch Katrin Bayer(Name
geändert)aus München. Die Kunsthändle-
rin, Mitte 60, nimmt das Schilddrüsenme-
dikament seit drei Jahren, es reguliert den
Stoffwechsel. Als sie die letzte Packung
vor gut vier Monaten aufgebraucht hatte,
schrieb ihr der Arzt ein neues Rezept. Da-
mit ging sie zur Apotheke. Dann zur nächs-
ten. Vier Apotheken klapperte sie in Mün-
chen ab, zwei in Bremen, wo sie beruflich
öfters unterwegs ist, überall die gleiche
Antwort: derzeit nicht lieferbar. Inzwi-
schen hat sie sich schlau gemacht, im
Internet und bei einer Bekannten, die
selbst eine Apotheke besitzt: So wie es
aussieht, wird sie ihr bewährtes Mittel erst
wieder im Frühjahr 2020 bekommen.
Lieferengpässe von Medikamenten
sind in den vergangenen Jahren üblich ge-
worden. Immer wieder müssen Konzerne
wie Bayer, Novartis oder Roche bei der Ver-
sorgung mit zum Teil lebensnotwendigen
Arzneimitteln passen, mal wochen-, mal
monatelang. Sogar ein Allerweltsmittel

wie Ibuprofen wurde knapp in Deutsch-
land, das einst wegen seiner Pionierleis-
tungen in der Pharmazie als Apotheke der
Welt galt. Im Frühjahr 2018 hieß es, die
Krätze breite sich hierzulande wieder aus.
Der Grund: Lieferengpässe bei den beiden
Firmen, die Medikamente gegen die
Hautkrankheit produzieren. Die Politik
versucht bisher nur zaghaft, das Problem
in den Griff zu bekommen.
Seit 2013 betreibt das Bundesinstitut
für Arzneimittel und Medizinprodukte
(BfArM) eine Datenbank, die den Mangel
dokumentiert. Hersteller sind aufgerufen,
ihre Engpässe dem Institut mitzuteilen. Ei-
ne Pflicht besteht nicht. Oft richten die Her-
steller Hotlines für Betroffene eines Liefer-
engpasses ein. So auch die Firma Merck,
der Produzent des Schilddrüsenmittels
Jodthyrox. Eine freundliche Frauenstim-
me meldet sich. Jodthyrox? Da müsse sie
erst mal im Computer nachschauen. Dann

liest sie das vor, was auch die Datenbank
des BfArM angibt: Der Lieferengpass
werde bis März 2020 dauern. Grund für
den Engpass seien die „weltweit steigende
Nachfrage“ nach dem Medikament und
„Schwierigkeiten bei der Inbetriebnahme
neuer Produktionsanlagen“. In welchem
Maß die Nachfrage gestiegen ist und
welche Produktionsanlagen von Merck
stocken, darüber gibt die Frau am Telefon
keine Auskunft. Stattdessen liest sie eine
kurze Liste von Arzneien vor, die als Ersatz
eingenommen werden können.
Katrin Bayer schätzt das Medikament,
weil es zwei Wirkstoffe enthält, Levothyro-
xin und Iodid. Diese Kombination gibt es
sonst nicht, jedenfalls nicht in der Dosie-
rung, wie Katrin Bayer sie benötigt. Also
bezahlt sie nun für zwei Medikamente, um
an die Wirkstoffe zu kommen, die ihr Kör-
per braucht. Jodthyrox war ihr vertraut,
„ich war gut eingestellt und hab mich da-
mit wohlgefühlt“. Das neue Medikament
bedeutet neue Unsicherheit.
Für andere Patienten steht weit mehr
auf dem Spiel: Kürzlich wurde bekannt,
dass die Versorgung mit dem Krebsmittel
Cytarabin in Deutschland gefährdet ist. Es
handelt sich um ein lebenswichtiges Medi-
kament für Leukämie-Patienten. Wieder-
holt kam es zu Engpässen beim Präparat
Melphalan, das in Chemotherapien einge-
setzt wird. Mitte 2017 musste der Pharma-
konzern Bayer einräumen, dass er nicht
genug Aspirin in Ampullen liefern könne,
das Herzinfarktpatienten bei Notfällen in
die Venen gespritzt wird.
Laut BfArM sind derzeit in Deutschland
239 Medikamente nicht lieferbar. Das
klingt nach wenig, angesichts von 103000
zugelassenen Arzneien. Außerdem bedeu-
tet nicht jeder Lieferengpass einer Firma
ein Versorgungsproblem. Oft gibt es ande-
re Firmen, die ein Medikament mit den-
selben Wirkstoffen produzieren. Dennoch
hat sich die Lage auf dem deutschen Arz-
neimarkt verschärft. Noch vor sechs Jah-
ren, als das BfArM begann, die Engpässe
zu dokumentieren, waren es nur 40 Medi-
kamente, die nicht geliefert werden konn-
ten. Eine aktuelle Umfrage ergab, dass
Apotheker Lieferengpässe inzwischen als
eines der größten Ärgernisse ihres Berufs-
alltags bezeichnen. Aus Sicht der Grünen-
Politikerin Kordula Schulz-Asche wecken
die Engpässe „Zweifel an der Verlässlich-
keit unseres Gesundheitssystems“.
Das Problem endet nicht an der Grenze,

