Süddeutsche Zeitung - 02.10.2019

(avery) #1
von ingrid brunner

A


uch so kann Zufriedenheit aus-
sehen: Man sitzt auf einem Holz-
block in einer Scheune und isst
die mitgebrachte Jause. Haupt-
sache, im Trockenen. Vor der
Scheunentür die Anhalter Hütte. Unter ih-
ren Dachvorsprüngen suchen Wanderer
Schutz vor dem Regen. Hinein kommen sie
nicht. Die Anhalter Hütte, auf 2042 Me-
tern gelegen, wird derzeit generalsaniert
und erst 2021 wieder eröffnet.
Am zweiten Tag der Alpenüberquerung
sind die Beine noch nicht richtig eingelau-
fen, die Oberschenkel wimmern vom lan-
gen, zähen Aufstieg, und der nasse Stein
erschwert das Gehen. Trekkingführerin
Chiara Zanetti blickt streng auf die Uhr. Sie
macht das öfter. Sie muss die Zeit im Blick
behalten, damit die Gruppe abends recht-
zeitig die Unterkunft erreicht. Sie muss die
Wege- und Wetterverhältnisse beobach-
ten. Vor allem aber muss sie die acht unter-
schiedlich fitten Wanderer sicher über die
Alpen bringen. Das ist bequem für die Teil-
nehmer, über Logistik und Routenplanung
müssen sie sich keine Gedanken machen.
Auf dem Europäischen Fernwanderweg
Nummer 5, kurz E 5, geht es in einer Woche
von Oberstdorf nach Meran. Dieser Weg ist
der Klassiker unter den verschiedenen
Routen, die zu Fuß über die Alpen führen.
Er gilt als die landschaftlich reizvollste, zu-
gleich aber auch schwierigste Strecke. Und
als die meistfrequentierte.
„An guten Tagen sind auf dem E 5 an die
1200 Leute unterwegs“, schätzt Thomas
Bucher, Pressesprecher des Deutschen Al-
penvereins (DAV). Insgesamt seien es circa
9000, die in der Hauptwanderzeit zwi-
schen Ende Juni und Anfang September
auf dem E 5 wandern. Rechne man die an-
deren Routen über die Alpen hinzu, über-
schritten etwa 20 000 Menschen pro Jahr
den Alpenhauptkamm von Norden nach
Süden. Genaue Zahlen seien schwer zu er-
heben, nicht alle Wanderer übernachteten
in Hütten. Für alle Transalpler würden de-
ren Betten ohnehin nicht reichen. „Die Hüt-
ten, die an beliebten Fernwanderwegen lie-
gen, können sich kaum retten vor Gästen“,
sagt Bucher. So habe die Memminger Hüt-
te dieses Jahr sogar ein Zelt aufstellen müs-
sen, eine Art Freiluft-Matratzenlager, um
alle unterzubringen.
Deshalb buchen viele Veranstalter von
Alpenüberquerungen die Unterkunft in Ho-
tels und Gasthöfen im Tal. Das ist komfor-
tabler als im Massenlager, zudem wird das
Gepäck in der Regel transportiert. Die Wan-
derer gehen nur mit ihrem Tagesrucksack.
Allein mit Wikinger, einem der größten An-
bieter von Wanderreisen, sind dieses Jahr
19 Gruppen mit jeweils bis zu 14 Teilneh-
mern über die Alpen gegangen – auf sie-
ben verschiedenen Routen. Im kommen-
den Jahr sollen zwei weitere Routen dazu-
kommen: Die geführte Alpenüberquerung
für Einsteiger vom Wendelstein nach Ster-
zing sowie die individuelle Tour von Gar-
misch nach Meran – Alpenüberquerung
„light“.
Die erste Station ist die Kemptner Hütte
auf 1844 Höhenmetern. Mit 290 Schlafplät-
zen ist sie eine der größten im Alpenraum.
Unterwegs geht es auf Grashängen vorbei
an Schlüsselblumen, Enzian, Glockenblu-
men, an Alpenrosen in voller Blüte. Doch di-
rekt an die Blumenwiesen grenzen Anfang
August noch Schneefelder, irgendwo dar-
unter verlaufen die Wege. Die Gruppe tas-
tet sich über schmutzig-braunen, von Re-
gen und Sonne angetauten Altschnee.
Diese Reise beginnt – frei nach dem al-
ten Kalenderspruch – nicht mit dem ers-
ten Schritt. Vor der Traverse sollten Wande-
rer besser viele Schritte getan haben, um
sich Trittsicherheit, Ausdauer und Berg-
erfahrung anzueignen. Tagesetappen mit
bis zu sechs Stunden reiner Gehzeit, Auf-
stiege bis zu 1250 Meter und Abstiege bis