es treibt auch Politiker in den USA oder
Frankreich um. In der Schweiz beklagen
Krankenhäuser einen gravierenden Man-
gel an Antibiotika und Impfstoffen, etwa
gegen Hepatitis, Kinderlähmung oder
Keuchhusten. In den Wirtschaftslehrbü-
chern ist diese Situation nicht unbedingt
vorgesehen: massenhaft Konsumenten,
die ein Produkt kaufen wollen oder drin-
gend benötigen, und ein Markt, der ihre
Wünsche zunehmend schlecht erfüllt. Wie
war das noch mit Angebot und Nachfrage?
An Schuldzuweisungen herrscht jeden-
falls kein Mangel. Den Pharmafirmen
wird immer wieder vorgehalten, allein am
Profit interessiert zu sein und sich be-
wusst aus der medizinischen Grundversor-
gung zurückzuziehen. Ein anderer Vor-
wurf lautet, Medikamente würden dort
verkauft, wo sich am meisten Geld verdie-
nen lässt. Er richtet sich vor allem an die

Großhändler und sogar Apotheker. Nicht
wenige Hersteller behaupten nämlich, sie
lieferten sehr wohl genug Medikamente
für den deutschen Markt, die aber oft
nicht bei den Verbrauchern ankämen.
Auch die Krankenkassen sollen Schuld an
der Misere tragen. Stichwort Rabattverträ-
ge: Kassen handeln mit einem Hersteller
Exklusivverträge und möglichst niedrige
Preise aus, wovon auch die Versicherten
profitieren. Die Kehrseite dieser Praxis
sei, dass sich die Produktion desselben
Medikaments für andere Firmen kaum
noch lohnt. Und dass sofort ein Engpass
entsteht, wenn der unter Vertrag genom-
mene Hersteller nicht liefern kann.
Für jeden dieser Vorwürfe gibt es Bele-
ge. Die Pharmabranche hat ihre Produkti-
on tatsächlich aus Kostengründen in Billig-
lohnländer verlagert und dort ein Netz von
Zulieferern ausgebaut – dem die Welt nun
ausgeliefert ist. 80 Prozent der medizini-
schen Wirkstoffe werden mittlerweile in
China und Indien hergestellt. Wenn dann


  • geschehen im Jahr 2016 – eine Fabrik in
    Ostchina explodiert, die für den Großteil
    der weltweiten Produktion des Antibioti-
    kums Piperacillin verantwortlich ist, hat
    das einen weltweiten Mangel zu Folge.
    Ähnlich beim Blutdrucksenker Valsartan,
    dessen chinesischer Hersteller Millionen
    Packungen zurückrief, weil in Proben
    Rückstände eines krebserregenden Stof-
    fes gefunden wurden. Das BfArM verweist
    auf die globale Konzentration unter den
    Herstellern: Von 500 als versorgungsrele-
    vant eingestuften, verschreibungspflichti-
    gen Medikamenten würden 300 von drei
    oder weniger Unternehmen produziert.
    Unbestritten auch, dass sich mit be-
    stimmten Medikamenten – darunter für
    die Gesundheitsversorgung zentrale Arz-
    neien wie Impfstoffe und Antibiotika – in
    Deutschland kaum noch Geld verdienen
    lässt. Das gilt besonders, wenn sie lange
    auf dem Markt sind und der Patentschutz
    seit Jahren abgelaufen ist. Schon vor eini-
    gen Jahren beklagte der damalige Ratio-
    pharm-Chef Sven Dethlefs bei einem
    Apotheker, dass er für einen Lolli 75 Cent
    verlangte, für eine Packung Paracetamol
    dagegen nur 59 Cent. Auch diese Klage ist
    nur ein Teil der Wahrheit: In den USA wur-
    de kürzlich eine Gentherapie des Schwei-
    zer Novartis-Konzerns zugelassen, zur Be-
    handlung einer seltenen Krankheit bei
    Kleinkindern, erblich bedingter Muskel-
    schwund. Die Dosis kostet zwei Millionen


Dollar. „Während die Investoren jubeln,
beklagen Fachleute die falschen Anreize“,
schrieb dieNeue Züricher Zeitung.
Was also hilft, wenn der Markt versagt?
Der CDU-Politiker Michael Hennrich for-
dert eine nationale Arzneimittelreserve.
Derzeit müssen Apotheken einen Medika-
mentenvorrat für eine Woche lagern, der
Großhandel für mindestens zwei Wochen.
Diese Fristen könnten verlängert werden.

Außerdem setzt er auf Anreize, um Teile
der Produktion nach Europa zurückzuver-
lagern. Die Krankenkassen könnten ihren
Teil beitragen und Vertragspartner nicht
mehr nur nach dem Preis ihrer Produkte
auswählen, sondern auch danach, ob sie in
Europa übliche Sozial- und Umweltstan-
dards einhalten. Schließlich fordert Henn-
rich eine Meldepflicht für alle Hersteller,
sobald ein Medikament knapp wird. Er er-
hofft sich davon mehr Transparenz, wenn
es gilt, die Ursache für einen Liefereng-
pass festzustellen – und zu korrigieren.
Als der CDU-Politiker seine Vorschläge
vorige Woche ausbreitete, erhielt er Zu-
stimmung von Verbänden, den Grünen,
der SPD. Das Bundesgesundheitsministe-
rium von Parteifreund Jens Spahn zögert:
Die Lieferengpässe seien „ein wachsendes
Problem“, den Vorschlag einer Arz-
neimittelreserve wolle man prüfen, heißt
es in einer Stellungnahme. Das Problem
lasse sich aber „nicht alleine durch gesetz-
liche Maßnahmen“ beseitigen.
Patienten wie Katrin Bayer werden
noch länger mit der Mangelwirtschaft auf
dem Arzneimittelmarkt leben müssen.

von alexander hagelüken

I


n der Politik kommt der Moment, an
dem sich nach Monaten des Wartens
alles entscheidet. Davor steht Europa
in der Handelsfrage. In den nächsten Wo-
chen wird klar, ob US-Präsident Donald
Trump wirklich europäische Autos mit
prohibitiven Strafzöllen verteuert. Oder
ob eine Verständigung gelingt. Es steht
viel auf dem Spiel. EU-Hersteller verkauf-
ten zuletzt jährlich Autos für 40 Milliar-
den Euro nach Amerika – ein großer Teil
davonMade in Germany,das durch Straf-
zölle in eine Wirtschaftskrise rutschen
könnte. Europa ist aber nicht machtlos,
im Gegenteil: Es kann mehr tun, als man-
cher glaubt, Trump eingeschlossen.
Wie aggressiv der Präsident vorgehen
will, lässt sich an seinem Kurs im Fall Air-
bus erahnen. Die Welthandelsorganisati-
on gesteht den USA Zölle gegen die EU-
Staaten zu, die Airbus jahrelang subventi-
onierten. Weil die USA selbst den Herstel-
ler Boeing begünstigten und Europa da-
her ebenfalls bald Zölle verhängen darf,
wäre ein Kompromiss möglich. Doch die
USA setzen bisher auf Konfrontation, was
nicht nur die Flugzeugbranche trifft.