zu 1550 Meter sind zu bewältigen. Uner-
wartete Ereignisse wie Gewitter und Que-
rungen von Schneefeldern kommen hinzu.
Und das an sechs Tagen hintereinander.
Das ist eine ganz andere körperliche Her-
ausforderung als eine anspruchsvolle Ta-
gestour mit anschließendem Ruhetag.
„Ich habe immer wieder Gäste, die nach
ein paar Tagen sagen, sie wollen nicht
mehr. Oder sie können nicht mehr. Die fah-
ren dann einfach nach Hause“, sagt Chiara
Zanetti. Erstaunlich, bedenkt man, dass ei-
ne geführte Wanderreise mit Unterkunft
und Halbpension je nach Anbieter um die
tausend Euro kostet – mindestens. Zuwei-
len sei sie gezwungen, zu schwache Teil-
nehmer auszuschließen, sagt die Reiselei-
terin, um die Gruppe nicht zu gefährden.
Einige Teilnehmer erzählen denn auch
von TV-Beiträgen, in denen alles so ein-
fach ausgesehen hat. Da schien die Sonne,
die Menschen prosteten sich völlig unver-
schwitzt auf einer Hütte mit grandiosem Al-
penpanorama zu und sahen aus, als könn-
ten sie gleich noch weitere 1200 Höhen-
meter hinaufsteigen.
Menschen überquerten von jeher die Al-
pen: aus Neugier, um Handel zu treiben,
auf Feldzügen. Seit Hannibal während des

Zweiten Punischen Krieges im Jahr 218 vor
Christus mit seinem Heer und 37 Kriegsele-
fanten über die Berge kam, ist die Alpen-
überquerung ein Mythos. Dass sie heutzu-
tage von so vielen Menschen unternom-
men wird, liege vielleicht an der Italien-
sehnsucht der Deutschen, meint DAV-Spre-
cher Thomas Bucher.
Dazu kommt der Genuss der Schönheit
der Berge. So sehen die Wanderer bei der
Venet-Überschreitung in einem grandio-
sen 360-Grad-Panorama grüne Matten,
die nördlichen Kalkalpen und die Ötztaler
Gletscher. Man wandert kilometerlang auf
einem Grat über vier kleine Gipfel mit
Blick auf die spektakuläre Auffaltung des
Gesteins. Auf dem nicht enden wollenden
Abstieg über steile Geröllwege ins Pitztal
nach Wenns pfeifen sich die Murmeltiere
Warnsignale zu. Am Wegrand sitzen Jäger
mit riesigen Gamsbärten am Hut. Sie trin-
ken luxemburgisches Dosenbier, das ein
Jagdgast aus seiner Heimat mitgebracht
hat, und halten Ausschau nach Gämsen.
Abends beim Essen ist sich die Gruppe mal
wieder einig: Dieser Tag war der schwers-
te, oder? Doch am Abend vor dem Aufstieg
zur Braunschweiger Hütte stellt die Wan-
derführerin klar: „Morgen kommt die
schwerste Etappe“, jeder müsse sich selbst
die Frage beantworten, ob er oder sie noch
eine Schippe drauflegen kann.
Die Braunschweiger Hütte auf fast 3000
Metern gilt als Königsetappe des E 5. Doch
mittlerweile humpelt sich manch einer
nach längerem Sitzen erst einmal ein, um
wieder in die Gänge zu kommen. Und fast
jeder in der Gruppe kämpft im Laufe der
Woche mit seinen eigenen Dämonen. Ei-
nem fährt die Kälte in die Glieder, ein ande-
rer hat plötzlich Höhenangst. Drei Leute
kämpfen mit Magenproblemen. Einen Tag
pausieren, ginge das überhaupt? Geht –
wenn man selbst mit dem Bus zum nächs-
ten Hotel fährt. Verblüffenderweise sind es
die Senioren in der Gruppe, 71 und 75 Jah-
re alt, die den Jüngeren davonlaufen. Berg-
steigen sei keine Altersfrage, sagt Bucher.
„Der E 5 und andere Weitwanderwege soll-
ten nicht am Anfang einer Bergwanderkar-
riere stehen.“ Dafür brauche es Erfahrung.
Aber ausgerechnet auf die Braunschwei-
ger Hütte, die höchstgelegene Unterkunft
auf dem E 5, kommen auch weniger trai-
nierte und ausgeruhte Menschen. Sie neh-
men den Sessellift von Sölden zum Retten-
bachjoch und steigen dann in einer knap-
pen Stunde über das Pitztaler Jöchl zur Hüt-
te hinab. Die Pächter Melanie und Stefan
Neurauter freuen sich über jeden zusätzli-
chen Gast in der kurzen Sommersaison.
Wer es aber von St. Leonhard im Pitztal aus
eigener Kraft auf die Braunschweiger Hüt-
te auf 2759 Meter schafft, sich den schier
endlosen Murmeltiersteig hinaufquält,
sitzt stolz auf der Terrasse und blickt auf ei-
ne der letzten Gletscherwelten Kontinen-
taleuropas. Man sieht das vom Gletscher
geformte Tal, das man aus eigener Kraft
hochgestiegen ist. Man sieht die bedrohte
Schönheit der Gletscher, die wohl schon
bald verschwunden sein werden. Umso
krasser der Kontrast, jenseits des Pitztaler
Jöchls bei Sölden: die Skiarena in ihrer gan-
zen betonierten Hässlichkeit.
Doch dann kommt St. Martin im Passei-
er, die erste Station in Südtirol, die Teilneh-
mer blicken nach Süden, sehen reifes Obst
an den Bäumen, Weinberge, Palmen. Ein
erster Espresso in Meran, noch in Wander-
klamotten, muss einfach sein. Am letzten
Abend ist der Speisesaal voller Menschen,
die man unterwegs zwar nicht gesehen
hat, die es aber ebenfalls über die Alpen ge-
schafft haben. Einigen ist die Anstrengung
anzusehen, aber alle sind in Hochstim-
mung. Als Chiara Urkunden überreicht,
verdrückt mancher eine Träne.

Bisher erschienen: Mit dem Bus nach Stockholm
(19.9.), Radtour durch die Niederlande (26.9.). Die
Serie imNetz: sz.de/thema/Reisen_ohne_Flug

Hannibal und seine Elefanten haben
den Mountainbike-Pionier Andi Heck-
mair vor etwa 30 Jahren dazu inspi-
riert, in deren Fußstapfen zu treten,
oder besser: zu radeln. Er fuhr von
Oberstdorf an den Gardasee. Heute ist
diese Route ein Klassiker. Daneben
gibt es unzählige gut dokumentierte
Touren, viele davon sind im Internet be-
schrieben, Fotos und Tracks für das
GPS-Gerät inklusive. Hartgesottene
setzen auf schwieriges Terrain und
schieben oder tragen ihr Mountainbike
gerne auch mal tausend Meter einen
Pass hoch. Nötig ist das nicht. Moun-
tainbiker kommen auch auf Forst-
wegen und alten Römerstraßen nach
Italien. (Anregungen und Tipps im
Netz: transalp.info und bike-maga-
zin.de/touren/transalp) rem