Autozölle gegen Europa wären die
nächste Stufe der Eskalation und für
Deutschland dramatisch. Keiner glaubt
auch nur eine Sekunde, dass der Export
von BMW und Daimler Amerikas nationa-
le Sicherheit gefährdet, wie Trumps
Beamte fantasieren. Vielmehr folgt die At-
tacke auf europäische Autos dem bekann-
ten Muster: Der Präsident hält das Han-
delsdefizit der USA gegenüber Europa
(China, Mexiko, Japan...) für unfair – und
will Zugeständnisse erpressen. Was der
globalen Konjunktur so schadet, dass
sich das Wachstum des Welthandels 2019
mehr als halbieren dürfte.
In dieser Situation muss Europa Einig-
keit demonstrieren. Das ist nicht so
leicht, weil es sich zuletzt über Euro und
Flüchtlinge zerstritt und die Interessen
divergieren: Deutschland hat wichtige
Autohersteller, andere Länder nicht.
Doch natürlich kann sich Europa schon
vorab verständigen, gegen Pkw-Zölle zu-
rückzuschlagen. Alles andere würde
Trump als Schwäche missdeuten – und
noch aggressiver vorgehen.
Wenn Europa eine gemeinsame Hal-
tung verabredet, kann es dem US-Präsi-
denten einen Deal anbieten. Der sollte
den Handel allgemein erleichtern. Der
Deal darf aber nicht vorrangig mehr
Agrarimporte aus den USA bedeuten,
was vor allem agrarischeren EU-Staaten
als Deutschland etwas zumutet. Proble-
me für französische und polnische Bau-
ern, um VW und Co. zu retten – so funktio-
niert keine europäische Lösung.
Es ist richtig, dass sich Brüssel koope-
rativ zeigt und Trump kleinere Bonbons
schenkt, was Importe von Flüssiggas und
Soja betrifft. Dass die Gespräche über ei-
nen Handelsdeal trotzdem stocken, ist
ein schlechtes Zeichen. Bevor Trump ein-
fach Autozölle verhängt, sollten ihm die
EU-Staaten nun erklären, wie viel er da-
durch zu verlieren hat. Amerika verkauf-
te 2018 Produkte für 600 Milliarden Dol-
lar nach Europa – drei Mal so viel wie
nach China. Will Trump das wirklich ge-
fährden, ein Jahr vor der geplanten Wie-
derwahl? Ein Brüsseler Gegenschlag wür-
de Amerikas Wirtschaft sehr wehtun.
Europa sollte aber nicht nur entschlos-
sen auf Trump reagieren, sondern ihn
auch durch Handelsverträge mit anderen
Ländern weiter isolieren. Mexiko, Südost-
asien, Australien, China: Es ist vieles mög-
lich. Brüssel verhandelt auch intensiv.
Der neue Protest gegen das Abkommen
mit Südamerikas Mercosurstaaten zeigt
jedoch, dass die EU mehr um die Zustim-
mung ihrer Bürger werben muss. Sie
muss ihnen beispielsweise erklären, war-
um sich ein Abkommen mit Brasilien bes-
ser für die Erhaltung des Regenwalds nut-
zen lässt als der Ausstieg aus dem Ver-
trag. Sonst werden die Bürger solche Han-
delsverträge torpedieren.


Die Logistikbranche schadet
dem Klima.Mit Mut zum Wandel lässt
sich das ändern  Seite 20

Der Roboter sortiert schon mal:
DieDeutsche Post will mehr Geld für die
Digitalisierung ausgeben  Seite 21

In Deutschland sind derzeit 103000
Arzneien zugelassen.Das Bundesin-
stitut für Arzneimittel und Medizin-
produkte dokumentiert seit 2013
Lieferengpässe in einer Datenbank.
Während in den ersten drei Jahren
weniger als 50 Medikamente betrof-
fen waren, sind es inzwischen deut-
lich mehr als 200. Darin enthalten
sind mehr als 100 Wirkstoffe, die in
Deutschland momentan nicht liefer-
bar sind. Wie zuverlässig diese Zah-
len sind, lässt sich schwer abschät-
zen, Grund: Es handelt sich um
freiwillige Angaben der Firmen, sie
müssen bisher nicht jeden Engpass
melden. Politiker fordern nun eine
Meldepflicht, um einen vollständi-
gen Überblick zu bekommen, wie
groß der Mangel wirklich ist.

DEFGH Nr. 228, Mittwoch/Donnerstag, 2./3. Oktober 2019 HF2 19


WIRTSCHAFT


Alexander Hagelüken sehnt
sich nachseinem ersten
Welthandelsgipfel 1999
zurück – damals hieß der
US-Präsident Bill Clinton.

Maschinen und Geräte mit Elektromotoren
entlasten die Umwelt und schonen
die Ohren von Arbeitern  Seite 23

100


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AlteingesesseneProsecco-Winzer
möchten sich von Massenherstellern
lossagen  Seite 22

Bläschen-Streit


HANDELSSTREIT

Letzte Ausfahrt


Einigung


Was hilft, wenn der Markt versagt? Produktion von Ramipril-Kapseln im indischen Bundesstaat Goa. Der ACE-Hemmer wird zur Vorbeugung gegen Herzinfarkt eingesetzt. FOTO: DHIRAJSINGH/BLOOMBERG

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Was die Post plant
FOTO: S. KAHNERT/DPA

Ruhe auf der Baustelle


Pillenknick


Mal werden Allerweltsmedikamente wie Ibuprofen knapp, mal sind Wirkstoffe für Krebstherapien nicht lieferbar. Immer öfter kommt
es auch in Deutschland zu Lieferengpässen, selbst bei lebenswichtigen Arzneien. Ist die Knappheit nur Versehen – oder ein Geschäftsmodell?

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