„Nur wo du zu Fuß warst, bist du auch
wirklich gewesen“, schrieb schon Goethe


  • von Schlendern hat er aber nichts ge-
    sagt. Wer es jedenfalls etwas sportlicher
    mag, ist beim Transalpine Run richtig. An-
    fang September hat das Etappenrennen
    über die Alpen zum 15. Mal stattgefun-
    den. 600 Teilnehmer, mehr als ein Drittel
    davon Frauen, starteten in Oberstdorf.
    Die meisten kamen acht Tage später in
    Sulden an. Sie legten 266 Kilometer und
    15 600 Höhenmeter zurück, erlebten un-
    terwegs harte Bedingungen bis hin zum
    Schneefall – und einen entsprechend
    emotionalen Zieleinlauf. Das Rennen ist
    auch mental herausfordernd. Gelaufen
    wird in Zweierteams. Das schnellste
    schaffte es in 28 Stunden, 38 Minuten
    und 47 Sekunden reiner Laufzeit. (transal-
    pine-run.com) jt


Hannibal auf Rädern
ZuFuß oder mit dem Mountainbike über
die Alpen, das ist schon fast Mainstream.
Wer es einsamer haben möchte, kann das
Gebirge im Winter mit Tourenskiern
überqueren. Von Bergführern werden ver-
schiedene Routen angeboten. Eine führt
klassisch von Lüsens bei Innsbruck nach
Meran, rund 6000 Höhenmeter Aufstieg
an fünf Tagen und etwas mehr zum Ab-
fahren. Interessanter ist die Route vom
Kärntner Drautal durch die ganze Kreuz-
eckgruppe, die Hohen Tauern und das
Pinzgau bis nach St. Bartholomä am Kö-
nigssee, von wo aus man mit dem Schiff
bis zum Endpunkt Schönau fährt. Rund
6600 Höhenmeter im Aufstieg und (dank
Bahnbenutzung) satte 11000 Höhenme-
ter Abfahrt. Da sollte die Kondition stim-
men. (mountain-elements.com; berg-
schule.at) haag

Zu Fuß nach Italien


Der E 5 ist der populärste Fernwanderweg über die Alpen.


Unterschätzen sollte man ihn trotzdem nicht


266 Kilometer rennen


Meran

Sölden

Moos in
Passeier

St. Leonhard
im Pitztal

Zams

Holzgau

Oberstdorf

Innsbruck

SCHWEIZ
20 km
SZ-Karte/Maps4News

ÖSTERREICH

ITALIEN

DEUTSCHLAND

E5

Braunschweiger
Hütte (2759 m)

Stuba
ier
Al
pe
n

Teil 3

DEFGH Nr. 228, Mittwoch/Donnerstag, 2./3. Oktober 2019


REISE


Einsam drüberbrettern


R

E

IS

E

N

O
H

NE


FLUG


ÜBER ALLE BERGE: ALPENÜBERQUERUNGEN


Es gibt viele Wege über die Alpen. Als Königsetappe des E 5 gilt der Anstieg zur
BraunschweigerHütte (kl. Bild oben) durch das Pitztal (gr. Bild) und über den Murmeltiersteig.
Von der Memminger Hütte geht es über die Seescharte nach Zams (kl. Bild unten).
FOTOS: INGRID BRUNNER, WIKINGER, MAURITIUS IMAGES / VOLKER PREUSSER / ALAMY

Reisearrangement:Wikinger Reisen, „Von Oberst-
dorf nach Meran über die Alpen“, mit Unterkünf-
ten in Hotels und Gasthöfen, findet 2020 zwi-
schen Ende Juni und Anfang September statt, sie-
ben Tage HP 1298 Euro p. P. im Doppelzimmer
inkl. Transfer ab/bis Sonthofen und Gepäcktrans-
port, Einzelzimmerzuschlag 130 Euro. Auf
Wunsch Arrangement der Zuganreise nach/ab
Sonthofen, http://www.wikinger-reisen.de

Letzte ChanceJetztnoch schnell zum Wandern in die Berge, bevor die
Tage kälter und kürzer werden. Es muss ja nicht gleich eine Alpenüberque-
rung sein, für die man sich gut vorbereiten sollte. Ein gemütlicher Fami-
lienweg, auf dem selbst kleine Kinder Spaß haben, tut es auch. Oder ein
Abstecher in die Weinberge Südtirols – zum Beispiel als Gast auf einem der
neuen Designbauernhöfe. Gute Reise!

IN DIE BERGE

Free download pdf